Herz und Wissen



Capitel XXI.

Als Ovid in dem Zimmer allein gelassen war, schienen ihm zum ersten Mal, seitdem der Tag seiner Abreise bestimmt war, die Minuten langsam dahinzugehen ein Eindruck, den er seinem ungeduldigen Verlangen nach dem Erscheinen Carmina’s zuschrieb — —bis er an der Uhr sah, daß bereits fünf endlose Minuten und darüber verstrichen waren. Eben wollte er sich der Thür nähern, um nach der Ursache dieses Zögerns zu forschen, als dieselbe sich öffnete. Er eilte auf dieselbe zu, um Carmina zu empfangen, sah sich aber unerwartet Miß Minerva gegenüber, die hastig eintrat und ihm, ohne ihn dabei anzusehen, die Hand hinhielt.

»Verzeihen Sie, daß ich bei Ihnen eindringe«, sagte sie mit einer Hast und einem scheuen Benehmen, die ihr sonst ganz fremd waren. »Ich muß die Kinder auf ihre morgigen Stunden vorbereiten, und habe später keine Gelegenheit, Ihnen Lebewohl zu sagen. Empfangen Sie meine besten, meine innigsten Wünsche —— für Ihr Wohlergehen und Ihre Gesundheit und —— und für Ihr Vergnügen auf der Reise. Leben Sie wohl! Leben Sie wohl!«

Nachdem sie einen Augenblick seine Hand gehalten hatte, eilte sie nach der Thür zurück, hielt aber wieder inne, wandte sich nochmals um und sah ihn jetzt zum ersten Mal an. »Ich habe noch etwas zu sagen sagte sie hastig. »Ich werde thun, was ich kann, um Carmina das Leben in Ihrer Abwesenheit angenehm zu machen.« Und ehe er ihr noch danken konnte, war sie fort.

Als nach einer Minute Carmina eintrat, fand sie Ovid verlegen und verstimmt auf und ab gehen. Sie war der Gouvernante auf der Treppe begegnet —— hatte zwischen ihnen irgend ein Mißverständnis; stattgefunden?

»Hast Du Miß Minerva gesprochen?« fragte sie. Er schlang seinen Arm um sie und zog sie neben sich auf das Sopha, dann sagte er: »Ich verstehe Miß Minerva nicht; wie kommt es, daß sie kam während ich Dich erwartete?«

»Sie bat mich um die Gunst, sie zuerst zu Dir zu lassen; und es schien ihr so viel daran zu liegen, daß ich nachgab. Ich that doch nicht Unrecht, Ovid —— nein?«

»Du bist immer freundlich, mein Herz, und thust immer Recht! Aber warum konnte sie mir nicht unten mit den Anderen Lebewohl sagen? Verstehst Du diese seltsame Frau?«

»Ich glaube, ja.« Dann spielte sie mit dem Haar auf seiner Stirn und sagte nach einer Pause unschuldig. »Miß Minerva liebt Dich, die Arme.«

»Liebt mich?«

Seine Ueberraschung schien auf sie keinen Eindruck zu machen, denn sie spielte weiter mit seinem Haar und sagte: »Ich wollte sehen, wie es aussieht, wenn es in der Mitte gescheitelt ist. Nein! es steht Dir besser, wie Du es gewöhnlich trägst. Wie schön Du bist, Ovid! Wünschst Du nicht, daß ich auch schön wäre? Alle im Hause lieben Dich und bedauern, daß Du fortgehst. Ich bin Miß Minerva und Allen gut, weil sie meinen lieben, lieben Helden so lieb haben. Ach, was werde ich anfangen, wenn ein Tag nach dem andern vergeht und Dich immer weiter von mir entführt. Nein! ich will nicht weinen; Du sollst nicht mit schwerem Herzen gehen, mein Geliebter, wenn ich es verhindern kann. Wo ist Deine Photographie? Du hast sie mir versprochen. Laß mich sie, ansehen. Ja? sie gleicht Dir, und doch wieder nicht: ich werde darüber nachdenken, wenn ich allein bin. Sie hat Deine Augen, aber nicht die göttliche Freundlichkeit und Güte, die ich in denselben sehe!« Sie pausierte und legte ihren Kopf an seine Brust.

»Wenn ich Dich noch länger ansehe, werde ich trotz meines Vorsatzes weinen. Wir wollen uns nicht ansehen —— auch nicht sprechen —— ich kann Deinen Arm um mich fühlen —— Dein Herz pochen hören. Wenn ich früher von Leuten hörte, die glücklich gestorben seien, vermochte ich das nicht zu verstehen, jetzt aber glaube ich, könnte ich glücklich sterben.« Ehe er sie tadeln konnte, legte sie ihm die Hand auf die Lippen und schmiegte sich dichter an ihn. »Still!« sagte sie weich; »still!«

So verharrten sie schweigend, ohne sich zu bewegen, in stillem Glück, bis Mrs. Gallilee plötzlich diesen Zauber brach, indem sie die Thür öffnete, auf die Uhr zeigte und wieder verschwand.

Der schreckliche Augenblick war gekommen; sie tauschten die letzten Versprechungen die letzten Küsse, die letzte Umarmung aus; und als er sie ließ, warf sie sich aufs Sofa mit einer Gebärde, die ihn beschwor zu gehen, solange sie sich noch beherrschen könne. An der Thür sah er sich noch einmal um —— dann war es vorüber.

Draußen wischte er sich die Thränen aus den Augen; Kummer und Leiden kämpften heftig gegen seine Männlichkeit, doch wenn sie ihn auch erschütterten, besiegen ließ er sich nicht; und er war ruhig, als er in die Bibliothek trat, wo die Familie ihn erwartete.

Mrs. Gallilee bestieg wie gewöhnlich ihr häusliches Piedestal, beglückte ihren Sohn mit noch einem Kusse und erinnerte ihn dann an den Zug. »Wir verstehen einander, Ovid —— Du hast nur noch fünf Minuten. Schreibe von Quebec aus. Jetzt, Maria, sage Lebewohl.«

Mit einer Grazie, die dem Tanzlehrer der Familie Ehre machte, trat Maria an ihren Bruder heran: »Lieber Ovid, ich bin nur ein Kind, aber ich bin aufrichtig besorgt um Deine Gesundheit. Bei dieser günstigen Jahreszeit wirst Du einer angenehmen Reise entgegen sehen. Empfange meine besten Wünsche.« Dabei bot sie ihm ihre Wange zum Kuß —— und sah aus wie ein junges Wesen, das seine Pflicht gethan hatte und sich dessen vollständig bewußt war.

Aus ein Zeichen von seiner Frau trat nun Mr. Gallilee hinter der Gardine am Fenster hervor, wo er sich bis jetzt verborgen gehalten hatte. Eine seiner fleischigen rothen Hände hielt ein großes Packet der besten Cigarren, die andere umklammerte eine mächtige neue Reiseflasche.

»Mein lieber Junge, es ist möglich, daß an Bord guter Brandy und gute Cigarren zu haben sind; ich aber habe diese Erfahrung aus Dampfern nicht gemacht —— Du?« Er hielt inne und wandte sich an seine Frau. »Hast Du die Erfahrung gemacht?« Mrs. Gallilee aber hielt nur ihr Coursbuch in die Höhe und schüttelte dasselbe bedeutungsvoll, so daß jener eiligst fortfuhr: »Hier ist ein ordentlicher Stoff, Ovid, wenn Du ihn annehmen willst. Fünfundzwanzig Jahr ist er alt —— willst Du kosten? Willst Du kosten, liebe Frau?« Mrs. Gallilee aber ergriff wieder mit einem schrecklichen Blick ihr Coursbuch, und ihr Gatte zwängte die große Flasche in eine von Ovid’s Taschen und die Cigarren in eine andere. »Sie werden Dir wohltun, wenn Du fort von uns bist. Gott beschütze Dich, mein Sohn! Du hast doch nichts dagegen, daß ich Dich Sohn nenne? Ich könnte Dich nicht lieber haben, wenn ich wirklich Dein Vater wäre. Scheiden wir so fröhlich, wie wir können.« Und dabei rollten dem Armen die klaren Thränen über die dicken Wangen. »Wir können einander ja schreiben —— nicht wahr? O, ich wollte, ich könnte die Sache so leicht nehmen wie Maria. Zo! komm und gieb dem armen Jungen einen Kuß. Wo ist Zo?

Mrs. Gallilee entdeckte sie unter dem Tische und zog sie hervor; dann nahm Ovid sein Schwesterchen auf’s Knie und fragte sie, warum sie sich versteckt habe.

»Weil ich Dir nicht Adieu sagen will!« rief die Kleine in einem Ausbruch von Kummer, der ihre ganze Gestalt erschütterte »Nimm mich mit, Ovid; nimm mich mit!« Während er sie zu trösten versuchte, rief Mrs. Gallilee’s warnende Stimme wie eine Glocke: »Schnell! schnell!« Zo’s lauter Discant aber übertönte dieselbe. »Papa will Dir schreiben —— warum soll ich nicht auch schreiben?« rief sie unter Thränen.

»Liebe so, Du bist zu jung«, bemerkte Maria.

»Zum Teufel mit dem Unsinn!« schluchzte Mr. Gallilee; »sie wird schreiben!«

»Schnell! schnell!« wiederholte Mrs. Gallilee.

Ohne Antheil an dem Streite zu nehmen, adressierte Ovid zwei Couverts für die Kleine und beruhigte sie so. Dann eilte er in die Halle, warf einen Blick nach der Treppe und sah Carmina oben stehen, um noch einen Blick zum Abschiede von ihm zu erhalten. Eine Treppe höher, unbemerkbar von der Halle aus, stand Miß Minerva und beobachtete die Abschiedsscene. Unbekümmert um Eisenbahn und Dampfer eilte Ovid zu Carmina hinauf, küßte sie wieder und wieder und eilte dann hinaus aus der offenen Hausthür, gefolgt von Zo, die mit ihm in den Wagen steigen wollte. Ein letztes freundliches Wort zu dem Kinde, als es zum Hause zurückgetragen wurde; ein letzter Blick auf die vertrauten Gesichter an der Thür; eine letzte Anstrengung, dem Vorgeschmack des Todes, der jedes Scheiden verbittert, zu widerstehen —— und Ovid war fort!


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