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Mann und Weib



Dreizehtes Kapitel - Blanche

Mrs. Inchbare war die erste Person, die in diese Situation thätig eingriff. Sie rief nach Licht und machte dem Hausmädchen, welches das Licht brachte, die bittersten Vorwürfe darüber, daß sie die Hausthür nicht geschlossen.

»Du kopfloses Ding,« rief die Wirthin ihr entgegen, »der Wind hat die Lichter ausgeblasen!«

Das Mädchen erklärte der Wahrheit vollkommen gemäß, daß die Thür geschlossen sei. Vielleicht würde ein böser Wortwechsel daraus entstanden sein, wenn Blanche nicht Mrs. Inchbare’s Aufmerksamkeit auf sich selbst gelenkt hätte. Das herbeigebrachte Licht zeigte, daß sie, die eben Anne umarmte, ganz durchnäßt war.

Mrs. Inchbare brachte sofort die dringende Frage eines von Blanche vorzunehmenden Kleiderwechsels auf’s Tapet und ließ Anne dadurch Zeit sich einen Augenblick unbemerkt im Zimmer umzusehen. Arnold hatte sich davon gemacht bevor die Lichter angezündet waren und während Blanche’s Aufmerksamkeit von dem durchnäßten Zustand der Kleider in Anspruch genommen war.

»Guter Gott! Ich triefe ja an allen Ecken und Enden und mache Dich, liebe Anne, eben so naß, wie ich es selbst bin; leihe mir etwas trockene Kleidung. Du hast nichts? Mrs. Inchbare, wissen Sie Rath zu schaffen —— was soll ich thun? Mich zu Bett legen, bis meine Kleider getrocknet sind oder ein Anlehen bei Ihrer Garderobe machen, obgleich Sie reichlich anderthalb Kopf größer sind, als ich?«

Mrs. Inchbare ging sofort die besten Kleider ihrer Garderobe herbeizuholen.

Kaum war sie hinaus, als Blanche sich auch ihrerseits im Zimmer umsah. Der Zärtlichkeit war schon ihr Recht geworden, jetzt war die Reihe an der Neugierde.

»Im dunkeln Zimmer ist da Jemand an mir vorübergehuscht, war es Dein Mann? Ich sterbe vor Ungeduld, ihn kennen zu lernen, und beste Anne, wie heißest Du denn jetzt?«

Anne antwortete kalt: »Warte ein wenig, ich kann es Dir jetzt nicht sagen.«

»Fühlst Du Dich unwohl?«

»Ein wenig nervös.«

»Ist irgend etwas Unangenehmes zwischen Dir und meinem Onkel vorgefallen? Er war doch hier?«

»Ja!«

»Hat er Dir meinen Auftrag ausgerichtet?«

»Allerdings Blanche! Und darnach hast Du ihm Dein Wort gegeben, in Windygates zu bleiben. Warum, in’s Himmels Namen, kommst Du jetzt her?«

»Wenn Du mich halb so sehr liebtest wie ich Dich, so würdest Du mich nicht so fragen! Ich habe mir Mühe genug gegeben, mein Versprechen zu halten, aber ich konnte es nicht. Die Vorschrift meines Onkels erschien mir ganz plausibel, als er sie mir gab und so lange Lady Lundie wüthete, die Hunde bellten, die Thüren auf und zugeschlagen wurden, das ganze Haus in Aufruhr war, da hielt mich die Aufregung aufrecht; aber als mein Onkel fort war und der schrecklich trübselige, regnerische Abend herankam und Alles wieder ruhig geworden war, da konnte ich es nicht mehr aushalten; das Haus ohne Dich erschien mir wie ein Grab. Wenn Arnold bei mir gewesen wäre, hätte es gehen mögen, aber ich war ja ganz allein, denke doch, keine Seele mit der ich mich unterhalten konnte; es giebt nichts Schreckliches was Dir hätte begegnen können, wovon ich mir nicht einbildete, daß es Dir wirklich begegnet sei. Ich ging nichts Deinem leeren Zimmer und sah mich darin um; da stand mein Entschluß fest. Ich rannte von einem unwiderstehlichen Impuls getrieben, die Treppen hinunter —— lief in den Stall und fand Jakob dort; ich sagte ihm: »Jacob, spanne den Ponywagen an, ich muß ausfahren, einerlei ob es regnet, Du gehst mit mir.« Jacob benahm sich wie ein Engel; er sagte, »wie Sie befehlen, gnädiges Fräulein!« Ich bin fest überzeugt, so würde er auch antworten, wenn man ihn fragte, ob er für mich sterben wolle. Jetzt trinkt er auf meinen ausdrücklichen Befehl ein Glas Grog um sich vor Erkältung zu schützen. In zwei Minuten war der Ponywagen angespannt und fort ging’s! Lady Lundie lag derweilen, von zu starkem Gebrauch von flüchtigem Salz erschöpft, auf ihrem Sopha ausgestreckt. Ich hasse sie! —— Der Regen wurde immer schlimmer, aber ich kehrte mich nicht daran, so wenig wie Jacob und das Pony; Beide waren von demselben Geiste wie ich, beseelt. Als es zu blitzen und zu donnern anfing, waren wir schon näher an Craig-Fernie als an Windygates, und dazu kam, daß Du hier und nicht dort warst. Die Blitze waren wirklich fürchterlich auf der Haide. Hätte ich eines von den großen Pferden vor dem Wagen gehabt, würde es unfehlbar scheu geworden sein, aber das Pony schüttelte sein allerliebstes Köpfchen und lief ruhig weiter. Es bekommt aber auch jetzt sein Bier dafür, wenn es das getrunken hat, wollen wir uns eine Laterne geben lassen, in den Stall gehen und es liebkosen.« Inzwischen bin ich hier, liebes Kind, durchnäßt von einem fürchterlichen Gewitter, was mir aber ganz einerlei ist, und fest entschlossen, mir selbst Beruhigung über Deinen Zustand zu verschaffen, der mir ganz und gar nicht einerlei ist, und das muß und soll geschehen, ehe ich heute Abend zu Bett gehe.« —— Mit Gewalt drehte sie Anne bei diesen Worten so, daß sie ihr bei dem Schein der Kerzen grade in’s Gesicht sehen konnte. Kaum hatte sie das gethan, als der Ton ihrer Stimme sich änderte: »Ich wußte es!« sagte sie. »Nie hättest Du ein so wichtiges Geheimnis; Deines Lebens vor mir geheim gehalten, nie hättest Du mir einen so kalten Brief geschrieben, wie Du ihn in Deinem Zimmer zurückgelassen hast, wenn Alles bei der Sache in Ordnung gewesen wäre. Das habe ich gleich gesagt und jetzt bin ich fest davon überzeugt. Warum hat Dein Mann Dich gezwungen Windygates Hals über Kopf zu verlassen? Warum huscht er in der Dunkelheit zum Zimmer hinaus, als ob er sich fürchte gesehen zu werden? Anne, Anne! was ist geschehen! Warum empfängst Du mich so?«

In diesem kritischen Moment erschien Mrs. Inchbare wieder mit den ausgewähltesten Kleidungsstücken die ihre Garderobe zu bieten vermochte. Anne war froh über diese Unterbrechung. Sie nahm die Lichter und ging voran in das Schlafzimmer. »Zieh erst Deine nassen Kleider aus, nachher wollen wir weiter reden,« sagte sie. Noch keine zwei Minuten hatte sie die Thür hinter sich geschlossen, als an dieselbe geklopft wurde. Anne gab Mrs. Inchbare einen Wink, sich in ihrer Beschäftigung mit Blanche nicht zu unterbrechen, schlüpfte rasch in’s Wohnzimmer und schloß die Schlafstubenthür hinter sich. Sie fühlte sich unaussprechlich erleichtert, als sie den indiscreten Bishopriggs vor sich sah. »Was wollen Sie?« fragte sie.

Ein Blick aus Bishopriggs Auge genügte, um ihr zu sagen, daß er eine vertrauliche Mission an sie habe. Seine Hand zitterte, sein Athem duftete nach Branntwein. Langsam zog er einen kleinen Streifen Papier mit einigen darauf geschriebenen Zeilen aus der Tasche.

»Von ihm! Sie wissen schon,« erklärte er scherzend; »ein kleines Billetdour von Ihrem Liebsten! Ein arger Sünder Ihr Liebster. Die junge Dame im Schlafzimmer da, ist wohl die, um deretwegen er Ihnen untreu geworden ist. Mir ist die ganze Sache klar, Sie können mir kein X für ein U machen, ich war selbst in jüngeren Jahren ein schwacher Mensch; aber seien Sie ruhig, der Sünder ist wohl aufgehoben, ich habe bestens für seinen Comfort gesorgt. Ich handle väterlich an ihm, gerade wie an Ihnen. Bishopriggs kann man vertrauen, wenn eine kleine menschliche Schwäche ein Bischen geschont sein will!«

Während der Weise diese tröstlichen Worte sprach, las Anne die auf dem Papierstreifen stehenden Zeilen.

Sie waren von Arnold und lauteten so: »Ich bin im Rauchzimmer des Gasthofes, es hängt von Ihnen ab, ob ich dableiben soll; ich glaube nicht, daß Blanche eifersüchtig sein würde, wenn ich ihr meinen Aufenthalt hier im Gasthofe erklären könnte ohne das Vertrauen, das Sie und Geoffrey in mich gesetzt haben, zu verrathen. Wenn es nach mir ginge, würde ich gleich zu ihr gehen. Das Verstecken ist mir fürchterlich, aber doch möchte ich um keinen Preis Ihren Zustand noch schlimmer machen, als er ist. Denken Sie zunächst an sich selbst, ich gebe es Ihnen anheim; Sie brauchen dem Ueberbringer nur zu sagen, »warten« und ich weiß, daß ich hier bleiben soll, bis ich Weiteres von Ihnen höre Anne sah von dem Papier auf.

»Bitten Sie ihn zu warten!« sagte sie, »bis ich ihm etwas Weiteres sagen lasse.«

»Mit den besten Grüßen und Küssen,« fügte Bishopriggs als nothwendigen Commentar der Botschaft hinzu. »O, für einen Mann von meiner Erfahrung ist das ja das einfachste von der Welt. Sie können keinen besseren Vermittler haben, als Ihren ergebenen Diener Sam Bishopriggs. Ich verstehe Sie Beide aus dem Grunde.«

Dabei legte er seinen Zeigefinger an seine feurige Nase und ging davon.

Ohne einen Augenblick länger zu zögern, öffnete Anne die Schlafzimmerthür, fest entschlossen, Arnold aus seiner schrecklichen Lage zu befreien und Blanche die Wahrheit mitzutheilen.

»Bist Du es?« fragte Blanche. Bei dem Ton ihrer Stimme fuhr Anne schuldbewußt zurück. »Ich komme gleich zu Dir,« antwortete sie und schloß die Thür zwischen sich und Blanche aufs neue. Nein! Es ging nicht! Etwas in Blanches gleichgültiger Frage oder vielleicht etwas in Blanches Gesicht wirkte auf Anne wie eine geheimnißvolle Warnung, die sie an der Schwelle ihres Geständnisses zurückhielt. In diesem Augenblick machte sich die eiserne Kette der Verhältnisse wieder fühlbar und Anne blieb bei dem ihr so verhaßten erniedrigenden Betrug. Konnte sie Blanche die Wahrheit über sich und Geoffrey mittheilen? Und wenn sie das nicht that, konnte sie es rechtfertigen, daß Arnold im Geheimen zu ihr nach Craig-Fernie gekommen war? Ein Schuldbekenntniß vor einem unschuldigen Mädchen, die Gefahr, Blanche’s Achtung für Arnold zu erschüttern, ein Scandal im Gasthofe, in den die Anderen mit ihr verwickelt werden würden, —— das war der Preis, um den sie enden mußte, wenn sie ihrem ersten Impulse folgte und geradezu erklärte: »Arnold ist hier!« Das war unmöglich. Blanche durfte, koste es was es wolle, mochte ihr gegenwärtiger Jammer enden wie er wollte, wenn die Täuschung einmal entdeckt werden würde, die Wahrheit nicht erfahren, Arnold mußte versteckt bleiben, bis Blanche fort war. Anne öffnete die Thür zum zweiten Mal und ging wieder in’s Schlafzimmer Blanche hatte bei ihrer Toilette eben eine Pause gemacht und war in einer vertraulichen Unterhaltung mit Mrs. Inchbare begriffen. In dem Augenblick, als Anne eintrat, befragte sie die Wirthin eifrig über den unsichtbaren Gatten ihrer Freundin; sie sagte gerade: »Bitte, sagen Sie mir, wie sieht er aus?«

Die Fähigkeit scharf zu beobachten, ist so ungewöhnlich und selbst da, wo sie vorhanden ist, so selten mit der Gabe verbunden, die beobachteten Personen und Dinge genau zu beschreiben, daß Anne’s Besorgnisse vor den Folgen einer etwaigen Antwort Mrs. Inchbare’s auf Blanches Fragen aller Wahrscheinlichkeit nach sehr grundlos waren. Aber gleichviel, ob mit Recht oder Unrecht, hatte sie nichts Eiligeres zu thun, als die Wirthin auf der Stelle zu entfernen. »Wir dürfen Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Mrs. Inchbare,« sagte sie, »ich will Fräulein Lundie schon behilflich sein« Da Blanche sich auf diese Weise verhindert sah, irgend etwas Näheres von der Wirthin zu erfahren, so wandte sie sich ohne Weiteres wieder an Anne, indem sie sagte:

»Ich muß etwas über ihn erfahren. Ist er schüchtern vor Fremden? Ich hörte wie Du mit ihm drinnen vor der Thür flüstertest. Du fürchtest doch nicht, daß ich es ihm in diesem Anzuge anthun werde?« Blanche, die jetzt Mrs. Inchbare’s beste Gewänder, ein altmodisches seidenes Kleid mit hoher Taille von sogenanntem Flaschengrün, das vorne in die Höhe gesteckt war und hinten weit herabhing, angethan, einen kleinen orangefarbigen Shawl über die Schultern gehängt, und sich ein Handtuch, um ihr naß gewordenes Haar zu trocknen, turbanartig um den Kopf gewunden hatte, war in diesem Aufzuge die sonderbarste und niedlichste Erscheinung die es geben konnte.

»Um des Himmels willen,« sagte sie lustig, »erzähle Deinem Manne nicht, daß ich in Mrs. Inchbare’s Kleidern stecke, ich muß plötzlich vor ihn hintreten, ohne daß er durch ein Wort darauf vorbereitet wäre, was für eine wunderliche Figur ich spiele. Wenn mich doch Arnold so sehen könnte!« Da sah sie im Spiegel, vor den sie sich eben gestellt hatte, Anne’s Antlitz, und fuhr über den Ausdruck desselben entsetzt zusammen. »Was ist Dir?« fragte sie, »Dein Aussehen erschreckt mich!«

Anne begriff, daß den Fragen Blanches ein für allemal ein Ende gemacht werden müsse. So klar sie diese Nothwendigkeit aber auch erkannte, so scheute sie doch davor zurück, Blanche eine Unwahrheit in’s Gesicht zu sagen, während sie es doch unmöglich fand, ihr die Wahrheit zusagen, so lange Arnold Brinkworth mit ihr unter demselben Dache weilte. Ich könnte ihr die Wahrheit schreiben, dachte sie. »Schreiben?« —— Als sie sich das noch einmal fragte, fuhr ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf; sie öffnete die Thür zum Wohnzimmer und trat, von Blanche gefolgt, wieder in dasselbe ein.

»Schon wieder fort?« rief Blanche, indem sie mit dem Ausdruck der Enttäuschung sich in dem leeren Zimmer umsah »Anne! Die ganze Sache kommt mir so sonderbar vor, daß ich Dein Schweigen nicht länger ertragen kann und will. Es ist nicht recht von Dir, mir Dein Vertrauen vorzuenthalten, nachdem wir unser ganzes Leben wie Schwestern mit einander gelebt haben.«

Anne seufzte schwer und küßte Blanche auf die Stirn. »Du sollst Alles wissen, was ich Dir sagen kann und darf!« erwiderte sie sanft. »»Mache mir keine Vorwürfe, die Sache ist peinlicher, als Du glaubst.« Sie trat an den Schreibtisch und überreichte Blanche einen Brief. »Lies das!« sagte sie.

Blanche sah ihren Namen auf der von Anne’s Hand geschriebenen Adresse. »Was bedeutet das?« fragte sie.

»Ich schrieb Dir, nachdem Sir Patrick mich verlassen hatte,« entgegnete Arme. »Meine Absicht war, daß Du meinen Brief morgen bekommen solltest, zeitig genug, um jeder Unvorsichtigkeit vorzubeugen, zu der Dich Deine Angst treiben möchte. Alles, was ich Dir sagen kann, findest Du hier, erspare mir die Qual, es Dir zu sagen; lies es, Blanche!«

Blanche hielt den Brief noch immer uneröffnet in der Hand. »Ein Brief von Dir an mich, wenn wir Beide in demselben Zimmer allein sind? Das ist ja mehr als förmlich, Anne, das ist, als ob wir uns gezankt hätten! Wie kann es Dir eine Qual sein, Dich gegen mich auszusprechen!«

Anne’s Augen senkten sich zu Boden. Zum zweiten Male wies sie auf den Brief.

Blanche erbrach den Brief, überflog rasch die einleitenden Sätze und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den zweiten Theil des Briefes:

»»Und nun, liebste Blanche, erwartest Du, daß ich Dich für die Ueberraschung und die Qual, die ich Dir bereitet habe, dadurch entschädige, daß ich Dir meine Situation offen darlege und Dir alle meine Pläne für die Zukunft mittheile Theuerste Blanche! glaube nicht, daß ich dessen, was Du von meiner Liebe zu erwarten ein Recht hast, uneingedenk bin; glaube nicht, daß sich in meiner Gesinnung gegen Dich irgend etwas geändert hat, glaube nur, daß ich ein sehr unglückliches Weib bin und daß ich mich in einer Lage befinde, die mich gegen meinen eigenen Willen zwingt, über meine Angelegenheiten Schweigen zu beobachten. schweigen selbst gegen Dich, meine geliebte Schwester, die Du mir die Liebste auf der Welt bist. Vielleicht kommt die Zeit, wo ich Dir mein Herz öffnen darf; o, wie mich das beglücken, wie mich das erfreuen würde. Jetzt muß ich schweigen, jetzt müssen wir von einander getrennt bleiben; Gott weiß, was es mich kostet, Dir dieses zu schreiben. Ich gedenke der schönen vergangenen Tage, der Stunden, wo ich Deiner Mutter versprach, Dir eine Schwester zu sein, als ihre lieben Augen mich zum letzten Male ansahen, Deiner Mutter, die der meinigen ein Schutzengel war. Alles das tritt mir in diesem Augenblick vor die Seele und zerreißt mir das Herz, aber es muß sein, meine geliebte Blanche, für jetzt muß es sein. Ich will Dir oft schreiben, ich will Tag und Nacht an Dich denken, mein Engel, bis eine glücklichere Zukunft uns wieder vereinigt. Gott segne Dich, mein geliebtes Kind, und Gott helfe mir!««

Blanche trat schweigend an das Sopha, auf dem Anne saß, und blieb, den Blick auf sie geheftet, einen Augenblick vor ihr stehen, dann setzte sie sich zu ihr und lehnte den Kopf an Anne’s Schulter. Mit bekümmerten Blicken steckte sie den Brief schweigend zu sich, ergriff Anne’s Hand und küßte sie. »Alle meine Fragen sind beantwortet, liebe Schwester, ich will warten, bis Du die Zeit gekommen glaubst.« Sie sprach diese Worte mit dem Ausdruck anspruchloser Einfachheit und echter Herzensgüte.

Anne brach in Thränen aus. —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— ——

Der Regen dauerte noch immer fort, aber das Gewitter verzog sich. Blanche trat an das Fenster und öffnete die Laden, um in die düstere Nacht hinauszusehen. Dann aber kehrte sie plötzlich zu Anne zurück. »Ich sehe Lichter« sagte sie, »die Lichter eines Wagens, die aus der Dunkelheit der Haide emportauchen. Ganz gewiß schicken sie von Windygates aus nach mir. Gehe in’s Schlafzimmer, denn es wäre ja möglich, daß Lady Lundie selbst käme, mich zu holen.« —— Die sonderbaren Umstände hatten dazu geführt, daß die beiden Mädchen völlig die Rollen getauscht hatten. Anne war wie ein Kind in Blanche’s Händen. Sie´erhob sich und ging in’s andere Zimmer.

Als Blanche jetzt allein war, zog sie den Brief wieder hervor und las ihn noch einmal, während sie der Ankunft des Wagens harrte. Die nochmalige Durchlesung des Briefes bestärkte sie in einem Entschluß, den sie vorhin, als sie neben Anne auf dem Sopha gesessen gefaßt hatte, einem Entschluß, der zu viel ernsteren Folgen in der Zukunft führen sollte, als sie ahnen konnte. Sir Patrick war der einzige Mensch, auf dessen Discretion und Erfahrungen sie sich völlig verlassen konnte. Sie beschloß in Anne’s eigenem Interesse, ihren Onkel in’s Vertrauen zu ziehen und ihm Alles zu erzählen, was in dem Gasthof vorgefallen war. Zuerst will ich mir seine Verzeihung erwirken, dachte sie, und dann will ich sehen, ob er meine Meinung theilt. —— Der Wagen fuhr vor und Mrs. Inchbare führte nicht Lady Lundie, sondern Lady Lundie’s Kammerjungfer in’s Zimmer. Der Bericht derselben über das, was in Windygates vorgefallen war, lautete einfach genug. Lady Lundie hatte selbstverständlich Blanches plötzliche Abreise im Ponywagen richtig zu erklären gewußt und hatte sofort ihren eigenen Wagen mit dem festen Entschluß beordert, ihrer Stieftochter selbst nachzufahren, aber die Aufregung und Angst des Tages waren zu viel für sie gewesen. Lady Lundie hatte einen der Schwindelanfälle bekommen, denen sie jeder Zeit nach großer Aufregung unterworfen war, und so gern sie auf mehr als einem Grunde nach dem Gasthof gefahren wäre, sah sie sich doch in Sir Patrick’s Abwesenheit genöthigt, Blanches Verfolgung ihrer Kammerjungfer, deren Alter und Einsicht sie unbedingt vertrauen konnte, zu überlassen. Die Kammerjungfer hatte, in Voraussicht der Wirkungen des Unwetters, aus Blanche’s Toilette, vorsorglicher Weise einen Koffer mit vollständigem Anzug mitgebracht. Während sie denselben für Blanche auspackte, meldete sie in vollkommen ehrerbietigem Tone, daß sie von ihrer Herrin beauftragt sei, nöthigenfalls nach dem Jagdschlosse zu fahren und die Angelegenheit in Sir Patricks Hände zu legen. Nachdem sie ihren Auftrag ausgerichtet hatte, überließ sie es ihrer jungen Herrin, selbst zu bestimmen, ob sie unter den obwaltenden Umständen nach Windygates zurückkehren wolle oder nicht.

Blanche nahm der Kammerjungfer die Kleider ab und ging zu Anne in’s Schlafzimmer, um sich für die Rückfahrt anzukleiden. »Ich muß nach Hause,« sagte sie, »Um eine ordentliche Schelte entgegenzunehmen, aber das bin ich von Lady Lundie schon gewohnt, das macht mir keinen Kummer. Was mich bekümmert bist Du, Anne. Kann ich mich auf Eins verlassen, bleibst Du für jetzt hier?«

Das Schlimmste, was Anne im Gasthofe begegnen, konnte, war geschehen. Durch das Verlassen des Ortes, wohin Geoffrey ihr zu schreiben versprochen hatte, konnte jetzt Nichts gewonnen, aber Alles verloren werden. —— Anne erwiderte, daß sie für’s Erste im Gasthof zu bleiben gedenke.

»Versprichst Du mir zu schreiben?«

»Ja!«

»Kann ich jetzt etwas für Dich thun?«

»In diesem Augenblicke nichts, liebe Blanche, aber später vielleicht.«

»Wenn es Dich verlangt, mich zu sehen, so können wir uns in Windygates treffen, ohne entdeckt zu werden. Komm zur Frühstückszeit, nimm Deinen Weg längs des Gebüsches und tritt durch die Glasthür in die Bibliothek; Du weißt so gut wie ich, daß um diese Zeit Niemand dort ist. Sage nicht, es ist unmöglich, Du kannst nicht wissen, was geschehen kann. Ich werde jeden Tag zehn Minuten auf Dich warten, ob Du nicht vielleicht kommst. Das wäre abgemacht und ebenso, daß Du mir schreibst. Ehe ich fortgehe, liebste Anne, laß uns doch sehen, ob wir noch sonst etwas zu bedenken haben.

Bei diesen Worten schien Anne plötzlich ihre Niedergeschlagenheit abzuschütteln; sie schloß Blanche in ihre Arme und drückte sie mit wilder Heftigkeit an ihre Brust. »Willst Du immer für mich bleiben, was Du jetzt bist? Oder wird eine Zeit kommen, wo Du mich hassen wirst?« Sie verschloß Blanche den Mund mit einem Kusse und drängte sie der Thür zu. »Wir haben glückliche Tage zusammen verlebt!« rief sie, indem sie Blanche mit der Hand zum Abschied winkte. »Laß uns Gott dafür danken und uns um das Andere nicht kümmern!« Sie öffnete die Schlafzimmerthür und rief nach der Kammerjungfer. »Miß Lundie erwartet Sie!« Blanche drückte ihr die Hand und verließ sie.

Anne wartete eine Weile im Schlafzimmer bis sie den Wagen draußen abfahren hörte. Als das Rollen der Räder verklungen war, blieb sie einen Augenblick wieder nachdenklich stehen, raffte sich dann plötzlich auf, eilte in’s Wohnzimmer und klingelte »Ich Verliere den Verstand!« sagte sie zu sich selber, »wenn ich hier allein bleibe.«

Selbst Bishopriggs empfand die Nothwendigkeit zu schweigen, als er auf das Klingeln erschien und vor ihr stand.

»Ich will ihn sprechen, schicken Sie ihn auf der Stelle her!«

Bishopriggs verstand sie und ging wieder hinaus.

Arnold erschien. »Ist sie fort?« waren seine ersten Worte.

»Sie ist fort und wird keinen Verdacht gegen Sie haben, wenn sie Sie wieder steht. Ich habe ihr nichts gesagt, fragen Sie auch nicht nach meinen Gründen.«

»Ich denke gar nicht daran, Sie zu fragen!«

»Seien Sie böse auf mich, wenn Sie wollen!«

»Ich denke nicht daran, böse auf Sie zu sein!« Sein Aussehen und seine Sprache waren die eines ganz veränderten Menschen.

Ruhig setzte er sich an den Tisch, lehnte den Kopf auf die Hand und verharrte schweigend in dieser Stellung.

Anne war ganz erstaunt. Sie trat dicht an ihn heran und sah ihn neugierig an. —— Ein Weib mag durch eigene Bekümmernisse noch so sehr aufgeregt sein, so wird sie doch immer für jeden unvorbereiteten Wechsel in dem Wesen eines Mannes, der sie interessirt, empfänglich bleiben. Der Grund dieser Erscheinung liegt nicht in der Wandelbarkeit weiblicher Stimmungen; sie ist vielmehr auf die edle Selbstverleugnung zurückzuführen, die eine der größten —— und zur Ehre des weiblichen Geschlechter sei es gesagt —— sehr häufig anzutreffenden weiblichen Tugenden ist.

Allmälig nahmen Anne’s Züge den ihnen eigenen sanften weiblichen Ausdruck wieder an; der angeborene Adel ihrer Natur trat hervor, sobald Arnold unbewußt an denselben appellirt hatte. Sie berührte seine Schulter. »Das war hart für Sie!« sagte sie, »und ich verdiene Tadel dafür. Vergeben Sie mir, wenn Sie können, Mr. Brinkworth, es thut mir aufrichtig leid, ich wünsche von ganzem Herzen, ich könnte Sie trösten!«

»Ich danke Ihnen, Miß Silvester; es war in der That keine sehr angenehme Empfindung für mich, mich vor Blanche verstecken zu müssen, als ob ich mich vor ihr fürchte und es hat mich zum ersten Mal in meinem Leben, glaube ich, nachdenklich gemacht; aber gleichviel, es ist jetzt Alles vorbei. Kann ich irgend etwas für Sie thun?«

»Was gedenken Sie diese Nacht zu thun?«

»Wie ich Ihnen schon gesagt habe, ich gedenke das zu thun, was meine Pflicht gegen Geoffrey von mir erheischt. Ich habe ihm versprochen, Sie in Ihren Angelegenheiten hier zu unterstützen und dafür zu sorgen, daß Sie sicher hier bleiben können bis er zurückkommt. Das kann ich nur erreichen, wenn ich den äußeren Anstand beobachte und daher die Nacht hier im Gastzimmer zubringe. Das nächste Mal wenn wir uns wiedersehen, werden die Umstände hoffentlich freundlicher sein, aber ich werde immer mit Vergnügen daran denken, Daß ich mich Ihnen nützlich machen konnte; indessen werde ich morgen früh höchst wahrscheinlich fort sein, ehe Sie aufstehen.«

Anne reichte ihm die Hand zum Abschiede. Was geschehen war konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Die Zeit der Warnungen und Vorstellungen war vorüber. »Sie haben sich keine Undankbare zur Freundin gemacht!« sagte sie, »vielleicht kommt der Tag, wo ich es Ihnen beweisen kann.«

»Hoffentlich nicht, Miß Silvester! Leben Sie wohl und möge es Ihnen gut gehen!«

Sie zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. Arnold verriegelte die Wohnzimmerthür und streckte sich auf dem zum Nachtlager ersehnten Sopha aus.

Ein klarer schöner Morgen folgte auf das Gewitter des vorigen Tages. Arnold war, wie er versprochen hatte fortgegangen, bevor Anne ihr Schlafzimmer verlassen hatte. Im Gasthofe glaubte man, daß wichtige Geschäfte ihn unerwarteter Weise abgerufen hätten. Bishopriggs hatte ein schönes Trinkgeld bekommen und mit Mrs. Inchbare hatte Arnold abgemacht, daß die Zimmer für eine Woche fest gemiethet seien. Mit einer einzigen Ausnahme schien der Gang der Ereignisse jetzt wieder einen ruhigen Verlauf angenommen zu haben. Arnold war auf dem Wege nach seinem Gute, Blanche war wohlbehalten wieder in Windygates angelangt und Anne’s Aufenthalt im Gasthause war für eine Woche gesichert. Die einzige noch schwebende Frage war, was Geoffrey thun würde; das einzige noch dunkle Ereigniß hing davon ab, ob Lord Holchester in London sich von seiner Krankheit erholen oder sterben werde. An und für sich waren die Folgen jeder dieser beiden Fälle einfach genug. Blieb Lord Holchester am Leben, fo würde Geoffrey nach Schottland zurückkehren und sich mit Anne im Geheimen verheirathen; starb Lord Holchester, so konnte Geoffrey Anne kommen lassen und sie öffentlich in London heirathen! Aber konnte man sich auf Geoffrey verlassen? —— Anne trat auf eine vor dem Gasthause befindliche Terrasse; ein kühler Morgenwind wehte sie erfrischend an; große weiße Wolken jagten an der Sonne vorüber durch die Luft dahin; gelbe Lichter und purpurne Schatten lagerten abwechselnd auf der weiten, dunklen Haide. Hoffnung und Furcht wechselten in Annes Gemüth, je nachdem ihr die Zukunft erschien. Allmälich wurde sie es müde, in die verschleierte Zukunft zu dringen, und trat wieder in das Haus. Sie sah nach der Uhr auf dem Vorplatz. Die Stunde, wo der Zug von Perthshire in London eintreffen mußte, war vorüber. Geoffrey und sein Bruder mußten in diesem Augenblick auf dem Wege nach Lord Holchester’s Hause sein.


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