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Gesetz und Frau



Elftes Kapitel.

Die Rückkehr zum Leben.

Mein erstes Gefühl, als ich wieder zu mir kam, war das Gefühl heftigen Schmerzes, als wenn jeder Nerv meines Körpers verwundet worden sei. Mein ganzes Wesen zitterte und bebte unter dem dumpfen schrecklichen Protest der Natur gegen die Anstrengung, mich in’s Leben zurückzurufen. Ich würde meine Seligkeit darum gegeben haben hätte ich mich so recht ausweinen, hätte ich Gott bitten können, mich dem Tode wieder in den Arm zu legen Wie lange diese sprachlose Agonie mich gefangen hielt, vermag ich nicht zu sagen. Nach einer ganzen Weile hörte ich wieder meinen eigenen Athem; ich fühlte, wie meine Hände sich schwach und mechanisch bewegten gleich denen eines Kindes. Ich öffnete die Augen und blickte um mich.

Die erste Person die ich zu Gesicht bekam, war ein Fremder. Er trat langsam von mir fort und winkte anscheinend einer andern Person zu, die ich nicht sehen konnte.

Langsam und, wie es schien, widerwillig näherte sich jene andere Person dem Sopha auf welchem ich lag. Ein schwacher Freudenschrei entrang sich meiner Brust; ich machte einen Versuch, ihm meine Hände entgegenzustrecken jene andere Person, die sich mir näherte, war mein Gatte.

Ich blickte ihn fest an. Er gab mir meinen Blick nicht zurück. Die Augen zu Boden geheftet mit einer seltsamen Mischung von Kummer und Verwirrung auf seinem Antlitz begab er sich ebenfalls wieder aus meinem Gesichtskreis. Der unbekannte Mann, den ich zuerst bemerkt hatte, folgte ihm aus dem Zimmer.

»Eustace!« rief ich ihm mit schwacher Stimme nach. Er antwortete weder, noch blickte er sich nach mir um. Mit einer Anstrengung bewegte ich den Kopf auf dem Kissen um auch nach der andern Seite hin sehen zu können. Da trat mir ein anderes bekanntes Antlitz entgegen. Mein guter alter Benjamin saß auf der andern Seite des Sophas und betrachtete mich mit Thränen in den Augen.

Als ich ihn anblickte stand er auf und nahm schweigend meine Hand.

»Wo ist Eustace?« fragte ich. »Weshalb hat er mich verlassen?«

Ich war noch sehr schwach. Als ich jene Frage that wanderten meine Augen mechanisch durch das Zimmer. Ich erblickte den Major Fitz-David. Ich sah den Tisch, an welchem die Primadonna das Buch geöffnet hatte, um es mir zu zeigen. Ich sah auch das Mädchen selbst wie es allein in einer Ecke saß und, das Taschentuch vor den Augen leise weinte. Bei ihrem Anblick kehrte jenes entsetzliche Titelblatt mit allen seinen Schrecken in meine Erinnerung zurück.

Das einzige Gefühl, welches jetzt meine Seele beherrschte, war die Sehnsucht meinen Gatten bei mir zu haben, mich in seine Arme zu werfen und ihm zu sagen, wie fest ich an seine Unschuld glaubte und wie sehr ich ihn liebte. Ich ergriff eine von Benjamins Händen »Bringen Sie ihn mir zurück!« rief ich wild, »wo ist er? Helfen Sie mir auf!«

Eine fremde Stimme antwortete mir fest aber freundlich: »Fassen Sie Sich erst etwas mehr, Madame Mr. Woodville wartet im anstoßenden Zimmer, bis Sie Ihre Kraft wiedergewonnen haben werden.«

Ich blickte den Sprecher an und erkannte in ihm den Herrn der meinen Gatten aus dem Zimmer begleitet. Weshalb war er allein zurückgekommen? Weshalb war Eustace nicht bei mir wie die Anderen? Ich versuchte aufzustehen; aber der Fremde drückte mich leise wieder auf das Kissen zurück.

»Sie müssen noch ein wenig ruhen,« sagte er. »Sie müssen ein Glas Wein trinken wenn Sie nicht gewärtigen wollen, in Ihre Ohnmacht zurückzusinken.

Der alte Benjamin beugte sich über mich und flüsterte mir einige Worte der Erklärung zu.

»Es ist der Doctor mein Kind. »Sie müssen seine Vorschriften befolgen.«

Der Doctor? Sie hatten den Doctor gerufen, um mir behilflich zu sein? Ich begann einzusehen, daß meine Ohnmacht doch ernsterer Natur gewesen sein müsse, als es sonst in der Regel bei Damen der Fall zu sein pflegt.

»Weshalb ließen Sie meinen Gatten aus dem Zimmer gehen?« fragte ich den Arzt. »Wenn ich nicht zu ihm kann weshalb bringen Sie ihn nicht zu mir?«

Der Doctor schien in Verlegenheit zu sein was er mir antworten sollte. Er blickte auf Benjamin und sagte: »Wollen Sie nicht zu Mrs. Woodville sprechen?«

Benjamin seinerseits blickte wieder auf den Major Fitz-David und bat diesen die Aufgabe zu übernehmen. Der Major bedeutete Beide, uns zu verlassen. Sie folgten seiner Aufforderung und begaben sich in das vordere Zimmer. Als die Thür hinter ihnen zugefallen war, erhob sich das Mädchen, welches mir auf so seltsame Weise das Geheimniß meines Gatten enthüllt hatte, aus seiner Ecke und näherte sich dem Sopha.

»Es ist wohl besser, wenn ich mich auch entferne?« redete sie den Major Fitz-David an.

»Wenn Sie so gut sein wollen,« entgegnete dieser mit kühlem Ton. Sie schüttelte den Kopf und drehte ihm indignirt den Rücken zu. »Ich muß ein Wort für mich reden!« rief das seltsame Geschöpf mit einem hysterischen Ausbruch von Energie »Ich muß ein Wort reden oder ich platze.«

Mit dieser außerordentlichen Vorrede trat sie plötzlich auf mich zu und überschüttete mich mit einem wahren Strom von Worten.

»Sie hören, wie der Major zu mir spricht!« begann sie. »Er macht mich armes unschuldiges Geschöpf für alles verantwortlich, was geschehen ist. Ich bin so schuldlos wie ein neugeborenes Kind. Ich dachte, Sie wollten das Buch haben. Ich weiß noch jetzt nicht weshalb Sie in Ohnmacht sanken, als ich Ihnen den Titel zeigte; aber der Major schilt mich. Ich bin nicht von der schwachherzigen Sorte, die so leicht in Ohnmacht fällt; aber ich fühle es, kann ich Ihnen sagen. Ich bin von anständigen Eltern müssen Sie wissen. Mein Name ist Hoighty. Ich besitze ein ganz Theil Selbstachtung; aber die ist verletzt worden. Ich kann es nicht leiden wenn ich unverdient getadelt werde. Sie verdienen den Tadel, aber nicht ich. Sagten Sie mir nicht daß Sie nach einem Buch suchten? Und gab ich es Ihnen nicht mit den besten Absichten? Das können Sie doch nicht leugnen seit Sie wieder zur Besinnung gekommen sind. Nun könnten Sie doch auch ein gutes Wort einlegen für ein armes Mädchen das zu Tode gequält wird mit Singen und Sprachen lernen und wer weiß was allem — für ein armes Mädchen das Niemand hat, der sich ihrer annimmt. Ich bin ebenso anständig wie Sie, können Sie glauben Mein Name ist Hoighty — Miß Hoighty. Meine Eltern sind Geschäftsleute und meine Mama hat bessere Tage gesehen und sich in der besten Gesellschaft bewegt.«

Hier führte Miß Hoighty noch einmal das Taschentuch an die Augen und brach in einen Strom von Thränen aus.

Es war entschiedenes Unrecht, sie für das Geschehene verantwortlich zu machen. Ich bat daher den Major Fitz-David, wieder freundlich gegen das Kind zu sein und ihm gut zuzureden. Was er zu ihr sprach, konnte ich nicht hören. Schließlich schien ihm aber doch sein Trosteswerk gelungen zu sein, denn sie ließ sich von ihm die Hand küssen, und dann führte er sie aus dem Zimmer, als wenn sie eine Herzogin gewesen wäre.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen wie sehr ich das Geschehene bedaure,« sagte der Major, zu meinem Sopha zurückkehrend. »Sie werden sich erinnern daß ich Sie warnte. Und dennoch, hätte ich vorhersehen können —«

Ich ließ ihn nicht weiter fortfahren. Keine menschliche Vorsicht wäre im Stande gewesen, das Geschehene zu verhindern. Außerdem, so entsetzlich die Entdeckung auch gewesen war, so sehr ich unter derselben gelitten und noch litt ich würde sie dennoch nicht gegen das Dunkel zurückgetauscht haben, in dem ich mich früher befand. Das erzählte ich dem Major. Dann lenkte ich die Unterhaltung auf meinen Gatten zurück.

»Wie kam er hierher?« fragte ich.

»Mit Mr. Benjamin kurz nachdem ich selbst heimgekommen.« entgegnete der Major.

»Und der Arzt?«

»Ich schickte sofort nach ihm, als ich Sie in Ohnmacht liegend fand.«

»Was brachte Eustace hierher? Hatte er mich im Hotel vermißt?«

»Ja. Er kehrte früher zurück, als er beabsichtigt hatte.«

»Glaubte er, daß ich hier sein könne? Kam er direct vom Hotel zu Ihnen?«

»Nein. Er scheint erst zu Mr. Benjamin gegangen zu sein und ihn befragt zu haben. In dessen Gesellschaft kam er hierher.

Diese kurze Erklärung genügte mir vollständig. Die Anwesenheit meines Gatten im Hause des Majors war mir erklärt. Sein seltsames Benehmen aber, als er das Zimmer in demselben Augenblick verließ, wo ich wieder zu mir selbst kam, bedurfte noch der Erörterung. Major Fitz-David zeigte eine sehr verlegene Miene, als ich diese Frage an ihn richtete.

»Ich weiß wirklich nicht, I was ich Ihnen sagen soll,« entgegnete er. »Eustace hat mich in Erstaunen gesetzt und enttäuscht.«

Er sprach sehr ernst Seine Blicke erzählten mir mehr als seine Worte; seine Blicke erschreckten mich.

»Hat Eustace Ihnen Vorwürfe gemacht?« fragte ich.

»O nein!«

»Er sieht ein daß Sie ihr Versprechen nicht gebrochen haben?«

»Gewiß. Meine junge Sängerin erzählte dem Doctor auf das Genaueste was geschehen, und der Doctor wiederholte es in ihrer Gegenwart Eustace.«

»Sah der Doctor das Buch?«

»Weder der Doctor, noch Mr. Benjamin. Ich habe es eingeschlossen. Das Geheimniß ist immer noch so streng bewahrt wie früher. Benjamin scheint allerdings Verdacht zu hegen; aber der Doctor und Miß Hoighty haben keine Ahnung von der Ursache Ihrer Ohnmacht. Beide glauben, daß Sie nervösen Anfällen unterthan sind, und daß der Name Ihres Gatten wirklich Mr. Woodville ist. Ich habe gethan, was nur der treueste Freund thun konnte, um Eustace zu schonen, dessen ungeachtet tadelt er mich, weil ich Sie mein Haus betreten ließ. Und was noch weit schlimmer, er erklärt daß dies traurige Ereigniß Sie ihm entfremdet habe. Nun ist es mit meinem Eheleben zu Ende, sagte er zu mir, denn sie weiß nun, daß ich der Mann bin, der zu Edinburgh vor Gericht stand, unter der Anklage, sein Weib vergiftet zu haben.«

Ich sprang entsetzt vom Sopha.

»Großer Gott!« rief ich aus, »glaubt Eustace etwa, daß ich seine Unschuld bezweifle?«

»Er stellt geradezu die Möglichkeit in Abrede, daß Sie oder irgend Jemand seine Unschuld glauben könnte,« entgegnete der Major.

»Helfen Sie mir zu der Thür,« sagte ich.

»Wo ist er? Ich muß und will ihn sehen!«

Ich sank erschöpft auf das Sopha zurück, als ich diese Worte gesprochen.

Major Fitz-David goß ein Glas Wein ein und bat mich, es zu trinken.

»Sie sollen ihn sehen,« sagte er. »Ich verspreche es Ihnen. Der Doctor hat ihm verboten, das Haus zu verlassen, ehe er Sie gesehen. Warten Sie nur noch ein wenig, bis Sie Sich gekräftigt haben.«

Mir blieb nichts anders übrig, als ihm zu gehorchen. O diese unglückselige Hilflosigkeit auf dem Sopha! »Bitte, bringen Sie ihn hierher,« sagte ich.

»Ja, wenn das in meiner Kraft stände!« entgegnete der Major traurig. »Was könnte ich, was könnte irgend ein Anderer mit einem Manne beginnen, der im Stande war, Sie zu verlassen, als Sie die Augen wieder aufschlugen! Ich versuchte seinen Zweifel zu erschüttern, den er in Ihren Glauben an seine Unschuld gesetzt; ich wendete alle Mittel an, ihn umzustimmen, doch ganz vergebens. Er hatte nur eine Antwort auf das alles. Er verwies mich auf das schottische Verdict.«

»Das schottische Verdict?« wiederholte ich. »Was ist das?«

Der Major blickte mich bei dieser Frage erstaunt an.

»Haben Sie wirklich nie etwas von der Untersuchung gehört?« sagte er.

»Niemals.«

»Ich wunderte mich,« fuhr er fort, »daß Sie bei der Entdeckung des wahren Namens Ihres Gatten nicht an jenes entsetzliche Ereigniß erinnert worden waren. Es ist noch nicht drei Jahre her, daß ganz England von Ihrem Gatten sprach. Man kann den armen Menschen wahrlich nicht verdammen, daß er unter einem andern Namen Schutz vor der allgemeinen Aufmerksamkeit suchte. Wo sind Sie denn aber zu jener Zeit gewesen?«

Ich dachte einen Augenblick nach.

»Ich glaube diese seltsame Unwissenheit meinerseits vollständig erklären zu können. Vor drei Jahren lebte mein Vater noch; wir bewohnten ein Landhaus in Italien, oben in den Bergen bei Siena. Wir bekamen niemals eine englische Zeitung zu Gesicht, noch begegneten wir einem englischen Reisenden. Es mag auch möglich sein, daß in irgend einem der Briefe, die mein Vater aus England erhielt, des Prozesses erwähnt wurde. Wenn dem so war, sprach er mir nicht davon, und wenn er es gethan, habe ich es jedenfalls gleich nachher vergessen. Bitte, erzählen Sie mir aber, in welcher Beziehung steht das Verdict mit meines Gatten entsetzlichem Zweifel an uns? Eustace ist ein freier Mann. Das Verdict lautete natürlich auf Nicht schuldig?«

Major Fitz-David schüttelte traurig den Kopf.

»Eustace stand in Schottland vor Gericht,« sagte er.

»Dem schottischen Gesetz ist ein Verdict gestattet, welches, so viel ich weiß, von keinem Gesetz irgend eines civilisirten Volkes erlaubt wird. Wenn der Gerichtshof in Zweifel ist, ob er verdammen oder freisprechen soll, ist es der schottischen Jury gestattet, diesen Zweifel in Form eines Mittelweges auszudrücken. Wenn auf der einen Seite nicht Evidenz genug für das Schuldig und auf der andern Seite nicht Evidenz genug für das Nichtschuldig ist, dann ziehen sich die Richter durch das Verdict »Nicht bewiesen« aus der Verlegenheit.

»War das das Verdict in meines Mannes Prozeß?« fragte ich.

»Ja.«

»Der Gerichtshof war also nicht ganz überzeugt, daß mein Mann schuldig, und auch nicht ganz, daß er unschuldig sei. Ist das der Sinn des schottischen Verdict?«

»Allerdings. Seit drei Jahren ist der Zweifel des Gerichtshofes an der Unschuld des Vorgeladenen vom Publikum als authentisch angenommen worden.«

O mein armer unschuldiger Märtyrer! Nun erst verstand ich ihn ganz. Der falsche Name, unter dem er mich geheirathet, die entsetzlichen Worte, die er sprach, als er mich warnte, sein Geheimniß zu bewahren, alles das trat jetzt dicht an meine Sympathien heran. Ich erhob mich noch einmal von dem Sopha, gestärkt durch einen waghalsigen Entschluß, den das schottische Verdict in mir erzeugt, einen Entschluß, so verzweifelt und so heilig zugleich, daß er für den ersten Augenblicks nur für meines Gatten Ohr bestimmt sein konnte.

»Führen Sie mich zu Eustace,« sagte ich.

»Ich bin stark genug, alles zu ertragen.«

Nachdem der Major noch einen beobachtenden Blick auf mich geworfen, bot er mir seinen Arm und führte mich aus dem Zimmer.


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