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Namenlos



Viertes Buch.

Zweite Zwischenscene.

Chronik der Ereignisse, aufbewahrt in Haupmann Wragges Bücherfutteral.

I.
(Chronik über October 1846.)

Ich habe mich in den Schooß meiner Familie zurückgezogen. Wir wohnen in dem abgelegenen Dorfe Ruswarp an den Ufern der Esk, ziemlich zwei Meilen landwärts von Whitby. Unsere Wohnungen sind bequem, und wir erfreuen uns außerdem der Wohlthat einer tüchtigen hübschen Wirthin. Mrs. Wragge und Miss Vanstone kamen vor mir hier an in Gemäßheit des Planes, den ich behufs der Bewerkstelligung unseres Rückzugs von York festgestellt hatte. Ich folgte ihnen einen Tag später allein mit dem Gepäck. Als ich den Bahnhof verließ, hatte ich die Genugthuung, den Advocatenschreiber in eifrigem Gespräch mit dem Criminalbeamten, dessen Ankunft ich vorhergesagt hatte, zu sehen. Ich ließ ihn im ruhigen Besitze der Stadt York und der ganzen umliegenden Gegend. Er hat höflich ein Gleiches gethan und uns seinerseits im ruhigen Besitze des Eskthales, dreißig Meilen entfernt von ihm, gelassen.

Merkwürdige Erfolge haben sich sogleich nach meinen ersten Bemühungen zur Ausbildung von Miss Vanstones Bühnentalent ergeben.

Ich habe entdeckt, daß sie ein außerordentliches Talent für Mimik besitzt. Sie hat die Beweglichkeit des Gesichts, die biegsame, modulationsfähige Stimme und die scharfe dramatische Auffassung, welche eine Dame zu Charakterrollen und Verkleidungen auf der Bühne geschickt machen. Alles, was ihr noch fehlt, ist Unterricht und Uebung, um sie ihrer Anlagen vollkommen zu versichern. Die so bei ihr gemachte Erfahrung hat einen Gedanken bei mir wieder lebendig gemacht, welcher mir ursprünglich bei einem der At-home-Vorstellungen [Die At-home-Unterhaltungen spielen in England eine große Rolle. Einerseits sind es Unterhaltungen in Privatgesellschaften, welche von Damen ans der vornehmen Welt in ihren Wohnungen veranstaltet und zu welchen Einladungen mit der Formel:

Mrs. SOUNDSO
at home
Sonnabend, den 24. Mai d. J. 9 Uhr Abends.

versendet werden. Dies at home bedeutet, daß die genannte Dame an dem betreffenden Tage Gesellschaft empfängt. Es wird musiziert, getanzt conversirt, es werden Charaden, Sprichwörter, lebende Bilder aufgeführt u. s. w. Manchmal wird Dies auf den Einladungskarten auch noch besonders namhaft gemacht. Anderer Art sind die At-home-Abende einzelner Schauspieler, welche in neuerer Zeit beliebt geworden sind. Zeigt ein Künstler oder eine Künstlerin ein solches »at Home« mit oder ohne Programm in den Zeitungen an, so heißt Das, das Publicum wird eingeladen, sich von dem betreffenden Künstler für einen ganzen Abend durch dramatische Soloscenen und vielleicht mit genauer Einhaltung der dreifachen aristotelischen Einheit unterhalten zu lassen. Die Scenen bestehen meist ans Nachahmungen berühmter Persönlichkeiten, auch wohl Nachahmungen anderer, und zwar bekannter Schauspieler von den großen Bühnen Londons, Nachahmungen fremder Nationalitäten, Nachahmungen schottischer und irischer Volkstypen. Man sieht immer einen und denselben Künstler aus der Bühne, der nur auf Augenblicke verschwindet, um die nöthigen Kostümwechsel zu vollbringen. Die Pausen werden mit Orchestermusik ausgefüllt, die eingelegten Gesänge mit selbiger begleitet. Es gibt Saisons in London, wo gleichzeitig fünf bis sechs Künstler in diesem Genre Vorstellungen geben. Ein Künstler nannte diese dramatischen Kunststücke sein Portefeuille. W.]

des verstorbenen unnachahmlichen Schauspielers Charles Mathews aufstieg. Ich war Weinhändler in damaliger Zeit, wie ich mich erinnere. Wir ahmten die Weinerzeugung der Natur in einer Hinterküche zu Brompton nach und brachten einen Tischwein zu Stande, einen blassen und merkwürdigen Sherry, tonischen Charakters, rund auf der Zunge, beliebt beim Hofe von Spanien, für neunzehn und ein halb Schilling das Dutzend, Flaschen mitgerechnet; siehe Prospekt aus jener Zeit. Der Gewinn war für mich und meine Theilnehmer nur gering, wir waren dem Geschmack der Zeit zu weit voraus und bei dem Flaschenhändler zu weit im Rückstande. Indem ich aus Mangel an Geld zugleich mit meinem Witz zu Ende war und sah, welche vollen Häuser Mathews machte, kam mir der Gedanke, eine mimische Nachahmung des großen Mimen selbst loszulassen, und zwar in Gestalt von At-home-Scenen, gespielt von einer Dame. Das einzige geringfügige Hinderniß war und blieb nur, eben die Dame zu finden. Von dieser Zeit bis jetzt habe ich vergebens darnach gesucht. Endlich habe ich die rechte Person aufgetrieben, ich habe nunmehr die Dame gefunden. Miss Vanftone besitzt Jugend und Schönheit in eben dem Maße, als Talent. Lehre ihr die Kunst der dramatischen Maske, Wragge, versieht, sie mit den geeigneten Anzügen für verschiedene Charaktere, entwickele ihre Anlagen für Gesang und Spiel, lege ihr eine Menge gescheidtes Zeug in den Mund, damit sie zum Publicum reden kann; kündige an »eine At-home-Vorstellung von einer jungen Dame«; verblüffe das Publikum durch eine dramatische Unterhaltung, welche Von Anfang bis zuletzt lediglich das Werk jener jungen Dame und von deren Gewandtheit ist; nimm die Anordnung der Sache ganz in Deine Hände: und was folgt als nothwendige Consequenz? Ruhm für meine schöne Anverwandte und ein Vermögen für mich selbst.

Ich theilte diese Betrachtungen so offen wie gewöhnlich Miss Vanstone mit, indem ich mich erbot, den Monolog zu schreiben, das ganze Geschäft in die Hände zu nehmen und den Gewinn zu theilen. Ich vergaß keineswegs meiner Sache dadurch Nachdruck zu verleihen, daß ich sie von den eifersüchtigen Ränken unterrichtete, denen sie begegnen würde, und von den Hindernissen, mit denen sie, wenn sie zum Theater ginge, zu schaffen bekommen werde, sprach. Und ich spielte endlich damit den Trumpf aus, daß ich auf die geheimen Nachforschungen welche ihr am Herzen liegen, und auf die persönliche Unabhängigkeit anspielte, welche sie sich zu erwerben sucht, bevor sie nach ihren Ermittelungen zu handeln beginnt.

—— Wenn Sie zur Bühne gehen, sagte ich, werden Ihre Dienste von einem Theaterunternehmer um Geld erkauft werden, und er wird auf seinen Ansprüchen bestehen, gerade wenn Sie von ihm frei sein müßten. Wenn Sie aber im Gegentheil meinen Plänen sich anschließen, so werden Sie Ihr eigener Herr sein und Ihr eigener Director, und Sie können Ihre Laufbahn machen, wie Sie wollen.

Diese letzte Erwägung schien sie zu packen. Sie nahm sich einen Tag Bedenkzeit, und als der Tag um war, gab sie ihre Einwilligung.

Ich hatte die ganze Verhandlung sofort schwarz auf weiß gebucht. Unser Uebereinkommen ist äußerst befriedigend, außer in einem einzigen Puncte. Sie zeigt ein krankhaftes Mißtrauen, ihren Namen unter irgend eine ihr vorgelegte Urkunde zu setzen. Sie sagt rund heraus, daß sie keine Urkunde unterzeichnen möge. So weit es in ihrem Interesse ist, sie mit Geldmitteln für die Zukunft zu versehen, verpflichtet sie sich mündlich, fortzufahren. Wenn es aber aufhört, in ihrem Interesse zu sein, so spricht sie offen die Drohung aus, den Vertrag zu kündigen und eine Woche darauf fortzugehen. Sie ist ein schwer zu befriedigendes Mädchen, sie hat bereits richtig herausgefühlt, welchen Werth sie für mich hat. Ein süßer Trost ist mir geblieben: ich habe die Buchführung über die Einnahmen, und da will ich denn schon dafür sorgen, daß meine schöne Base nicht allzu rasch reich werden soll, so weit ich es nämlich hindern kann.

Meine Bemühungen, Miss Vanstone für den bevorstehenden dramatischen Versuch vorzubereiten, unterstützte ich durch zwei anonyme Briefe, welche ich im Interesse der jungen Dame abfaßte und versandte. Da ich nämlich merkte, daß sie sich zu viel Gedanken machte, wie sie mit ihren Freunden aufs Reine käme, und daher meinem Unterricht nicht ihre ganze Aufmerksamkeit mehr schenkte, schrieb ich anonym an den Rechtsanwalt, der die Nachforschung nach ihr in seinen Händen hat, und ersuchte ihn in höflichen Worten, sich nicht weiter zu bemühen. Den Brief schickte ich im Einschluß an einen meiner Freunde in London mit der Weisung, ihn zu Charingcroß aufzugeben. Eine Woche später schickte ich durch denselben Canal einen zweiten Brief, in welchem ich den Adoocaten ersuchte, mich schriftlich in Kenntniß zu setzen, ob er und seine Clienten sich entschlossen hätten, meinem Rathe zu folgen oder nicht. Ich wies ihn mit scherzhafter Anspielung auf den Widerstreit der zwischen uns obschwebenden Interessen an, seinem Briefe folgende Aufschrift zu geben:

Wir Du mir, so ich Dir, Postamt, West Strand.

In wenigen Tagen langte die Antwort an, und zwar in Folge einer Verabredung mit meinem Freunde in London heimlich an das Postamt zu Whitby expediert.

Die Erwiderung des Advocaten war kurz und bestimmt.

Mein Herr!

Wenn mein Rath befolgt worden wäre, so würden Sie und Ihr anonymer Brief mit der Verachtung, welche Sie verdienen, behandelt worden sein. Allein die Wünsche von Miss Magdalene Vanstones ältester Schwester haben ein Anrecht darauf, von mir berücksichtigt zu werden, das ich nicht bestreiten kann, und auf Ihr Ersuchen benachrichtige ich Sie, daß alle weiteren Maßregeln von meiner Seite zurückgenommen sind, unter dem ausdrücklichen Bedingniß, daß dies Zugeständniß zur Eröffnung eines Briefwechsels wenigstens zwischen den beiden Schwestern führt. Ein Brief von der älteren Miss Vanstone folgt im Einschlusse. Wenn ich binnen einer Woche nicht höre, daß er richtig in Empfang genommen worden ist, werde ich die Sache noch einmal den Händen der Polizei übergeben.

William Pendril.

Ein gestrenger Mann, dieser William Pendril. Ich kann von ihm nur sagen, was ein hochgestellter Edelmann einmal von seinem Diener sagte:

—— Ich möchte ein solches Temperament, wie es der Bursche hat, nicht haben um alle Schätze dieser Welt!

Wie sichs von selbst versteht, sah ich erst in den Brief, den der Rechtsanwalt im Einschluß beigelegt hatte, bevor ich ihn abgab. Miss Vanstone die Aeltere schilderte die unsägliche Beunruhigung, welche sie empfinde, weil sie ohne Nachricht von ihrer Schwester sei, zeigte an, daß sie eine Stelle als Erzieherin einer Familie angenommen habe und daß sie dieselbe schon binnen acht Tagen antreten werde. Sie sehne sich daher nach einem Briefe, der sie trösten solle, bevor sie an das schwere Werk, die Uebernahme ihrer neuen Pflichten, herangehe. Als ich das Couvert wieder zugemacht hatte, begleitete ich die Uebergabe des Briefes an Miss Vanstone die Jüngere mit einer Verwahrung.

—— Sind Sie Ihrer Standhaftigkeit jetzt mehr sicher, als damals, wo ich Sie zuerst traf? sagte ich.

Schnell fertig war sie mit der Antwort:

—— Hauptmann Wragge, als Sie mich auf dem Walle von York trafen, war ich noch nicht so weit gegangen, daß ich nicht mehr zurück gekonnt hätte. Jetzt bin ich so weit gegangen.

Wenn sie Das wirklich fühlt —— und ich glaube, sie fühlt es selbst —— so kann der Briefwechsel mit der Schwester Nichts schaden. Sie schrieb noch denselben Tag äußerst ausführlich, weinte unendlich über ihren eigenen Schreibebrief und war den Abend merkwürdig übler Laune und schroff gegen mich. Sie hat keine Erfahrungen, das arme Mädchen, sie hat traurig wenig Erfahrung von der Welt. Wie tröstlich zu wissen, daß ich gerade der Mann bin, sie damit auszustatten!



Kapiteltrenner

II.
(Chronik über November.)

Wir haben uns in Derby eingerichtet. Die dramatische Unterhaltung ist zu Papier gebracht, und die Proben nehmen ihren stetigen Fortgang. Alle Schwierigkeiten sind beseitigt, nur nicht die ewige Schwierigkeit rücksichtlich des Geldpunctes Miss Vanstones Hilfsquellen reichen wohl ganz gut für Unsere persönlichen Bedürfnisse aus, die Miethe eines Pianoforte zur Uebung und den Ankauf und die Fertigung der nöthigen Kleider eingerechnet. Aber die Unkosten, um die Unterhaltung ins Werk zu setzen, übersteigen die Mittel, die wir besitzen. Ein Freund von mir, der beim Theater ist und den ich für unser Unternehmen zu interessieren gehofft hatte, ist, wie es sich leider herausstellt, selbst in einer Krisis in seiner Laufbahn. Das Feld des menschlichen Mitleids, aus dem ich hätte die nöthige Geldernte ziehen können, ist mir verschlossen, da es an Zeit fehlt, es zu bestellen und zu behalten. Ich sehe, es bleibt kein ander Mittel übrig —— wenn wir bis Weihnachten zu Rande sein wollen —— als einen von den Musikhändlern hier anzugehen, welcher, wie man sagt, ein speculativer Mann ist. Eine Privatprobe in dieser Wohnung, und ein Gewinn, der die Taschen eines habgierigen Dritten füllen wird, das sind die Opfer, welche die grausame Nothwendigkeit mir bei diesem Werke auferlegt. Gut. Es ist noch ein Trost wenigstens dabei. Ich will den Musicalienhändler prellen.



Kapiteltrenner

III.
(Chronik über Dezember Erste Hälfte.)

Der Musicalienhändler nöthigt mir unwillkürlich meine Achtung ab. Von den menschlichen Wesen, die mir im Laufe meines Lebens aufgestoßen sind, ist er einer der Wenigen, die sich nicht prellen lassen. Er hat sich unsere hilflose Lage ganz meisterhaft zu nutze gemacht und uns für Aufführungen zu Derby und Nottingham mit gewinnsüchtiger Rücksichtslosigkeit gegen alle Interessen außer seinem eigenen solche Bedingungen auferlegt, daß ich, so eifrig und gern ich auch Alles schwarz auf weiß zu Papier zu bringen pflege, es in der That nicht über mich gewinnen kann, den schnöden Gewinn desselben aufzuzeichnen. Es ist unnöthig zu sagen, daß ich mein Bestes gethan habe, indem ich mit meiner schönen Verwandten den ärmlichen Ueberschuß, der uns blieb, theilte. Das Blättchen wird sich schon ein Mal für uns wenden. Mittlerweile bedaure ich aufrichtig, den Musicalienhändler des Orts nicht früher gekannt zu haben. ——

Was meine Person anbetrifft, so habe ich keine Ursache, über Miss Vanstone Klage zu führen. Wir haben die Einrichtung getroffen, daß sie ihren Freunden regelmäßig ihre Adresse poste restante angibt, sobald wir den Ort wechseln. Außerdem, daß sie auf diese Weise mit ihrer Schwester in Briefwechsel steht, schreibt sie auch an einen gewissen Mr. Clare, der in Somersetshire lebt. Derselbe hat alle zwischen ihr und seinem Sohne gewechselten Briefe zu besorgen. Sorgfältiges Nachspüren hat mich belehrt, daß dieses letztgenannte Individuum jetzt in China ist. Da ich von allem Anfang vermuthet hatte, daß ein Herr im Hintergrunde stehen möchte, so freut es mich höchlich zu wissen, daß sich Selbiger in die weite Nebelferne Asiens verzogen hat. Möge er recht lange dort verweilen!

Die kleine Sorge, einen Namen ausfindig zu machen, unter welchem unsere talentvolle Magdalene auftreten soll, ist auf meine Schultern gelegt worden. Sie ist in Bezug aus diesen Gegenstand vollkommen gleichgültig.

—— Geben Sie mir irgend einen Namen, welchen Sie wollen, sagte sie, ich habe auf einen so viel Recht, wie auf den andern. Machen Sie selbst einen.

Ich habe mich schon bereit erklärt, ihren Wünschen zu genügen. Die Hilfsmittel meiner kaufmännischen Bibliothek enthalten eine Liste von passenden Namen, die man annehmen kann. In fünf Minuten können wir uns einen aussuchen, wenn der bewundernswürdige Geschäftsmensch, der uns jetzt in seinen Händen hat, fertig ist, um seine Ankündigungen loszulassen. In diesem Puncte ist mein Herz leicht genug: alle meine Sorgen betreffen einzig und allein die schöne Debütantin. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß sie Wunder thun wird, wenn sie nur an dem ersten Abend bei sich selber ist. Wenn aber die Briefpost von dem Tage schlimm ausfällt, daß sie nämlich durch einen Brief ihrer Schwester aufgeregt wird, dann zittere ich wegen der Folgen.



Kapiteltrenner

IV.
(Chronik über Dezember Zweite Hälfte.)

Meine reichbegabte Nichte ist zum ersten Male öffentlich aufgetreten und hat den Grundstein unseres künftigen Reichthums gelegt.

An dem ersten Abend war das Publicum zahlreicher, als ich zu hoffen gewagt hatte. Der Reiz der Neuheit einer ganzen »Abendunterhaltung, welche von Anfang bis zu Ende lediglich und allein auf den Leistungen einer jungen Dame ohne weitere Mitwirkung beruht« (siehe die Anzeige) machte die Neugier des Publicums rege, und die Sitze waren recht hübsch besetzt. Das Glück fügte es, daß an dem Tage kein an Miss Vanstone gerichteter Brief kam. Sie war vollständig bei sich, bis sie das erste Kleid anzog und die Klingel für den Beginn der Musik hörte. In diesem kritischen Augenblicke brach sie plötzlich zusammen.

Ich fand sie allein im Wartezimmer, schluchzend und sprechend wie ein Kind.

-- Ach, mein armer Vater, mein armer Vater! Ach, mein Gott, wenn er mich jetzt sähe!

Meine Erfahrung in solchen Dingen gab mir sogleich an die Hand, daß hier die Behandlung mit flüchtigem Salz auf der einen und vernünftigem Zureden auf der andern Seite »angezeigt« sei. Im Nu gaben wir ihr die Concertstimmung, entzündeten das Feuer ihrer Augen und regten sie so an, daß die Röthe ihrer Wangen die Schminke blaß erscheinen ließ. Der Vorhang ging in die Höhe, als wir sie in die Rothglühhitze gebracht hatten. Sie griff die Sache so kühn an, genau so, wie sie es in dem hinteren Empfangzimmer im Rosmaringäßchen gemacht hatte. Ihre persönliche Erscheinung erledigte die Frage ihrer Aufnahme beim Publikum sofort und glänzend, noch ehe sie die Lippen geöffnet hatte.

Sie spielte ihre Charakterdarstellungen, ihre Gesangsscenen und ihren Monolog in fieberhafter Eile herunter, machte Versehen zu Dutzenden, hielt aber nicht einen Augenblick inne, sie zu verbessern und riß das Volk mit sich fort in einem wahren Wirbelwind, gar nicht wartend auf den Applaus. Die ganze Geschichte war zwanzig Minuten eher zu Ende, als wir gerechnet hatten. Sie führte es richtig durch bis zu Ende. Aber eine Minute nachdem der Vorhang gefallen war, sank sie auf dem Sopha der Garderobe in Ohnmacht. Der Musicalienhändler hatte vor lauter Erstaunen schier den Verstand verloren, ich hatte keinen Anzug, um darin zu erscheinen: kurz wir mußten den Arzt hinaustreten lassen, um dem Publicum die nöthige Entschuldigung zu machen, das sie herausrief, bis das Haus erdröhnte Ich versah unsern medicinischen Sprecher mit einer hübschen Ansprache hinter dem Vorhange hervor und hörte niemals in meinem Leben solchen Applaus von einem vergleichsweise so kleinen Publikum. Ich fühlte den Tribut, fühlte ihn tief.

Vor fünfzehn Jahren hatte ich mich in derselben Stadt kümmerlich durchgeschlagen als Vorleser der Zeitungen mit erklärenden Randglossen für die Gesellschaft eines Gasthauses. Und jetzt war ich wieder hier, dies Mal aber auf einem »grünen Zweig«.

Es ist unnöthig zu sagen, daß meine erste Maßregel war, den Musicalienhändler sofort bei Seite zu schieben. Er fragte den nächsten Morgen vor ohne Zweifel mit einem liberalen Vorschlage, das Engagement noch über Derby und Nottingham auszudehnen. Meine Nichte wurde verleugnet, sie sei nicht wohl genug, um ihn zu empfangen, und, als er nach mir fragte, wurde er berichtet, ich wäre nicht auf. Ich war gerade dabei, den Fall unserer begabten Magdalene eindringlich vorzustellen Ihre Antwort war im höchsten Grade zufriedenstellend. Sie wollte sich Niemandem auf immer verbindlich machen, am wenigsten gegenüber einem Manne, der ihre und meine Lage zu schmutziger Uebervortheilung mißbraucht hatte. Sie wolle ihr eigener Herr sein und den Gewinn mit mir theilen, so lange sie kein Geld habe und so lange es ihr so gefalle. So weit war Das gut. Allein der Grund, den sie gleich nachher für den schmeichelhaften Vorzug, den sie mir gab, anführte, war weniger nach meinem Geschmacke.

—— Der Musicalienhändler ist mit Nichten der Mann, den ich brauche, um meine Nachforschungen auszuführen, sagte sie. Sie sind der Mann.

Mir will dies zähe Zurückkommen auf jene Nachforschungen so inmitten der ersten Verwirrung ihres Erfolges gar nicht gefallen. Das sieht für die Zukunft verteufelt schlimm aus.



Kapiteltrenner

V.
(Chronik über Januar 1847.)

Sie hat bereits die Teufelskralle gezeigt. Sie fängt an, mir allmählich fürchterlich zu werden.

Nach dem Schlusse des Nottinghamer Engagements, dessen Erfolge denen von Derby wenigstens gleich kamen, wo nicht sie übertrafen, schlug ich vor, die Unterhaltung zunächst in Newark zu veranstalten, da wir sie ganz in die eigenen Hände genommen hatten.

Miss Vanstone hatte Nichts dawider, bis wir auf die Zeitfrage kamen. Da aber setzte sie mich in Staunen durch ihr beharrliches Verlangen von einer Woche Aufschub, ehe sie wieder öffentlich aufträte.

—— Zu welchem denkbaren Zweck denn? frug ich.

—— Zu dem Zweck, um die Nachforschungen zu beginnen, die ich Ihnen bereits zu York erwähnt habe, antwortete sie.

Ich machte ihr nun augenblicklich die durch diesen Aufschub erwachsende Gefahr recht groß vor, indem ich ihr alle möglichen Gegengründe in jeder erdenklichen Form vor die Seele führte. Sie blieb aber fest und unbeweglich. Ich versuchte sie durch die Kostenfrage mürbe zu machen. Sie antwortete mir dadurch, daß sie mir ihren Antheil an den Einnahmen zu Derby und Nottingham einhändigte, und damit waren meine Auslagen in der Weise gedeckt, daß fast zwei Guineen auf den Tag entfielen. Wer hat nur zuerst das Maulthier als lebendiges Beispiel der Halsstarrigkeit hingestellt? Welche geringe Kenntniß vom Weibe muß der Mann gehabt haben!

Hier ließ sich nun Nichts mehr dagegen thun. Ich brachte wie gewöhnlich meine Weisungen schwarz auf weiß zu Papier.

Meine ersten Bemühungen sollten auf die Entdeckung Von Mr. Michael Vanstones Aufenthalt gerichtet sein. Es wurde auch von mir erwartet, daß ich herausbekommen sollte, wie lange er daselbst wohl bleiben werde und ob er Combe-Raven verkauft hätte oder nicht.

Meine nächsten Ermittelungen sollten mich mit seinen Lebensgewohnheiten und seiner Anwendung des Geldes bekannt machen.

Ich sollte mir von seinem engeren Freundeskreise, von seinem gegenwärtigen Verhältnisse zu Mr. Noël Vanstone, seinem Sohne, Kenntniß verschaffen.

Endlich sollten die Nachforschungen damit schließen, ob es vielleicht irgend eine weibliche Anverwandte oder eine andere Frau zur Leitung des Hauswesens in seinem Hause gäbe, die bekanntermaßen Einfluß auf Vater oder Sohn hätte.

Wenn meine lange Uebung in der Bestellung des Feldes der menschlichen Gutmüthigkeit mich nicht an geheime Nachforschungen über die Angelegenheiten anderer Leute gewöhnt hätte, so würde ich wohl manche von diesen Fragen für in der Spanne Zeit von acht Tagen zu schwer zu erledigen gehalten haben. Wie die Sache aber stand, erntete ich den Segen: eigener Erfahrung und brachte die Antworten noch einen Tag früher, als ausgemacht war, nach Nottingham zurück. Sie lauten in regelmäßiger Ordnung zur Bequemlichkeit bei künftigem Gebrauche folgendermaßen:

Ad I. Mr. Michael Vanstone lebt jetzt auf German Place in Brighton und wird wahrscheinlich so lange dort bleiben, als er die Luft sich zuträglich findet. Er traf am letzten September aus der Schweiz in London ein und verkaufte Combe-Raven, wie es stand und lag, sofort nach seiner Ankunft.

Ad II. Seine Lebensgewohnheiten sind verborgen und geheimnißvoll: er macht und empfängt selten Besuche. Sein Geld ist, wie man annimmt, theils in Staatspapieren, theils in Eisenbahnactien, welche die Panic Von achtzehnhundertsechsundvierzig überstanden haben und in ungemein raschem Steigen begriffen sind, angelegt. Seit seiner Ankunft in England hat er auch mit großem Scharfblick im Häuserkauf speculirt. Er besitzt einige Häuser in entlegenen Theilen von London und einige Häuser in gewissen Badeorten an der Ostküste, welche, wie es scheint, immer mehr in Aufnahme kommen. In allen diesen Fällen soll er merkwürdig gute Geschäfte gemacht haben.

Ad III. Es ist nicht leicht zu entdecken, wer eigentlich seine vertrauten Freunde sind. Zwei Namen nur sind bis jetzt ermittelt. Der Erste ist Admiral Bartram, welcher in früherer Zeit Mr. Michael Vanstone freundschaftliche Verpflichtungen schuldig war. Der Zweite ist Wir. George Bartram, Neffe des Admirals, und jetzt im Hause auf German Place für kurze Zeit auf Besuch. Mr. George Bartram ist der Sohn von des verstorbenen Mr. Andreas Vanstones Schwester, die auch gestorben ist. Er ist daher Geschwisterkind mit Mr. Noël Vanstone. Dieser Letztere, nämlich besagter Mr. Noël Vanstone, ist bei vortrefflicher Gesundheit und lebt in einem ausgezeichneten Verhältnisse zu seinem Vater an German Place.

Ad IV. Es gibt keine weibliche Anverwandte in Mr. Michael Vanstones Familienkreise. Allein eine Haushälterin befindet sich dort, welche seit seiner Frau Tode in seinen Diensten gestanden ist und welche dadurch einen starken Einfluß aus Vater und Sohn gewonnen hat. Sie ist aus der Schweiz gebürtig, schon ziemlich in den Jahren und Witwe. Ihr Name ist Mrs. Lecount.

Als ich diese Mittheilungen in Miss Vanstones Hände legte, machte sie keine Bemerkung weiter, als daß sie mir dankte. Ich versuchte, sie zu bewegen, mich ins Vertrauen zu ziehen. Ohne Erfolg. Es kam nur zu einem abermaligen Höflichkeitbeweise, dann sprang sie plötzlich wieder auf einen andern Gegenstand, die dramatische Unterhaltung, über. Auch gut. Wenn sie mir nicht die Aufklärung gibt, die ich brauche, so liegt der Schluß nahe: ich muß mir selber helfen.

Geschäftliche Erörterungen mögen den übrigen Raum dieser Seite einnehmen. Wenden wir uns zum Geschäftlichen zurück.

Stand der Finanzen. Dritte Januarwoche. ___________________________________|_________________________________ Ort der Ausführung: | Aufführungen: Newark. | zwei. ___________________________________|_________________________________ Reineinnahme, | Reineinnahme, schwarz auf weiß. | wirklich in Casse: 25 Pf. St. | 32 Pf. St. 10 Schill. ___________________________________|_________________________________ Gewinnvertheilung,angeblich: | Gewinnverteilung in Wirklichkeit: Miss V. . . . 12 Pf St. 10 Sch. | Miss V. . . . 12 Pf St. 10 Sch. Ich . . . . . 12 = = 10 Sch. | Ich . . . . . 20 = = - Sch. ___________________________________|_________________________________ Privatüberschuß der Woche, | oder auch | selbst zuerkanntes Ehrengeschenk: | 7 Pf. St. 10 Schill. | ___________________________________|_________________________________ Geprüft: | Durchgesehen und für richtig | befunden. H. WRAGGE. | H. WRAGGE.

Das nächste Bollwerk britischer Sympathien, das wir mit Sturm nehmen, ist Sheffield. Wir beginnen in der ersten Woche des Februar.



Kapiteltrenner

VI.
(Chronik über Februar.)

Uebung hat meiner schönen Verwandten die Sicherheit verliehen, welche, wie ich voraussagte, mit der Zeit kommen werde. Ihr Kniff, ihre Person durch die Annahme ganz verschiedener Charaktermasken zu verstellen, verblüfft ihr Publicum dermaßen, daß dieselben Leute zwei Mal hereingehen, um nur herauszubekommen, wie sie es eigentlich anfängt. Es ist ein Fehler des englischen Publicums, nie zu wissen, wenn es etwas Gutes genug gesehen hat, und Das kommt uns zu passe. Man versucht in der That, sie durch Hervorruf zur Wiederholung eines ihrer Charaktere zu bewegen, einer alten nordenglischen Dame, mimische Nachahmung der ehrenwerthen Lehrerin in des seligen Mr. Vanstones Familie, welcher ich mich auf Combe-Raven vorstellte. Gerade diese einzelne Darstellung entzückt die Leute höchlich. Ich finde Das sehr natürlich. Solch eine außerordentliche Darstellung des höhern Alters durch ein Mädchen von neunzehn ist auf der Bühne noch nicht dagewesen, so lange ich in meinen Theatererinnerungen zurückdenken kann.

Ich finde selbst, daß der Ton, in dem ich Dieses niederschreibe, gedrückter ist, als sonst: ich vermisse meine frühere Spannkraft und meinen Humor. Die Sache ist, ich bin wegen der Zukunft arg verstimmt. Auf der Höhe unseres Glückes kommt meine ganz verdrehte Schülerin immer wieder auf ihren leidigen Familienzwist zurück. Ich fühle, daß ich jeden Augenblick in Absicht des Vanstone ein Spielball ihrer Laune werde, wenn es ihr in den Kopf schießt, ich der Baumeister ihres Glückes und ihrer baren Erfolge. Zu kläglich, bei meiner armen Seele, zu kläglich!

Sie hat auf Grund der Nachforschungen die sie mich zu machen nöthigte, bereits gehandelt. Sie hat zwei mal an Mr. Michael Vanstone geschrieben.

Auf den ersten Brief erfolgte keine Antwort. Auf den zweiten erhielt sie eine Rückäußerung Ihre teuflische Schlauheit hinderte mich auf eine ganz unerwartete Weise, denselben aufzufangen. Später am Tage, als sie ihn selbst geöffnet und die Antwort gelesen hatte, legte ich ihr eine neue Schlinge. Das Mittel verfing, aber Nichts weiter. Ich hatte, als sie den Rücken gewendet, eine halbe Minute Zeit, in das Couvert zu schauen. Es enthielt Nichts, als ihren eigenen Brief, der zurückgesendet wurde. —— Sie ist nicht das Mädchen, welches sich eine Beleidigung wie diese ruhig sollte gefallen lassen. Unheil wird daraus kommen. Unheil für Michael Vanstone, was hienieden von keinen Folgen sein würde, Unheil für mich, was eine wahrlich sehr ernste Sache wäre.



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VII.
(Chronik über März.)

Nach den Vorstellungen zu Sheffield und Manchester haben wir uns nach Liverpool, Preston und Lancaster begeben. Wieder eine Veränderung in dieser Windrose von einem Mädchen! Sie hat keine Briefe mehr an Michael Vanstone geschrieben und ist so eifrig darauf versessen, Geld zusammen zu schlagen, als ich selber. Wir haben große Einnahmen, arbeiten uns aber auch zu Tode. Ich sehe diese Veränderung bei ihr nicht gern, sie hat vor, irgendwie zu antworten, sonst würde sie nicht diesen außerordentlichen Eifer zeigen, ihre Börse zu füllen. Nichts, das ich andrehen kann, keine falsche Rechnungsablage, keine mir selbst zuerkannten Ehrengeschenke —— können diese Börse leer machen. Der Erfolg der »Unterhaltung« und ihr eigener Scharfblick für alle ihre Interessen zwingen mich buchstäblich in eine vergleichsweise anständige und ehrliche Handlungsweise hinein. Sie steckt mehr als ein Drittel des Reingewinns in ihre Tasche, trotz aller meiner kühnsten Kunststücke, ihr zuvorzukommen. Und Dies passiert mir in meinem Alter, Dies muß ich erleben nach meiner langen und erfolgreichen Laufbahn als »moralischer« Landwirth und Industrieritter! Zeichen der Bewunderung sind etwas Geringfügiges, aber sie drücken meine Empfindungen aus, und schreibe ich sie denn getrost hin.



Kapiteltrenner

VIII.
(Chronik über April und Mai.)

Wir haben noch sieben große Städte besucht und befinden uns jetzt zu Birmingham. Indem ich meine Bücher befrage, finde ich, daß Miss Vanstone durch die »Unterhaltung« bis jetzt die ungeheure Summe von nahezu vierhundert Pfund eingenommen hat. Es ist wohl möglich, daß mein eigener Gewinn elende ein oder zweihundert Pfund mehr beträgt. Aber dafür bin ich ja der Schmied ihres Glückes, der Verleger sozusagen ihres Werkes und, wenn nur eins davon, dann bin ich schlecht bezahlt.

Ich machte die obige Entdeckung am neunundzwanzigsten des Monats, Jahrestag der Wiedereinsetzung meines königlichen Vorfahren in der Kunst der Bearbeitung des menschlichen Mitleids, Karls des Zweiten. Ich hatte mit genauer Noth mein Bücherfutteral wieder zugemacht, als das undankbare Mädchen, dessen Ruhm mein Werk ist, in das Zimmer kam und mir in eben soviel Worten anzeigte, daß die Geschäftsverbindung zwischen uns vor der Hand zu Ende sei.

Ich versuche nicht, meine Gefühle zu schildern, ich erzähle nur die Thatsachen. Sie eröffnete mir anscheinend mit größter Seelenruhe, daß sie der Rast bedürfe und daß sie »neue Dinge in Aussicht nähme«. Sie würde möglicherweise mich als Beistand dabei brauchen, würde auch möglicherweise wieder auf die »Unterhaltung« zurückkommen. Auf jeden Fall werde es genügen, wenn wir uns gegenseitig unsere Adressen angäben, unter welchen wir uns vorkommenden Falls schreiben könnten. Da sie nicht beabsichtige, mich Knall und Fall zu verlassen, so wolle sie bis nächsten Tag (es war ein Sonntag) bleiben und Montag Morgen zu ihrer Abreise bestimmen. Das war ihre Erklärung, fast in eben soviel Worten.

Gegenvorstellungen wären, Das wußte ich aus Erfahrung, sofort zurückgewiesen worden. Eine Gewalt hatte ich über sie nicht auszuüben. Der einzige Weg, den ich bei diesem Vorkommnisse einzuschlagen hatte, war: ausfindig zu machen, wie ich meinen Vortheil am Besten wahrte; und auf dieser Bahn dann, ohne einen Augenblick durch unnöthiges Zögern zu verlieren, vorzugehen.

Ein klein wenig Nachdenken hat mich dann zu der Ueberzeugung gebracht, daß sie einen tief angelegten Plan gegen Michael Vanstone im Schilde führt. Sie ist jung, hübsch, gewandt und rücksichtslos. Sie hat Geld genug zusammengeschlagen, um davon leben zu können, und hat auch Zeit genug für sich, um die schwache Seite eines alten Mannes ausfindig zu machen. Sie schreitet furchtlos zum Kampfe mit Mr. Michael Vanstone, angethan mit den erlaubten Waffen ihres Geschlechts. Braucht sie wohl mich zu einem Vorhaben wie Dieses? unsicher. Wünscht sie etwa nur, mich auf leichte Weise loszuwerden? Wahrscheinlich. Bin ich ein Mann, der sich von seinem Pflegling so behandeln läßt? Entschieden nein: Ich bin der Mann, den Weg mir vorgezeichnet zu sehen durch eine saubere Aufeinanderfolge von Entweder-Oder, und hier sind Letztere:

Ernstlich. Meine Geneigtheit gegenüber ihrem Vorhaben auszudrücken, Adressen mit ihr zu wechseln und dann insgeheim alle ihre künftigen Schritte im Auge zu behalten.

Zweitens. Zärtliche Besorgniß im Tone des erfahrenen Vaters auszusprechen und ihr zu drohen, ihrer Schwester und dem Advocaten ein Licht aufzustecken und Dieselben herbeizurufen, wenn sie bei ihrer Absicht beharrt.

Drittens. Die Kenntniß, die ich schon besitze, aufs Beste zu verwerthen, indem ich aus ihr ein Geschäftchen zwischen Mr. Michael Vanstone und mir herausschlage.

Für jetzt gefällt mir der letzte von diesen drei Wegen am Besten. Aber mein Entschluß ist viel zu wichtig, als daß ich mich übereilen sollte. Heute ist erst der neunundzwanzigste Ich will meine Chronik der Ereignisse bis Montag aussetzen.

Den 31. Mai.

Meine Entweder-Oder und ihre Pläne, Beides ist um den Haufen geworfen worden.

Die Zeitung kam, wie gewöhnlich, nach dem Frühstück herein. Ich überlas sie und stieß auf diesen merkwürdigen Satz unter den Todesanzeigen des Tages:

Am 29. D. † ZU Brighton MICHAEL VANSTONE, Esq., FRÜHER IN ZÜRICH, 77 JAHRE ALT.

Miss Vanstone war im Zimmer gerade anwesend, als ich diese zwei überraschenden Zeilen las. Sie hatte den Hut auf, ihre Koffer standen gepackt da, sie wartete ungeduldig, bis es Zeit war, an die Eisenbahn zu fahren. Ich überreichte ihr das Papier ohne ein Wort von meiner Seite. Ohne ein Wort von ihrer Seite sah sie dahin, worauf ich zeigte, und las die Nachricht von Michael Vanstones Tode.

Die Zeitung fiel ihr aus der Hand, und sie schlug rasch ihren Schleier herunter. Ich fing noch einen Augenblick auf, ehe sie ihr Angesicht vor mir verbarg. Der Eindruck auf mein Gemüth war im höchsten Grade erschreckend. Um es auf meine gewöhnliche humoristische Weise auszudrücken, ihr Gesicht machte es mir klar, das; die auffallendste, empfindlichste That, welche Michael Vanstone, Esq., früher in Zürich, in seinem Leben vollbracht hatte, die war, welche er zu Brighton am 29. des laufenden Monats vollendet.

Da ich unter den vorliegenden Umständen die Todtenstille im Zimmer recht störend fand, so gedachte ich, eine Bemerkung fallen zu lassen. Meine Achtsamkeit auf das eigene Interesse gab mir sogleich einen Gegenstand an die Hand. Ich erwähnte die »Unterhaltung«.

—— Nach Dem, was vorgefallen ist —— sagte ich, nehme ich an, daß wir mit unseren Vorstellungen nach wie vor fortfahren?

—— Nein, antwortete sie hinter dem Schleier hervor. Wir fahren mit meinen Nachforschungen fort.

—— Nachforschungen über einen Verstorbenen?

—— Nachforschungen über des Verstorbenen Sohn.

—— Mr. Noël Vanstone?

—— Ja, Mr. Noël Vanstone.

Da ich meinerseits keinen Schleier hatte, um mein Gesicht ihren Blicken zu entziehen, so beugte ich mich nieder und hob das Zeitungsblatt auf. Ihre teuflische Entschlossenheit setzte mich für einen Augenblick vollständig außer Fassung. Ich mußte mich in der That erst sammeln, ehe ich wieder mit ihr sprechen konnte.

—— Sind die neuen Nachforschungen so harmloser Art als die alten? frug ich.

—— Ganz ebenso harmlos.

—— Was soll ich nach Ihrem Wunsche heraus zu bekommen suchen?

—— Ich wünsche zu erfahren, ob Mr. Noël Vanstone nach dem Begräbniß noch zu Brighton bleibt.

—— Und wenn nicht?

—— Wenn nicht, werde ich seine neue Adresse, wo er auch immer sich aufhalten möge, wissen müssen.

— Ganz wohl, und was weiter?

—— Ich wünsche, daß Sie dann ermitteln, ob des Vaters ganzes Geld an den Sohn fällt.

Ich fing an zu sehen, wohin sie abzielte. Das Wort Geld war mir eine Ohrenweide, ich fühlte mich ganz wieder in meinem Fahrwasser.

—— Noch etwas Anderes? frug ich.

—— Nur noch Eins, antwortete sie. Bringen Sie zuverlässig heraus, wenn Sie so gut sein wollen, ob Mrs. Lecount, die Haushälterin, in Mr. Noël Vanstones Dienst bleibt oder nicht.

Ihre Stimme modulierte ein wenig, als sie Mrs. Lecounts Name erwähnte. Sie ist augenscheinlich scharfsinnig genug, um bereits Mißtrauen gegen die Haushälterin zu hegen.

—— Meine Auslagen sollen mir wie gewöhnlich bezahlt werden? fragte ich.

—— Wie gewöhnlich.

—— Wann soll ich nach Brighton aufbrechen?

—— So bald Sie nur können.

Sie stand auf und verließ das Zimmer. Nach einem augenblicklichen Zögern entschloß ich mich den neuen Auftrag auszuführen. Je geheimere Nachforschungen ich für meine schöne Anverwandte besorge, desto schwerer soll es ihr werden, los zu werden —— ihren ganz ergebenen Getreuen, Horatio Wragge.

Mein Aufbruch nach Brighton zu morgen läßt sich durch Nichts aufschieben. Also gehe ich morgen. Wenn Mr. Noël Vanstone in seines Vaters Erbe tritt, ist er das einzige menschliche Wesen mit irdischem Goldsegen, welches mir das Gefühl ungetrübten Neides einzuflößen nicht im Stande ist.



Kapiteltrenner

IX.
(Chronik über Juni.)

Den 9.

Ich kam gestern mit meinen eingesogenen Erkundigungen zurück. Hier sind sie, für mich zum Gebrauche in künftiger Zeit niedergeschrieben:

Mr. Noël Vanstone verließ gestern Brighton und zog sich zu dem Zwecke, seine Geschäfte in London treiben zu können, in eines von seines Vaters leerstehenden Häusern aus der Vauxhallpromenade in Lambeth zurück. Diese merkwürdig simple Wahl eines Aufenthaltsortes von Seiten eines reichen Herrn gibt zu der Vermuthung Grund und Anlaß, als ob Mr. N. V. sich nur schwer von seinem Gelde trennen könne.

Mr. Noël Vanstone ist seines Vaters Nachfolger im Besitz unter folgenden Umständen geworden. Mr. Michael Vanstone ist, wie es den Anschein hat, merkwürdig genug gerade wie Mr. Andreas Vanstone gestorben, ohne Testament nämlich, mit dem Unterschiede jedoch, daß der jüngere Bruder einen nicht rechtskräftigen letzten Willen, der ältere Bruder aber gar kein Testament hinterließ. Die hartköpfigsten Männer haben auch ihre schwachen Seiten, und Mr. Michael Vanstones schwache Seite scheint eine unüberwindliche Scheu gewesen zu sein, den Fall seines Todes ins Auge zu fassen. Sein Sohn, seine Haushälterin und sein Advocat hatten alle Drei immer und immer wieder versucht, ihn dazu zu bringen, eine letztwillige Verfügung zu. treffen, hatten aber nimmer seinen hartnäckigen Entschluß zu erschüttern vermocht, die Vollziehung des einzigen geschäftsmäßigen Acts, den er nachweislich in seinem Leben übersehen hatte, hinaus zu schieben. Zwei Aerzte waren bei ihm in seiner letzten Krankheit; sie gaben ihm zu bedenken, daß er zu alt sei, um hoffen zu dürfen, es zu überstehen: Alles vergebens. Er zeigte seinen eigenen bestimmten Entschluß an, nicht sterben zu wollen. Seine letzten Worte auf dieser Welt waren —— ich erfuhr sie von der Amme, welche Mrs. Lecount beistand ——:

—— Ich befinde mich von Minute zu Minute besser; schickt sofort nach dem Wagen und laßt mich ausfahren.

Dieselbe Nacht zeigte es sich, daß »Freund Hein« doch noch hartnäckiger sei, als er, und der Sohn (das einzige Kind) konnte bloß nach dem Laufe des Gesetzes das Besitzthum antreten. Niemand zweifelt, daß das Ergebniß dasselbe gewesen sein würde, wenn ein Testament gemacht worden wäre.

Der Vater und der Sohn hatten Beide volles Vertrauen zu einander, und man wußte, daß sie allezeit auf dem freundlichsten Fuße mit einander gelebt hatten.

Mrs. Lecount bleibt bei Mr. Noël Vanstone in demselben Dienstverhältniß als Haushälterin, in welchem sie schon bei Lebzeiten seines Vaters gestanden hatte, und hat ihn nach seiner neuen Wohnung auf der Vauxhallpromenade begleitet. Es ist bei männiglich ausgemacht und bekannt, daß sie bei der Wendung, welche die Dinge genommen haben, schlecht weggekommen ist. Wenn Mr. Michael Vanstone sein Testament gemacht hätte, so würde sie ohne Zweifel ihr hübsches Vermächtniß erhalten haben. Jetzt ist sie von Mr. Noël Vanstones Dankbarkeit abhängig, und sie sieht keineswegs darnach aus, sollte ich mir denken, als wenn sie diesen Anspruch einschlafen lassen wollte, ohne zu rechter Zeit einen gelinden Rippenstoß zu geben.

Ob die künftigen Pläne meiner schönen Verwandten in dieser Richtung auf Unheil anrichten, oder auf Geld abzielen, ist mehr, als ich zur Zeit zu sagen vermag. Auf jeden Fall glaube ich ihr prophezeien zu können, daß sie ein gewaltiges Hinderniß in Mrs. Lecount zu bekämpfen finden wird.

So viel zu meiner eigenen Wissenschaft von der Sache, wie sie eben gegenwärtig steht. Die Art und Weise, wie diese Ermittelungen von Miss Vanstone aufgenommen wurden, zeugte von dem undankbarsten Mißtrauen gegen mich. Sie vertraute meinem Ohr Nichts, als den Ausdruck ihres besten Dankes. Ein scharfsinniges Mädchen, ein verteufelt scharfsinniges Mädchen. Aber einen Mann foppen ist einmal schon zu viel, zumal wenn der Name dieses Mannes zufällig Wragge ist.

Kein Wort mehr von der »Unterhaltung«, kein Wort mehr davon, ob wir uns von gegenwärtigen Aufenthaltsorte wegbegeben wollten. Sehr gut. Meine rechte Hand verwettet sich, gegen die linke, Zehn gegen Eins darauf, sie wird sich mit dem Sohne in Verbindung setzen, wie sie’s mit dem Vater gemacht hat. Zehn gegen Eins, sie schreibt an Mr. Noël Vanstone, ehe der Monat zu Ende ist.

Den 23.

Sie hat mit der heutigen Post geschrieben. Allem Anscheine nach ein langer Brief, denn sie drückte zwei Marken aufs Couvert (Privatanmerkung für mich selbst: Die Antwort abfangen.)

Den 22., 23., 24.

Privatanmerkung erneuert: Die Antwort abfangen.

Den 25.

Die Antwort ist da. Als früherer Milizsoldat hatte ich natürlich eine Kriegslist »angestrengt«, um den Brief in die Hand zu bekommen. Der Erfolg, welcher alle Ausdauer in pfiffigen Planen belohnt, hat auch mich belohnt, und ich habe also den Brief zu Händen bekommen.

Der Brief ist nicht von Mr. Noël Vanstone, sondern von Mrs. Lecount geschrieben. Sie stellt sich auf den höchst möglichsten moralischen Standpunkt in einem Tone spöttischer Höflichkeit. Mr. Noël Vanstones zarte Gesundheit und neuer Verlust hindern Ihn, selbst zu schreiben. Alle weiteren Briefe von Miss Vanstone werden uneröffnet zurückgesendet werden. Jede persönliche Annäherung wird die sofortige Anrufung des Schutzes der Gerichte zur Folge haben. Mr. Noël Vanstone, welcher von seinem verstorbenen, tief beweinten Vater ausdrücklich vor Miss Madalene Vanstone gewarnt worden sei, habe den Rath seines Vaters noch nicht vergessen. Betrachte es als einen auf das Ehrengedächtniß des besten der Männer geworfenen Schandflecken, wenn man annehmen wollte, daß sein eigenes Verhalten gegen Miss Vanstone ein anderes als dasjenige sein könnte, welches sein Vater befolgt habe. Das sei Dasjenige, was er Mrs. Lecount zu sagen beauftragt habe. Sie selbst habe sich bestrebt, sich in der versöhnlichsten Sprache auszudrücken; sie habe versucht, Miss Vanstone den unnöthigen Schmerz zu ersparen (aus Höflichkeitsrücksichten), sich mit dem Familiennamen angeredet zu sehen. Sie hege die feste Zuversicht, daß diese Zugeständnisse, die für sich selber sprachen, nicht weggeworfen sein würden. (Dies ist der Hauptinhalt des Briefes, und dies sein Schluß.)

Ich ziehe aus dem kleinen Schriftstück zwei Schlüsse. Erstlich, daß Dies zu ernstem Unheil führen wird. Zweitens, daß Mrs. Lecount bei all ihrer Höflichkeit eine gefährliche Person ist, mit der sich schwer umgehen läßt Ich wünschte, ich sähe meinen Weg sicher vorgezeichnet vor mir. Bis jetzt ist Dies nicht der Fall.

Den 29.

Miss Vanstone hat meinen Schutz verlassen, und die ganze gewinnreiche Zukunft der dramatischen Unterhaltung ist daher so gut für mich verloren, als sie selber!

Ich bin beschwindelt ——, ja ich, der letzte Mann unter Gottes Sonne, von welchem es nach menschlichem Denken erwartet werden konnte, daß er auf diese kläglich unliebsame Weise von sich selber schreiben werde —— ich bin beschwindelt.

Die Anzeige ihrer bevorstehenden Abreise wurde mir gestern mitgetheilt. Nach einigen neuen höflichen Redensarten über die ihr zu Brighton verschafften Ermittelungen deutete sie an, daß es nöthig wäre, die Nachforschungen ein wenig weiter fortzusetzen. Ich erbot mich sofort, selbige wie früher zu übernehmen.

—— Nein, sagte sie, dies Mal liegen sie nicht auf Ihrem Wege. Es sind Nachforschungen über ein Weib, und ich bin gewillt, dieselben in Person vorzunehmen.

Indem ich innerlich der Ueberzeugung war, daß dieser neue Entschluß geradewegs auf Mrs. Lecount abzielte, versuchte ich ein paar unschuldige Fragen in dieser Richtung an sie zu richten. Sie lehnte mit aller Seelenruhe ab, mir darauf Rede zu stehen. Ich fragte sodann, wann sie wegzugehen beabsichtige. Sie wollte den Achundzwanzigsten reisen. Nach welchem Bestimmungsorte? —— London. Auf lange? —— Wahrscheinlich nicht. Ganz allein? —— Nein mit mir? —— Nein Mit wem sonst? —— Mit Mrs. Wragge, falls ich nichts dagegen hätte. Guter Gott, zu welchem denkbaren Zwecke? —— Zu dem Zwecke, um eine anständige Wohnung zu finden, was sie kaum auszuführen hoffen konnte, wenn sie nicht von einer älteren Freundin begleitet war. Und sollte ich in meiner Eigenschaft als älterer Freund in dieser Angelegenheit ganz bei Seite gelassen werden? —— Das war zur Stunde unmöglich auszumachen. Sollte ich ihr nicht einmal Briefe übermitteln, welche vielleicht unter unserer jetzigen Adresse an sie kommen könnten? —— Nein. Sie wollte auf der Post schon selber ihre Anordnungen darüber treffen, und sie möchte mich zugleich um eine Adresse ersuchen, unter der ich selber einen Brief von ihr erhalten könnte, falls sich später ein Briefwechsel nöthig machen sollte. Weitere Fragen zu thun, nachdem sie diese letzte Antwort gegeben, wäre nur eine unnütze Zeitverschwendung gewesen. Ich sparte meine Zeit, indem ich keine weiteren Fragen that.

Es war mir klar, daß unsere gegenwärtige Stellung zu einander dieselbe war, wie vor dem Ereigniß von Michael Vanstones Tode. Ich kam wie früher auf meine Wahl der einzuschlagenden Verfahrungsweisen zurück Welchen Weg wiesen mich meine eigenen Interessen? Etwa dahin, der Möglichkeit zu vertrauen, daß sie mich wieder brauchen werde? Oder dahin, ihr mit der Einmischung ihrer Verwandten und Freunde zu drohen? Oder endlich dahin, die Dinge, die ich schon wußte, zu einem einträglichen Geschäft zwischen der reichen Linie der Familie und mir selbst zu verwerthen? Der letzte der drei Wege war derjenige, den ich bereits beim Vater vorgezogen hatte. Ich zog ihn abermals vor beim Sohne.

Der Zug ging ziemlich vier Stunden später nach London ab und führte sie hinweg, begleitet von Mrs. Wragge. Meine Frau ist leider ein zu großer Schwachkopf, als daß sie in der gegenwärtigen Lage irgendwie thätig zu verwenden wäre. Doch wird sie mittelbar von Nutzen sein, dadurch daß sie Miss Vanstone in Verbindung mit mir hält, und in Erwägung dieses Umstandes will ich mich für eine gewisse Zeit dazu verstehen, meine Kleider selbst zu bürsten, mein Kinn selbst zu barbieren und die anderen Unzuträglichkeiten auf mich zu nehmen, welche die eigene Bedienung mir verursachen wird. Alle schwachen Verstandesfunken, welche Mrs. Wragge früher noch stellenweise besessen hat, scheinen schließlich ihr auch noch verloren gegangen zu sein. Als sie die Erlaubniß erhielt, nach London gehen zu dürfen, erfreute sie uns sofort durch zwei Fragen. Könnte sie Etwas im Laden kaufen? Und dürfte sie das Kochbuch zurücklassen? Miss Vanstone sagte Ja zu der einen Frage, und ich sagte Ja zu der andern, und von dem Augenblicke an ist Mrs. Wragge aus dem Lachen nicht herausgekommen. Ich bin noch heiser von der vergeblich wiederholten Anwendung meines mündlichen Anfeuerungsmittels und mußte sie im Eisenbahnwagen zu meinem unsäglichen Verdruß beide Schuhe übergetreten verlassen. Unter gewöhnlichen Umständen würden diese abgeschmackten Einzelheiten sich nicht in meinem Gedächtniß befestigt haben. Allein wie die Sachen jetzt stehen, führt meines unglücklichen Weibes Schwachsinn in seiner gegenwärtigen Lage zu Folgen, die Keines von uns voraussehen kann. Sie ist nicht mehr und nicht weniger, denn ein erwachsenes Kind, und ich kann deutlich bemerken, wie Miss Vanstone ihr gerade aus diesem Grunde mehr vertraut, als sie einem Weibe von klarerm Verstande vertrauen würde. Ich kenne kleine dicke Kinder vielleicht noch besser, als meine schöne Verwandte sie kennt, und ich sage, man nehme sich vor jeder Form der Unschuld bei Menschen in Acht, wenn es darauf ankommt, ein Geheimniß sicher zu bewahren.

Doch kehre ich lieber zu dem Geschäftlichen zurück. Hier bin ich nun zwei Uhr Nachmittag an einem schönen Sommertage ganz allein, um die sicherste Art und Weise, wie ich meinerseits Mr. Noël Vanstone nahe kommen kann, zu überlegen. Meine eigene Ansicht und Vermuthung von seinem knickerigen Charakter entmuthigen mich keineswegs. Ich habe meiner Zeit von Leuten, die ihr Geld gerade ebenso zärtlich liebten wie er, ganz erfreuliche Summen gezogen. Die wirkliche Schwierigkeit, die es zu beseitigen gibt, ist das lebendige Hinderniß, Mrs. Lecount. Wenn ich mich nicht ganz irre, so verdient diese Dame eine ziemlich erstliche Betrachtung von meiner Seite. Ich will für heute meine Chronik schließen und Mrs. Lecount die gebührende Beachtung schenken..

Drei Uhr.

Ich schlage diese Seiten wieder auf, um eine Entdeckung niederzuschreiben, die mich äußerst überrascht hat.

Als ich die letzte Auszeichnung vollendet hatte, kam mir ein Umstand wieder ins Gedächtniß, den ich bemerkt hatte, als ich diesen Morgen die Damen auf die Eisenbahn begleitete. Ich sah nämlich, daß Miss Vanstone nur einen von ihren drei Koffern mit sich genommen hatte, und es fiel mir nun ein, daß eine geheime Durchsuchung des zurückgebliebenen Gepäckes möglicherweise von erwünschtem Erfolge sein könnte. Da ich in gewissen Perioden meines Lebens gewohnt gewesen, mit fremden Schlössern mich bekannt zu machen, so fand ich keine Schwierigkeit dabei, mich mit Miss Vaustones Koffern auf vertrauten Fuß zu setzen. [Der würdige »Hauptmann«, den die Leser bereits als Schwindler, Hochstapler (vornehmer Bettler) und Urkundenfälscher kennen gelernt haben, gibt in diesen Bekenntnissen einer schönen Seele nicht undeutlich zu verstehen, daß er auch in anderer Hinsicht ein ausgemachter Gauner war. Sein letztes Geständniß bringt ihn in die Kategorie der Nachschlüsseldiebe, Makkener wie diese Classe in der deutschen Gaunersprache heißt. Dr. jur. C. B. is. Ave-Lallemant sagt in seinem höchst interessanten Werke »Das Deutsche Gaunerthum Leipzig, 1858.« Bd. 2. S. 154 Folgendes über diese »Künstler«: »Das Makkenen ist der Diebstahl aus Verschlüssen —— ohne Einbruch oder ohne ganze oder theilweise Zerstörung der Verschlüsse —— mit Anwendung von Schlüsseln, welche dem für das Schloß ursprünglich gearbeiteten Schlüssel mehr oder minder vollständig nachgearbeitet sind und daher Nachschlüssel, Diebsschlüssel oder auch Dietrithe enannt werden. Die Kunst des Makkenens hat daher die zwiefache Aufgabe, die Herstellung der Nachschlüssel und die heimliche und gechickte Anwendung der Nachschlüssel. Beide Aufgaben weiß das Gaunerthum vollständig zu lösen. Keine gaunerische Kunst ist verlässiger und ergiebiger, keine hat eine einfachere Basis und eine breitere Cultur als das Makkenen.« (Makkenen kommt aus dem Hebräischen und bedeutet eigentlich das falsche Stechen beim Kartenspiel) W.] Der eine von den beiden bot nichts Interessantes dar. Der andere, welcher zur Aufbewahrung der Theateranzüge, Toilettengegenstände und anderer Requisiten, welche zu der dramatischen Unterhaltung gebraucht wurden, diente, erwies sich eher meiner Aufmerksamkeit werth: denn er führte mich geradewegs zur Entdeckung von einem der Geheimnisse seiner Besitzerin.

Ich fand in dem Koffer alle Anzüge vollzählig vor —— jedoch auffallend mit Ausnahme eines einzigen. Dieser einzige war der Anzug der alten Dame —— aus Nordengland, der Rolle, die ich bereits als die beste von den Darstellung meines Pfleglings namhaft gemacht und als in Stimme und Benehmen von ihrer alten Erzieherin, Miss Garth, entlehnt und »abgenommen« bezeichnet habe. Die Perücke, die Augenbrauen, der Hut mit Schleier, der Mantel inwendig wattirt, um ihren Rücken und die Schultern zu entstellen, die Pflästerchen und die Schminke, um ihr Gesicht alt zu machen und ihre Farbe, zu verändern: Alles war weg. Nur das Kleid war zurückgeblieben, eine Seide mit bunten Blumen, die sich recht gut auf der Bühne machte, aber in Farbe und Muster zu auffallend war, »Um bei Tageslicht eine Besichtigung aushalten zu können. Die anderen Theile des Anzugs sind ruhig genug, um eine Beobachtung zu vertragen, der Hut und der Schleier sind nur altmodisch, und der Mantel ist von einer düstern grauen Farbe. Aber aus einer Entdeckung wie diese läßt sich ein klarer Schluß ziehen. So gewiß ich hier sitze, so gewiß ist sie eben im Begriff, den Krieg gegen Noël Vanstone und Mrs. Lecount unter einer Verkleidung zu eröffnen, die keines von jenen beiden Leuten einen denkbaren Grund haben kann äußerlich zu entdecken: unter der Verkleidung und in der Rolle von Miss Garth.

Welches Verfahren soll ich unter diesen Umständen einschlagen? Da ich ihr Geheimniß heraus habe, was soll ich damit anfangen? Dies sind sehr beachtenswerthe Erwägungen. Ich bin fast in Verlegenheit und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.

Es ist etwas mehr als die bloße Thatsache, daß sie sich gerade so verkleidet, um ihre geheimen Zwecke zu erreichen, —— was mich so in Verwirrung setzt.

Hunderte von Mädchen setzen sich in den Kopf, eine Verkleidung anzunehmen, und hundert Beispiele davon werden Jahr aus Jahr ein in den öffentlichen Blättern mitgetheilt. Allein mein Ex-Pflegling ist nicht einen Augenblick mit den halbschürigen Abenteuerinnen der Zeitungen zu verwechseln. Sie ist im Stande, ein großes Stück über die Grenze hinauszugehen, ja, sich als Mann zu verkleiden und die Stimme und das Benehmen eines Mannes anzunehmen. Sie hat eine angeborene Gabe, Charaktere darzustellen, wie ich bei keinem Weibe gefunden habe, und ist so lange damit-öffentlich aufgetreten, bis sie ihrer eigenen Kraft bewußt geworden ist und ihr Talent für Verkleidungen bis auf den höchsten Grad ausgebildet hat. Ein Mädchen, welches die scharfblickendsten Leute dadurch überrascht, daß es eine solche Eigenschaft, wie die eben erwähnte, dazu in Scene setzt, um seine besonderen Zwecke im Privatleben dadurch zu fördern, und welches diese Eigenschaft durch den Entschluß erhöht, sich den Weg zu seinem Ziele selber zu bahnen, und diesem Entschlusse getreu bis zu dieser Zeit jedes Hinderniß hinweg geräumt hat: Das ist ein Wesen, welches ein Berückungsexperiment versucht, das neu und gefährlich genug ist, um auf diese oder jene Weise zu sehr ernsten Folgen zu führen. Dies ist meine Ueberzeugung, gegründet auf lange Erfahrung in der Kunst, meine Mitmenschen zu täuschen. Ich sage von dem Unternehmen meiner schönen Verwandtin, was ich nicht eher darüber gesagt oder gedacht habe, als bis ich mich selbst mit dem inneren ihres Koffers bekannt gemacht hatte. Die Aussichten, ob sie den Kampf um ihr verlorenes Vermögen gewinnen wird oder nicht, sind nun so gleich abgewogen, daß ich, und wenn es mein Leben kosten sollte, nicht anzugeben vermag, wohin sich die Wagschale neigt. Alles, was ich bestimmt behaupten kann, ist, daß es sich mit verteufelter Gewißheit so oder so entscheiden wird an dem Tage, wo sie in Verkleidung Noël Vanstones Schwelle überschreiten wird.

Welchen Weg zeichnen mir meine Interessen jetzt vor? Auf Ehre, ich weiß es nicht.

Fünf Uhr.

Ich habe einen meisterhaften Vergleich zu Stande gebracht, ich habe mich entschieden nach beiden Seiten hin zu operiren und auf beiden Achseln zu tragen.

Mit heutiger Post habe ich einen anonymen Brief an Mr. Noël Vanstone aufgegeben. Derselbe wird auf dieselbe Weise an seine Bestimmung gelangen, welche ich mit Erfolg gebrauchte, um Mr. Pendril hinters Licht zu führen, und er wird die Vauxhallpromenade zu Lambeth morgen Nachmittags spätestens erreichen.

Der Brief ist kurz und hat folgenden Zweck, Er benachrichtigt Mr. Noël Vanstone in den beunruhigendsten Ausdrücken, daß er dazu ausersehen ist, das Opfer einer Verschwörung zu werden und daß das Haupt derselben eine junge Dame ist, welche bereits mit ihm und seinem Vater in Briefwechsel gestanden. Er bietet ihm den nothwendigen Nachweis an, um sich vollkommen sicher zu stellen unter der Bedingung, daß er den Schreiber schadlos hält für die ernstliche persönliche Gefahr, welche später eine solche Enthüllung für ihn zur Folge haben kann. Und er schließt mit der besonderen Bedingung, daß die Antwort in die »Times« eingerückt, mit der Aufschrift versehen werde: »EIN UNBEKANNTER FREUND« und deutlich angebe, welche Belohnung Mr. Noël Vanstone für den unschätzbaren Dienst auswerfe, welcher ihm geleistet werden solle.

Falls nicht eine unvermuthete Verwickelung eintritt, bringt mich dieser Brief gerade in die Lage, welche einzunehmen gegenwärtig mein Interesse ist. Wenn die Anzeige erscheint und die gebotene Belohnung groß genug ist, um mich zu bestimmen, in Feindeslager überzugehen, so gehe ich über. Erscheint keine Anzeige oder schlägt Mr. Noël Vanstone meinen kostbaren Beistand zu geringfügig an, so bleibe ich hier, warte die Zeit ab, bis meine schöne Verwandte mich wieder braucht oder bis ich mich ihr wieder nöthig mache, was auf Dasselbe hinauskommt. Wenn der anonyme Brief durch einen garstigen Zufall in ihre Hände fällt, so wird sie darin verächtliche Anspielungen auf mich selber finden, welche ich absichtlich eingemischt habe, um sie auf den Gedanken zu bringen, als sei der Schreiber eine von den Personen, welche ich bei der Ausführung jener Nachforschungen in ihrem Interesse zuziehen mußte. Wenn Mrs Lecount die Sache in die Hand nimmt und mir einen Fallstrick legt, so lehne ich ihre verführerische Einladung ab, indem ich mich ganz unbekannt stelle mit der ganzen. Sache, sofort wenn eine andere Person darin auftritt. Laßt das Ende kommen, wie es will, ich bin da, um Gewinn davon zu ziehen; ich bin da, beide Wege ins Auge fassend mit vollkommener Ruhe und Sicherheit, ein »moralischer Landwirth« mit seinen Augen auf zwei Ernten zugleich gerichtet und seine Schwindlersichel in Bereitschaft für jeden Ausfall.

Die nächst kommende Woche wird die Zeitung für mich mehr denn je Interesse haben. Es soll mich verlangen, auf welche Seite ich mich eintretenden Falls schlagen werde.



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