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Die Blinde



Drittes Kapitel - Fortsetzung von Lucilla’s Tagebuch

»Den 4. September. »Ich muß den heutigen Tag als einen der traurigsten meines Lebens bezeichnen. Oscar hat. mich Madame Pratolungo in ihrer wahren Gestalt kennen gelehrt. Er hat mir die jammervolles Geschichte so klar gemacht, daß ich mich der Wahrheit seiner Mittheilungen nicht verschließen konnte. Ich habe meine Liebe und mein Vertrauen zu diesem falschen Weibe abgethan; in ihr lebt kein Ehrgefühl, keine Dankbarkeit und keine Delicatesse. Und ich hielt sie einst für — es macht mich elend, daran zu denken! Ich will sie nie wieder sehen.«

(Anm. Wem es nie begegnet sein sollte, sich zum Copiren einer solchen Meinungsäußerung über seinen Charakter genöthigt zu sehen, dem kann ich die Versicherung geben, daß man dabei ganz eigenthümlich empfindet und daß die Versuchung, selbst ein Paar Zeilen hinzuzufügen, fast unwiderstehlich ist. P.)

»Oscar und ich trafen uns verabredetermaßen an der Treppe. Er führte mich nach dem westlichen Hafendamm. Zu dieser Morgenstunde war dort, bis auf einige Matrosen, die uns nicht beachteten, Niemand zu sehen. Es war einer der schönsten Tage des Jahres. Wenn wir vom Auf- und Abgehen müde geworden waren, konnten wir im milden Sonnenschein niedersitzen und die balsamische Seeluft einathmen. Zu diesem reinen Licht und all dem lieblichen Farbenspiel um uns her bildete für mein Gefühl das Gespräch, das uns ganz absorbirte, einen widerwärtigen und abscheulichen Contrast, indem es stundenlang nur Complotte, Lügen und grausamen Betrug aufdeckte.

Ich wußte gleich meine erste Frage so zu stellen, daß er auf die Sache selbst eingehen mußte, ohne Zeit mit solchen Phrasen zu vergeuden, die mich erst auf die Sache hätten vorbereiten sollen.

»Als meine Tante gestern bei Tische eines Briefes gedachte«, sagte ich, »dachte ich mir, daß Du schon etwas davon wissest. Habe ich darin Recht gehabt?«

»Beinahe recht«, antwortete er. »Ich kann nicht sagen, daß ich etwas davon wußte; aber ich schöpfte sofort Verdacht, daß es die Machination unserer Feindin sei.«

»Doch nicht Madame Pratolungo?i«

»Allerdings, Madame Pratolungo.«

Ich war sofort anderer Meinung. Madame Pratolungo und meine Tante hatten sich über Politik gezankt; eine Correspondenz zwischen ihnen und noch dazu eine vertrauliche Correspondenz schien mir daher als etwas äußerst Unwahrscheinliches. Ich fragte Oscar, ob er errathen könne, was der Brief enthalte und warum mir derselbe erst übergeben werden sollte, wenn Grosse mich für ganz wieder hergestellt erklärt haben würde.

»Den Inhalt kann ich nicht errathen«, sagte er, »wohl aber den Zweck des Briefes«

»Und der wäre?«

»Derselbe Zweck, den sie von Anfang an verfolgt hat: meiner Verheirathung mit Dir jedes mögliche Hinderniß in den Weg zu stellen.«

»Welches Interesse kann sie daran haben?«

»Das Interesse meines Bruders.«

»Verzeihe mir, Oscar; aber das kann ich von der Frau nicht glauben.«

Diese Unterhaltung führten wir gehend; bei meinen letzten Worten stand er still, sah mich mit einem durchdringenden Blick an und sagte:

»Du glaubtest es doch von ihr, als Du meinen Brief beantwortetest.«

Das mußte ich zugeben.

»Ich glaubte Deinem Brief«, erwiderte ich, »und theilte Deine Ansicht über sie, solange sie in demselben Hause mit mir war. Ihre Gegenwart gab meinem Zorn und meinem Abscheu gegen sie in einer Weise Nahrung, die ich mir nicht zu erklären weiß. Jetzt, nachdem sie mich verlassen hat, jetzt, wo ich Zeit nachzudenken habe, spricht etwas in mir für sie und martert mich mit Zweifeln, ob ich recht gethan habe. Ich kann es nicht begreifen und nicht erklären, ich weiß nur; daß es so ist.«

Er sah mich noch immer mit steigend gespannter Aufmerksamkeit an.

»Deine gute Meinung von ihr muß sehr fest gewurzelt sein, daß Du mit solcher Zähigkeit daran haftest«, sagte er. »Was hat sie denn gethan, das zu verdienen?«

Wenn ich mir alle meine alten Erinnerungen an sie hätte zurückrufen wollen, hätte ich weinen müssen. Und doch fühlte ich, daß ich so lange wie möglich für sie eintreten müsse. Ich half mir auf folgende Weise.

»Ich will Dir sagen, was sie gethan hat, nachdem ich Deinen Brief empfangen hatte«, entgegnete ich. »Zu meinem Glück befand sie sich an jenem Morgen nicht ganz wohl und frühstückte im Bett. Ich hatte daher reichlich Zeit, mich zu beruhigen und Zillah, die mir Deinen Brief vorgelesen hatte, zum Schweigen zu ermahnen, bevor wir uns an jenem Tage zum ersten Male sahen. Tags zuvor hatte sie mich durch die Art verletzt, wie sie Deine Abwesenheit von Browndown erklärte. Mir schien, daß sie mir nicht mit demselben Vertrauen entgegenkomme, das ich ihr bewiesen haben würde, wenn unser Verhältniß zu einander das umgekehrte gewesen wäre. Als ich sie dann wieder sah, entschuldigte ich mich, Deiner Mahnung uneingedenk, bei ihr und sagte, was sie, wie ich mir dachte, unter den obwaltenden Umständen von mir erwarten würde. Vermuthlich that ich in meiner Aufregung und Verzweiflung des Guten etwas zu viel. Gewiß ist, daß ich bei ihr den Verdacht erweckte, es sei etwas nicht in Ordnung. Sie fragte mich nicht nur, ob etwas vorgefallen sei, sondern ging so weit, mir ausdrücklich zu sagen, ich komme ihr verändert vor. Ich machte der Sache ein Ende, indem ich erklärte, daß ich sie nicht verstehe. Sie muß gesehen haben, daß ich nicht die Wahrheit sagte; sie muß so gut wie ich selbst gewußt haben, daß sich ihr etwas verheimliche. Trotz alledem kam kein Wort weiter über ihre Lippen. Ein stolzes Zartgefühl, das ich so deutlich in ihrem Gesichte sah, wie ich Dich jetzt vor mir sehe, ließ sie schweigen. Sie sah verletzt und gekränkt aus. Ich habe an dieses Aussehen denken müssen, so lange ich hier bin. Ich habe mich gefragt, was mir damals nicht einfiel, ob ein falsches Weib, das sich seiner Schuld bewußt wäre, sich so benommen haben würde? Ein falsches Weib würde doch sicherlich mich zu überlisten und dahin zu bringen versucht haben, meine wirklich gemachten Entdeckungen zu verrathen. Oscar, jenes delicate Schweigen, jener gekränkte Blick sprechen bei mir für sie, wenn ich in ihrer Abwesenheit an sie denke. Ich bin nicht mehr so überzeugt, wie ich es einst war, daß sie das abscheuliche Geschöpf sei, für das Du sie erklärst. Ich weiß, daß Du unfähig bist, mich zu betrügen, daß Du glaubst was Du sagst. Aber sollte es nicht möglich sein, daß der Schein Dich getäuscht hat? Bist Du ganz sicher, daß Dir nicht ein verhängnißvoller Irrthum begegnet ist?«

Ohne mir zu antworten, stand er plötzlich vor einem Sitz unter der steinernen Brustwehr des Hafendammes still und hieß mich mit einer Handbewegung neben ihn hinsetzen. Ich gehorchte ihm; aber anstatt mich anzusehen, wandte er sein Gesicht von mir ab und blickte nach der See hinaus. Ich begriff ihn nicht. Sein Benehmen war mir unerklärlich, ja, fast beunruhigend.

»Habe ich Dich beleidig?« fragte ich.

Jetzt wandte er sich wieder ebenso plötzlich zu mir, wie er sich vorhin von mir abgewandt hatte. Seine Augen hattest einen unstäten Ausdruck; sein Gesicht war bleich.

»Du bist ein gutes, großmüthiges Wesen,« sagte er in einem verwirrt hastigen Ton. »Laß uns von etwas Anderem reden.«

»Nein«, antwortete ich, »ich bin zu lebhaft dabei interessirt, die Wahrheit zu erfahren, um von etwas Anderem reden zu können.«

Bei diesen Worten wechselte er abermals die Farbe; eine tiefe Röthe überflog sein Gesicht; er seufzte schwer, wie man es wohl thut, wenn man eine große Anstrengung macht.

»Bestehst Du darauf?« fragte er.

»Ich bestehe darauf.«

Er stand wieder auf. — Je näher ihm die Nothwendigkeit rückte, mir alles das zu sagen, was er mir bis jetzt verheimlicht hatte, desto schwerer schien es ihm zu werden, das erste Wort zu sprechen.

»Hast Du etwas dagegen, daß wir wieder gehen?« fragte er.

Ich stand schweigend auf und legte meinen Arm in den seinigen. Langsam gingen wir bis an das Ende des Hafendammes. Hier angelangt, stand er still und sprach, den Blick auf die weite blaue Wasserfläche statt auf mich gerichtet, diese ersten, harten Worte:

»Ich verlange nicht von Dir, daß Du mir irgend etwas auf meine bloße Versicherung hin glaubst. Die eigenen Worte und die eigenen Handlungen des Weibes sollen Dir ihre Schuld beweisen. Wie ich zuerst dazu kam, Verdacht gegen sie zu schöpfen, wie ich meinen Verdacht später bestätigt fand, das will ich Dir nicht mittheilen, weil ich entschlossen bin, meinen Einfluß auf Dich nicht dazu zu mißbrauchen, Dich zu meinen Ansichten zu bekehren. Erinnere Dich jenes bereits in meinem Brief erwähnten Moments, wo sie sich Dir gegenüber im Pfarrhausgarten verrieth. Ist es wahr, daß sie damals zu Dir sagte, Du würdest Dich in meinen Bruder verliebt haben, wenn Du ihm und nicht mir zuerst begegnet wärest?«

»Das ist wahr«, antwortete ich; »aber fügte ich sofort hinzu, »in einem Moment, wo sie ihrer selbst nicht ganz mächtig war und wo auch ich meine Fassung verloren hatte.«

»Erinnere Dich eines etwas späteren Zeitpunktes«, fuhr er fort, »des Zeitpunktes, wo sie Dir nach Browndown gefolgt war. War sie auch da ihrer selbst noch nicht mächtig, als sie sich bei Dir entschuldigte?«

»Nein.«

»Legte sie sich ins Mittel als Nugent Deine Blindheit dazu mißbrauchte, Dich glauben zu machen, daß Du mit mir sprächest?«

»Nein.«

»War sie in jenem Augenblick ihrer selbst noch nicht mächtig?«

Ich versuchte es noch immer, sie zu vertheidigen.

»Sie durfte wohl auf mich böse sein«, sagte ich. »Sie hatte sich bei mir aufs Freundlichste entschuldigt und ich hatte diese Entschuldigung in einer unverzeihlich unartigen Weise zurückgewiesen.«

Meine Fürsprache machte bei ihm keinen Eindruck. Er faßte vielmehr seine Anklage ganz kühl in die Worte: »Sie verglich mich zu meinem Ungunsten mit meinem Bruder und sie ließ es zu, daß mein Bruder als er mit Dir sprach, Dich glauben machte, er sei ich, ohne der Sache Einhalt zu thun. In diesen beiden Fällen kann ihre Gereiztheit zur Erklärung und zur Entschuldigung ihres Benehmens dienen. Gut. Es kommt nichts darauf an, ob wir in dieser Beziehung einer Meinung sind oder nicht. Aber laß uns, ehe wir weiter gehen, uns wo möglich über eine unbestreitbare Thatsache einigen. Welcher von uns beiden Brüdern war vom ersten Augenblicke an ihr Liebling?«

Darüber konnte man allerdings nicht zweifelhaft sein. Ich gab ohne Weiteres zu, daß Nugent ihr Liebling sei. Und noch mehr, ich erinnerte mich, daß ich sie beschuldigt habe, vom ersten Augenblicke an nie gerecht gegen Oscar gewesen zu sein.«

(Anmerk.: Man sehe das sechzehnte Kapitel des ersten Bandes und daselbst Madame Pratolungo’s Bemerkung, daß der Leser noch einmal wieder von diesem Umstand hören werde. P.)

Oscar fuhr fort:

»Behalte das im Gedächtniß und laß uns nun weiter bis zu dem Zeitpunkte vorgehen, wo wir in Deinem Wohnzimmer versammelt waren, um über die Operation Deiner Augen zu debattiren. Die uns vorliegende Frage war, so viel ich mich erinnere, ob Du Dich schon vor der Operation mit mir verheirathen solltest? Oder ob wir warten sollten, bis die Operation vollzogen und Du vollständig geheilt wärest? Wofür entschied sich Madame Pratolungo bei dieser Gelegenheit? Sie entschied sich gegen mein Interesse; sie redete Dir zu, unsere Heirath aufzuschieben.«

Ich verharrte dabei, sie zu vertheidigen.

»Das that sie aus Sympathie für mich«, sagte ich.

Zu meiner Ueberraschung ließ er auch diese meine Auffassung gelten, ohne auch nur den Versuch zu machen, sie zu bestreiten.

»Gut«, fuhr er fort, »nehmen wir an, sie habe es aus Sympathie für Dich gethan. Was aber auch ihre Motive gewesen sein mögen, das Resultat war dasselbe. Unsere Heirath wurde auf unbestimmte Zeit verschoben und Madame Pratolungo hatte für diesen Aufschub gestimmt.«

»Und Dein Bruder«, fügte ich hinzu, »war anderer Ansicht und versuchte mich zu überreden, Dich vor der Operation zu heirathen. Wie kannst Du das mit dem, was Du mir gesagt hast, in Einklang bringen?«

Er unterbrach mich, bevor ich fortfahren konnte. »Laß meinen Bruder aus dem Spiel«, sagte er. »Mein Bruder konnte um jene Zeit noch wie ein Ehrenmann handeln und seine Wünsche seiner Pflicht gegen mich zum Opfer bringen. Laß uns für jetzt wenigstens uns strenge auf das beschränken, was Madame Pratolungo gesagt und gethan hat. Und laß uns zu einem wenige Minuten späteren Zeitpunkt vorgehen, wo unsere kleine häusliche Debatte zu Ende war. Mein Bruder ging zuerst fort; dann begabst Du Dich auf Dein Zimmer und ließest Madame Pratolungo und mich allein zurück. Erinnerst Du Dich dessen?«

»Ganz genau! Du hattest mich bitter enttäuscht«, sagte ich. »Du hattest keine Sympathie für mein sehnliches Verlangen gezeigt, meine Sehkraft wieder hergestellt zu sehen. Du machtest Einwendungen und erhobst Schwierigkeiten. Ich erinnere mich, mich mit einiger Bitterkeit gegen Dich geäußert zu haben. Ich tadelte Dich dafür, daß Du meinen Glauben an meine Zukunft und meine Hoffnungen nicht theilen wolltest und verließ Dich dann und schloß mich in mein Zimmer ein.«

Durch diese Worte überzeugte ich ihn, daß meine Erinnerung an die Ereignisse jenes Tages so klar sei, wie seine eigene. Er hörte mir zu, ohne irgend eine Bemerkung zu machen und fuhr dann, als ich fertig war, wieder fort:

»Madame Pratolungo theilte bei jener Gelegenheit Dein hartes Urtheil über mich und sprach es in unendlich viel stärkeren Ausdrücken aus. Sie verrieth sich Dir gegenüber im Pfarrhausgarten. «Gegen mich aber verrieth sie sich, nachdem Du uns im Wohnzimmer allein gelassen hattest. Daran war ohne Zweifel wieder ihre Heftigkeit Schuld, darin bin ich ganz mit Dir einverstanden. Was sie mir in Deiner Abwesenheit sagte, würde sie gewiß nicht gesagt haben, wenn sie ihrer selbst mächtig gewesen wäre.«

Ich fing an, etwas betroffen zu werden. »Wie kommt es, daß Du mir jetzt zum ersten Male davon erzählst?« sagte ich. »Fürchtetest Du, mich zu betrüben?«

»Ich fürchtete, Dich zu verlieren«, antwortete er.

Bis dahin hatte ich meinen Arm in den seinigen gelegt. Jetzt zog ich denselben zurück. Seine Worte konnten keinen andern Sinn haben, als den, daß er mich einmal fähig gehalten habe, ihm die Treue zu brechen. Er sah, daß ich verletzt war.

»Erinnere Dich, daß ich Dich an jenem Tage unglücklicherweise beleidigt hatte und daß Du noch nicht gehört hast, was Madame Pratolungo mir unter diesen Umständen zu sagen wagte.«

»Und was hat sie Dir gesagt?«

»Folgendes: Lucilla würde einer glücklicheren Zukunft entgegengehen, wenn sie Ihren Bruder statt Ihrer geheirathet hätte. Das waren buchstäblich ihre Worte.«

Ich konnte das so wenig von ihr glauben, wie ich es von mir selbst geglaubt hätte.

»Bist Du Deiner Sache wirklich ganz gewiß?« fragte ich. »Ist es möglich, daß sie eine so grausame Aeußerung gegen Dich gethan hat?«

Statt jeder Antwort zog er seine Brieftasche aus der Brusttasche seines Rocks, suchte in derselben nach etwas und zog ein gefaltetes und zerknittertes Stück Papier hervor, öffnete dasselbe und zeigte mir einige darauf geschriebene Zeilen.

»Ist dass meine Handschrift?« fragte er.

Es war seine Handschrift. Ich hatte, seit ich wieder sehen konnte, Briefe genug von ihm in Händen gehabt, nur dessen gewiß zu sein.

»Lies es«; sagte er, »und urtheile selbst.«

(Anm. Der Leser hat diesen Brief schon in dem dreizehnten Kapitel des zweiten Bandes kennen gelernt. Ich hatte, wie man es in meinem dortigen Bericht finden wird, jene thörichten Worte in einer begreiflichen Entrüstung, wie sie jede andere Frau mit einem Funken von Geist auch empfunden haben würde, zu Oscar gesagt. Statt auf der Stelle dagegen zu remonstriren, war Oscar wie gewöhnlich nach Hause gegangen und hatte mir einen Brief voll von Vorwürfen geschrieben. Unmittelbar nach Empfang des Briefes war ich, nachdem ich inzwischen Zeit gehabt hatte, mich abzukühlen, und da ich es absurd fand, daß wir Briefe mit einander wechselten, während wir in einigen Minuten zu einander gelangen konnten, direct nach Browndown gegangen, hatte aber zuvor den Brief zerknittert und wie ich meinte, ins Feuer geworfen. Nachdem ich mich mit Oscar ausgesprochen hatte, war ich in’s Pfarrhaus zurückgekehrt und hatte hier erfahren, daß Nugent in meiner Abwesenheit gekommen sei, mich zu besuchen, daß er im Wohnzimmer ein wenig auf mich gewartet habe und dann wieder fortgegangen sei. Wenn ich sage, daß der Brief, den Nugent jetzt Lucilla zeigte, derselbe Brief Oscar’s war, den ich vernichtet zu haben glaubte, so wird man begreifen, daß ich den Brief anstatt in’s Feuer in den Fender geworfen hatte und daß ich ihn bei meiner Rückkehr nicht mehr im Fender fand, einfach, weil Nugent ihn früher als ich gefunden und zu sich genommen hatte. Diese Einzelheiten sind ausführlicher in dem erwähnten Kapitel erzählt und der Brief selbst ist dort wörtlich mitgetheilt. Ich will aber dem Leser die Mühe des Nachschlagens ersparen und wörtlich abschreiben, was im Tagebuch steht. Der Brief selbst ist in das Tagebuch eingeklebt; ich will ihn zum zweiten Mal mittheilen. P.)

»Ich nahm ihm den Brief ab und las ihn; auf meine Bitte hat er mir erlaubt, ihn zu behalten. Der Brief dient mir zur Rechtfertigung für meine jetzige Meinung von Madame Pratolungo. Ich will ihn hier einfügen, bevor ich ein Wort weiter in mein Tagebuch schreibe.

»Madame Pratolungo. Sie haben mich tiefer betrübt, als ich es sagen kann. Ich weiß, daß mich sehr ernste Vorwürfe treffen und bitte Sie von Herzen um Verzeihung, wenn ich Sie durch meine Worte oder Handlungen beleidigt habe; aber ich kann Ihr hartes Urtheil über mich nicht als gerecht anerkennen. Wenn Sie wüßten, wie ich Lucilla anbete, würden Sie Nachsicht mit mir haben, würden Sie mich besser verstehen. Ihre letzten grausamen Worte klingen mir noch immer fort in den Ohren. Ich kann Sie nicht wiedersehen, ehe Sie sich über diese Worte näher gegen mich erklärt haben. Sie haben mich in’s tiefste Herz getroffen, als Sie diesen Abend sagten, Lucilla würde einer glücklicheren Zukunft entgegengehen, wenn sie meinen Bruder anstatt meiner heirathete. Ich hoffe, daß das nicht Ihr Ernst war, und bitte Sie, mir in einer Zeile zu sagen, ob ich zu dieser Annahme berechtigt bin oder nicht. Oscar.«

Das Erste, was ich that, nachdem ich diese Zeilen gelesen hatte, war natürlich, daß ich meinen Arm wieder in den seinigen legte und ihn so dicht wie möglich an mich heranzog. Demnächst fragte ich natürlich nach Madame Pratolungo’s Antwort auf diesen so zärtlichen und rührenden Brief.«

»Ich kann Dir keine Antwort zeigen«, sagte er.

»Hast Du sie verloren?« fragte ich.

»Ich habe nie eine gehabt.«

»Was willst Du damit sagen?«

»Madame Pratolungo hat mir auf meinen Brief nie eine Antwort gegeben.«

Er mußte mir das zwei Mal wiederholen. War es nicht unglaublich, daß eine nicht ganz verderbte Frau von einem solchen Appell nicht die geringste Notiz genommen haben sollte? Zweimal wiederholte er dieselbe Antwort, zweimal versicherte er mir auf sein Ehrenwort, daß ihm keine Zeile der Erwiderung zu Theil geworden sei. War sie dann also wirklich ganz verderbt? Nein, es gab noch eine letzte Entschuldigung, welche Gerechtigkeit und Freundschaft für sie anführen konnten. Ich sprach dieselbe aus.

»Es giebt nur eine Erklärung für ihr Benehmen«, sagte ich. »Sie hat den Brief nie bekommen. Wohin hast Du ihn geschickt?«

»Nach dem Pfarrhause.«

»Wer brachte ihn hin?«

»Mein Diener.«

»Vielleicht hat er ihn unterwegs verloren und hat sich gefürchtet, Dir das zu sagen. Oder vielleicht hat die Magd im Pfarrhause vergessen den Brief abzugeben.«

Oscar schüttelte den Kopf. »Ganz unmöglich. Ich weiß, daß Madame Pratolungo den Brief bekommen hat.«

»Wie das?«

»Ich fand denselben in Deinem Wohnzimmer im Pfarrhause zerknittert, in einer Ecke des Kaminfenders.«

»War er offen?«

»Allerdings. Sie hat ihn erhalten, hat ihn gelesen und hätte ihn in’s Feuer geworfen, wenn sie nicht zufällig ihr Ziel verfehlt hätte. Jetzt frage ich Dich, Lucilla, ist Madame Pratolungo Unrecht geschehen und habe ich sie verleumdet?«

Wenige Schritte von uns stand wieder eine Bank.Ich konnte nicht länger stehen, ich ging allein nach der Bank und setzte mich nieder. Ich war wie betäubt, ich konnte weder reden noch weinen. Schweigend saß ich da und rang die Hände auf meinem Schooß; ich fühlte wie die letzten Bande, die mich noch an die innig geliebte Freundin geknüpft hatten, sich lösten. Er folgte mir und stellte sich vor mich hin, in ruhigen strengen Worten zählte er ihre Vergehen auf und überzeugte mich so völlig, daß ich mich schämte, mich je nach ihr zurückgesehnt zu haben.

»Vergegenwärtige Dir zum letzten Male, Lucilla, was dieses Weib gesagt und gethan hat. Du wirst finden, daß die Idee einer Verheirathung Nugent’s mit Dir sie immer in einer oder der anderen Gestalt beschäftigt — gleichviel ob sie sich vergißt und sich unvorsichtig äußert, oder ob sie mit Ueberlegung und zu einem bestimmten Zwecke handelt. Einmal sagt sie zu Dir, Du würdest Dich in meinen Bruder verliebt haben, wenn Du ihn zuerst gesehen hättest; ein anderes Mal steht sie dabei, während mein Bruder sich Dir gegenüber für mich ausgiebt und legt sich nicht in’s Mittel. Ein drittes Mal sieht sie, daß Du Dich von mir beleidigt fühlst und empfindet bei diesem Anblick eine so grausamer Freude, daß sie mir in’s Gesicht sagt, Du würdest einer viel glücklicheren Zukunft entgegengehen, wenn Du Dich mit meinem Bruder statt mit mit yerlobt hättest. Ich bitte sie schriftlich in einer höflichen und freundlichen Form, mir zu erklären, was sie mit diesen schrecklichen Worten habe sagen wollen. Sie hat Zeit gehabt, sich die Worte zu überlegen, seit sie sie ausgesprochen hat und was thut sie? Antwortet sie mir? Nein! Sie schleudert meinen Brief verächtlich in’s Feuer. Nimm zu diesen klaren Thatsachen hinzu, was Du selbst beobachtet hast. Nugent ist der Gegenstand ihrer Bewunderung, Nugent ist ihr Liebling, mich aber hat sie vom ersten Augenblick an nicht leiden können, mir hat sie immer Unrecht gethan. Nimm ferner hinzu, daß Nugent, wie ich gewiß weiß, ihr im Vertrauen gestanden hat, daß er Dich liebe, vergegenwärtige Dir alle diese Umstände und — frage Dich, was sich unwiderleglich daraus ergiebt. Ich frage Dich noch einmal, ist Madame Pratolungo eine verleumdete Frau? Oder habe ich Recht, Dich vor ihr zu warnen?«

Was konnte ich anders thun, als zugeben, daß er Recht habe. Ich war es ihm und mir selbst schuldig, von diesem Augenblick an mein Herz gegen sie zu verschließen. Oscar setzte sich zu mir und ergriff meine Hand.

»Kann es Dich«, fuhr er sanft fort, »nach diesen meinen Erfahrungen mit ihr überraschen, daß ich mich vor dem, was sie etwa noch thun möchte, fürchte? Wäre es etwa das erste Mal, daß treu Liebende durch Verrätherei, die ihr Vertrauen zu einander untergrub, voneinander getrennt worden sind? Ist Madame Pratolungo nicht klug und gewissenlos genug, um auch unser gegenseitiges Vertrauen zu untergraben und den Einfluss, den sie im Pfarrhause bereits besitzt, zu den schlechtesten Zwecken gegen uns zu mißbrauchen? Wie können wir wissen, ob sie nicht in diesem Augenblick mit meinem Bruder in Verbindung steht?«

Ich unterbrach ihn; ich konnte es nicht ertragen. »Du hast ja Deinen Bruder gesprochen«, sagte ich. »Du hast mir gesagt, daß Ihr Euch verständigt habt. Was hast Du nun noch zu fürchten?«

»Ich habe Madame Pratolungo’s Einfluß und meines Bruders thörichte Liebe für Dich zu fürchten«, antwortete er. »Ich kann mich auf seine ehrlichen Versprechungen nicht mehr verlassen, sobald ich den Rücken gekehrt habe und ich fürchten muß, daß Madame Pratolungo in meiner Abwesenheit bei ihm ist. Schon jetzt geht im Geheimen etwas vor! Der geheimnißvolle Brief, der Dir unter gewissen Bedingungen gezeigt werden soll, gefällt mir so wenig wie das Schweigen Deines Vaters. Er hätte Zeit genug gehabt, Deinen Brief zu beantworten. Hat er es etwa gethan? Er hätte Zeit genug gehabt, auch mein Postskriptum zu beantworten. Hat er das etwa gethan?«

Das waren unbequeme Fragen. Allerdings hatte mein Vater bis jetzt meine beiden Briefe unbeanwortet gelassen. Aber die nächste Post konnte ja noch seine Antwort bringen. Ich beharrte dabei, die Sache so anzusehen und sagte das Oscar. Er aber beharrte eben so eigensinnig bei seiner Ansicht.

»Laß uns das Ende der Woche abwarten«, sagte er, »ob bis dahin ein Brief Deines Vaters für Dich oder für mich eintrifft; wenn aber keiner kommt, wirst Du dann zugeben, daß sein Schweigen verdächtig ist?«

»Ich will in diesem Fall zugeben, daß sein Schweigen einen traurigen Mangel an Rücksicht für Dich beweist«, erwiderte ich.

»Und dabei willst Du es bewenden lassen? Du willst nicht sehen, wie ich es sehe, daß der Einfluß Madame Pratolungo’s sich im Pfarrhause geltend macht und die Gesinnungen Deines Vaters in Bezug auf unsere Verheirathung vergiftet?«

Auf diese Weise trieb er mich sehr in die Enge. Ich bot gleichwohl Alles auf, ihm ehrlich zu sagen, was in meinem Innern vorging.

»Ich sehe» sagte ich« »daß Madame Pratolungo’s Benehmen gegen Dich sehr grausam gewesen ist. Und ich glaube nach dem, was Du mir mitgetheilt hast, daß sie sich freuen würde, wenn ich mein Dir gegebenes Wort bräche und Dritten Bruder heirathete. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie wahnsinnig genug sein sollte, jetzt zu complottiren, um mich zu einem solchen Wortbruch zu treiben. Niemand weiß besser als sie, wie treu ich Dich liebe und wie hoffnungslos der Versuch sein würde, mich dahin zu bringen, einen anderen Mann zu heirathen. Würde man wohl der dümmsten Frau auf der Welt, die Euch Brüder beide gesehen hätte, und wüßte, was sie weiß, die Dummheit zutrauen, das zu thun, was zu thun Du Madame Pratolungo im Verdacht hast?«

Ich hielt das für unwiderleglich. Er aber war um eine Antwort nicht verlegen.

»Wenn Du mehr von der Welt gesehen hättest, Lucilla«, sagte er, »so würdest Du wissen, daß eine echte Liebe, wie die Deinige, für eine Frau wie Madame Pratolungo ein Geheimniß ist. Sie glaubt nicht an eine solche Liebe — und sie versteht sie nicht. Sie weiß, daß sie selbst fähig wäre, jede eingegangene Verpflichtung zu brechen, wenn die Umstände darnach angethan wären, und sie bemißt Deine Treue nach ihrer eigenen Natur. Weder in dem, was sie von Dir weiß, noch in der Entstellung meines Bruders liegt für eine solche Frau irgend etwas, was sie davon abschrecken könnte, an unserer Veruneinigung zu arbeiten. Sie hat erlebt, daß Du, wie Du mir bereits gesagt hast, Deinen ersten Widerwillen gegen ihn überwunden hast. Sie weiß, daß so reizende Mädchen wie Du, schon oft persönlich viel, abstoßendere Männer als meinen Bruder geheirathet haben. Lucilla, ein Gefühl, das sich nicht wegstreiten und nicht widerlegen läßt, sagt mir, daß ihre Rückkehr nach England uns verhängnißvoll werden wird, wenn uns bei dieser Rückkehr noch kein engeres Band, als das jetzt zwischen uns bestehende, verknüpft. Ist diese nervöse Angst eines Mannes würdig? Würdig, oder nicht, Du solltest Nachsicht damit haben, Geliebte. Es ist meine Liebe zu Dir, die mir diese Angst einflößt!«

Gewiß hatte er unter den obwaltenden Umständen den größten Anspruch auf meine Nachsicht, und das sagte ich ihm. Er trat näher an mich heran und umschlang mich mit seinem Arm.

»Haben wir uns nicht das Wort gegeben« Mann und Weib zu werden?« flüsterte er.

»Ja!«

»Sind wir nicht Beide mündig, Beide frei, zu thun, was wir wollen?«

»Ja.«

»Würdest Du mich, wenn Du könntest, von der Angst, unter der ich leide, befreien?«

»Das weißt Du ja!«

»Du kannst mich davon befreien«

»Wie das?«

»Indem Du Dich bereit erklärst, Lucilla, mich in vierzehn Tagen in London zu heirathen und mir dadurch die Ansprüche eines Ehegatten einräumst.«

Ich fuhr zurück und sah ihn in stummen Erstaunen an. Im ersten Augenblick war ich unfähig, ihm irgend eine Antwort zu geben.

»Ich verlange nichts Deiner Unwürdiges von Dir«, sagte er. »Ich habe schon mit einer in der Nähe von London lebenden Verwandten von mir gesprochen, einer verheiratheten Dame, deren Haus Dir während der Zeit bis zu unserem Hochzeitstage offen steht. Vierzehn Tage, nachdem ich die Erlaubniß zu unserer Heirath erwirkt haben werde, können wir Hochzeit machen. Schreibe auf alle Fälle nach Hause, um sie über Dich zu beruhigen. Sage ihnen, Du seiest wohl und glücklich und unter einer respektablen Obhut, aber sage nichts weiter. So lange es für Madame Pratolungo möglich ist, Unheil anzustiften, mußt Du Deinen Aufenthaltsort verheimlichen. Sobald wir verheirathet sind, kannst Du Alles mittheilen. Dann laß alle Deine Verwandten, laß die ganze Welt wissen, daß wir Mann und Weib sind!«

Sein Arm, der mich umschlungen hielt, zitterte; sein Gesicht überflog ein tiefes Roth, seine Blicke verschlangen mich. Einige Frauen an meiner Stelle würden sich vielleicht verletzt, andere würden sich geschmeichelt gefühlt haben. Ich, diesen Blättern kann ich es anvertrauen, ich war erschrocken.

»Du schlägst mir also vor, mit Dir davon zu laufen?« fragte ich.

»Davonzulaufen?« wiederholte er.

Wie kann bei zwei Verlobten, die nur auf sich Rücksicht zu nehmen haben, von Davonlaufen die Rede sein?«

»Ich muß aus meinen Vater und auf meine Tante Rücksicht nehmen«, sagte ich, »Du schlägst mir vor, davonzulaufen und mich vor ihnen zu verbergen.«

»Ich bitte Dich«, antwortete er, »eine verheirathete Dame auf vierzehn Tage zu besuchen und diesen Besuch vor Deiner schlimmsten Feindin so lange geheim zu halten, bis Du meine Frau geworden bist. Was ist denn so schreckliches an dieser Bitte, daß Du erbleichst und mich so entsetzt ansiehst? Habe ich nicht mit Bewilligung Deines Vaters um Deine Hand geworben? Bin ich nicht Dein Verlobter? Können wir nicht selbstständig unsere Entschlüsse fassen? Ich sehe absolut keinen Grund, warum wir uns nicht, wenn es möglich wäre, morgen verheirathen sollten. Und Du zauderst noch? Lucilla! Lucilla! Du zwingst mich, einen Zweifel auszusprechen, der mich, seit ich hier bin, verfolgt hat. Bist Du wirklich in Deinen Gesinnungen für mich so verändert, wie es den Anschein hat? Liebst Du mich wirklich nicht mehr so, wie Du mich einst in vergangenen Tagen liebtest?«

Er stand auf,« trat an die Brustwehr und lehnte sich, den Kopf in die Hände gestützt, über dieselbe hin.

Ich blieb allein sitzen und wußte nicht, was ich sagen oder thun sollte. Wie sehr ich mich auch bemühen mochte, das unbehagliche Gefühl, daß er Recht habe, sich über mein kaltes Benehmen zu beklagen, los zu werden, es wollte mir nicht gelingen. Er hatte kein Recht, zu erwarten, daß ich den mir von ihm zugemutheten Schritt thun werde; jedes Mädchen an meiner Stelle würde dieselben Bedenken dagegen erhoben haben. So sehr ich aber auch davon durchdrungen war, redete doch ein bestimmtes Etwas in mir ihm das Wort. Es war gewiß nicht die Stimme meines Gewissens, die mir zuflüsterte: Es gab eine Zeit, wo seine Bitten Alles über dich vermocht haben würden, wo du nicht wie jetzt gezaudert haben würdest!

Was es aber auch sein mochte, was sich in mir regte, es trieb mich, aufzustehen und an die Brustwehr zu Oscar heranzutreten.

»Du kannst nicht von mir verlangen«, sagte ich, »daß ich auf der Stelle einen so wichtigen Entschluß fasse. Willst Du mir eine kleine Bedenkzeit geben?«

»Du bist Dein eigener Herr!« erwiderte er bitter. »Wozu brauchst Du Dir von mir Bedenkzeit zu erbitten? Du kannst Dir so viel Zeit nehmen, wie Du willst, Du kannst thun, was Du Lust hast.«

»Gieb mir Zeit bis Ende der Woche» fuhr ich fort. »Laß mich Gewißheit darüber erlangen, daß mein Vater dabei beharrt, weder Deinen noch meinen Brief zu beantworten. Wenn ich auch mein eigener Herr bin, so kann doch nur sein Schweigen es rechtfertigen, daß ich im Geheimen fortgehe und mich von einem Fremden trauen lasse. Dränge mich nicht, Oscar, es ist nicht mehr lange hin bis zum Ende der Woche.«

Etwas schien ihn zu erschrecken. Vielleicht etwas in meiner Stimme, was ihm zeigte, daß ich mich wirklich unglücklich fühlte. Er warf mir einen raschen Blick zu und sah Thränen in meinen Augen.

»Um Gotteswillen, weine nicht; es soll ja geschehen, was Du wünschtest«, sagte er. »Nimm Dir Zeit. Laß uns vor Ende der Woche nicht weiter darüber reden.«

Er küßte mich in einer hastig aufgeregten Weise und gab mir den Arm, mich wieder nach Hause zu führen.

»Grosse kommt heute«, fuhr er fort, »er darf Dich nicht in Deinem jetzigen Zustande sehen. Du mußt ruhen und wieder Fassung gewinnen. Komm nach Hause!«

Ich ging mit ihm nach Hause und fühlte mich noch so traurig und unglücklich. Meine letzte schwache Hoffnung auf eine Wiederherstellung meines schönen Freundschaftsverhältnisses zu Madame Pratolungo war dahin. Ich kannte sie jetzt in ihrem wahren Wesen als eine Frau, die ich nie hätte kennen lernen sollen und mit der ich nie wieder ein freundliches Wort würde wechseln können. Ich hatte die Freundin verloren, mit der ich einst so glücklich gewesen war und hatte Oscar betrübt und enttäuscht. Noch nie war mir mein Leben so elend und unwürdig erschienen, wie es mir heute auf dem Hafendamm in Ramsgate erschien.

Er verließ mich vor der Thür des Hauses mit einem sanften ermuthigenden Händedruck.

»Ich werde später wieder vorsprechen, sagte er, »und hören, was Grosse von Dir sagt, bevor er nach London zurückkehrt. Jetzt ruhe Dich aus Lucilla, ruhe Dich aus und fasse Dich.«

Plötzlich ertönten hinter uns schwere Fußtritte. Wir kehrten uns Beide um. Die Zeit war rascher verflossen, als wir gedacht hatten. Da stand Herr Grosse, der eben zu Fuß von der Eisenbahnstation kam.

Sein erster Blick auf mich schien ihn zu erschrecken. Seine Augen starrten mich durch seine Brillengläser mit einem Ausdruck der Ueberraschung und der Angst an, den ich früher nie an ihnen bemerkt hatte. Dann wandte er sich mit einem plötzlich verändertem Ausdruck, nach Oscar um, einen Ausdruck, der wie es mir vorkam« Zorn oder Mißtrauen bedeutete. Er sprach kein Wort. Oscar mußte das unheimliche Schweigen brechen und sagte zu Herrn Grosse:

»Ich will Sie und Ihre Patientin jetzt nicht länger stören. Ich werde in einer Stunde wiederkommen.«

»Nein, kommen Sie gefälligst mit mir hinein« junger Herr. Ich habe Ihnen vielleicht etwas zu sagen.« Dabei zog er die Augenbrauen zusammen und deutete mit einer sehr peremtorischen Geberde auf die Hausthür.

Oscar klingelte In demselben Augenblick erschien meine Tante, die unsere Stimmen vor dem Hause gehört hatte, auf dem Balkon über der Thür.

»Guten Morgen« Herr Grosse» sagte sie, »ich hoffe, Sie sind mit Lucilla’s Aussehen zufrieden. Gerade gestern habe ich mich noch dahin ausgesprochen, daß sie ganz wieder hergestellt sei.«

Verdrossen zog Grosse den Hut vor meiner Tante, und sah mich dann wieder so lange und so scharf an, daß es anfing, mich verwirrt zu machen.

»Ich bin nicht der Ansicht Ihrer Tante!« brummte er, aber so, daß ich es deutlich hören konnte, vor sich hin. »Ihre Augen gefallen mir nicht mein Fräulein. Gehen Sie hinein.«

Der Diener stand, unserer wartend, in der geöffneten Thür. Ich ging hinein, ohne ein Wort zu antworten. Grosse wartete, bis auch Oscar vor ihm ins Haus getreten war. Oscar’s Gesicht hatte sich verfinstert. Er sah halb zornig, halb verwirrt aus. Grosse schob ihn mit einer derben Bewegung vor sich her und gab mir den Arm. Ich ging mit ihm hinauf, ohne recht zu wissen, was ich aus dem Allen machen solle.


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