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Ein tiefes Geheimnis



Viertes Kapitel

Im Freien

Der nächste Morgen führte keine Veränderung in dem Entschlusse herbei, zu welchem Onkel Joseph während der Nacht gekommen war. Aus der Verwunderung und Verwirrung, die in seinem Gemüt durch das Geständnis seiner Nichte in Bezug auf den Zweck, der sie nach Cornwall führte, hervorgerufen worden, hatte er wenigstens einen klaren und bestimmten Schluß gezogen, nämlich den, daß sie hartnäckig entschlossen war, sich in eine ungewisse, wo nicht geradezu gefahrvolle Lage zu begeben.

Einmal hiervon überzeugt, gingen seine hilfreichen Gedanken sofort in Tätigkeit über, seine angeborene Festigkeit der Selbstverleugnung behauptete sich und sein Vorsatz, Sara ihre Reise nicht allein machen zu lassen, war hiervon die ganz natürliche Folge.

Dieser Entschluß war gleichsam seine Zuflucht vor dem Zweifel, der Verlegenheit, der Unruhe und den Befürchtungen, welche Saras Aussehen, ihre Sprache und ihre Handlungsweise in ihm erweckt hatten. Stark in der selbstverleugnungsvollen Hochherzigkeit seines Vorsatzes – obschon in nichts anderm – weigerte er sich, als er und seine Nichte am Morgen einander wiedersahen und als Sara mit Selbstvorwürfen von dem Opfer sprach, welches er sich auferlegte, sowie von den ernsten Gefahren, denen er sich um ihretwillen aussetzte, dennoch ebenso hartnäckig, ihr Gehör zu schenken, als er sich schon am Abend vorher geweigert.

Es sei, sagte er, nicht nötig, nur ein Wort weiter über diesen Punkt zu sprechen. Wenn Sara ihre Absicht, nach Porthgenna zu gehen, aufgegeben hätte, so brauchte sie es bloß zu sagen. Wäre dies nicht der Fall, so sei es schade um jedes Wort, denn er wäre gegen alles in Gestalt einer Gegenvorstellung, die sie möglicherweise an ihn richten könnte, auf beiden Ohren taub.

Nachdem er sich auf diese unzweideutige Weise ausgesprochen, war er sofort bemüht, das Gespräch auf ein heiteres, alltägliches Thema zu bringen, indem er seine Nichte fragte, wie sie geschlafen habe.

„Ich war zu unruhig, um zu schlafen“, antwortete sie. „Ich kann meine Befürchtungen und bangen Ahnungen nicht bezwingen, wie manche Menschen es können. Die ganze Nacht hindurch halten sie mich wach und beschäftigen meine Gedanken, als ob es Tag wäre.“

„Worüber hast du denn nachgedacht ?“ fragte Onkel Joseph. „Über den versteckten Brief ? Über das Schloß Porthgenna ? Über das Myrtenzimmer ?“

„Darüber, wie ich in das Myrtenzimmer gelangen soll“, sagte sie. „Je mehr ich darüber nachdenke und mit mir einig zu werden suche, was ich tun soll, desto verworrener und hilfloser scheine ich zu werden. Die ganze vergangene Nacht überlegte ich, unter welchem Vorwand ich in das Schloß Porthgenna hineingelangen könnte und dennoch, wenn ich in diesem Augenblick auf der Schwelle stünde, wüßte ich doch, wenn der Diener mir entgegenträte, nicht was ich sagen sollte. Wie sollen wir hineingelangen ? Wie soll ich mich, selbst wenn wir hineinkommen, unbemerkt nach jenem Zimmer schleichen ? Kannst du mir dies nicht sagen ? Du wirst dich bemühen, Onkel Joseph – ich bin überzeugt, daß du dich bemühen wirst. Hilf mir insoweit und ich glaube, für das Übrige kann ich selbst stehen. Wenn die Schlüssel noch da verwahrt werden, wo sie zu meiner Zeit verwahrt zu werden pflegten, dann brauche ich weiter nichts als zehn Minuten allein zu sein – bloß zehn kurze Minuten, um das Ende meines Lebens leichter zu machen als der Anfang gewesen ist, um ruhig und ergebungsvoll alt zu werden, wenn es Gottes Wille ist, daß ich ein hohes Alter erreichen soll. O, wie glücklich müssen die Menschen sein, welche so viel Mut besitzen als sie brauchen, welche umsichtig und entschlossen sind, ohne jemals die Besonnenheit zu verlieren. Du bist klüger als ich, Onkel; du sagtest gestern Abend, du wolltest dir überlegen, was das Beste wäre – worauf haben deine Gedanken dich zuletzt geführt ? Du wirst mir das Herz viel leichter machen, wenn du mir dies sagen willst.“

Onkel Joseph nickte zustimmend, nahm eine tiefernste Miene an und legte den Zeigefinger an die Nase.

„Was versprach ich dir gestern abend ?“ sagte er. „Versprach ich dir nicht, meine Pfeife zur Hand zu nehmen und mich bei dieser Rats zu erholen ? Wohlan, ich rauchte drei Pfeifen und hatte dabei drei Gedanken. Mein erster Gedanke war – Warten. Mein zweiter Gedanke war wiederum – Warten ! Mein dritter Gedanke war abermals – Warten ! Du sagst, es würde dir leichter ums Herz werden, Sara, wenn ich dir das Ende aller meiner Gedanken sagte. Wohlan, ich habe es dir gesagt. Dies ist das Ende – nun ist dir leichter ums Herz – und alles ist somit in Ordnung.“

„Warten ?“ wiederholte Sara mit einem Blick, welcher eher alles andere verriet als Herzenserleichterung. „Ich fürchte, Onkel, ich verstehe dich nicht ganz. Worauf sollen wir denn warten ? Bis wann sollen wir warten ?“

„Bis wir an Ort und Stelle kommen. Wir wollen warten, bis wir vor der Tür des Schlosses stehen, dann wird immer noch Zeit genug sein zu überlegen, wie wir hineingelangen sollen“, sagte Onkel Joseph mit der Miene der Überzeugung. „Nun, verstehst du mich ?“

„Ja – wenigstens verstehe ich dich besser als vorher. Aber es bleibt auch noch eine andere Schwierigkeit übrig. Onkel, ich muß dir mehr sagen, als ich jemals einem Menschen zu sagen beabsichtigte – ich muß dir sagen, daß der Brief eingeschlossen ist.“

„In ein Zimmer eingeschlossen ?“

„Nicht bloß dies, sondern auch noch in etwas innerhalb des Zimmers. Der Schlüssel, der die Tür – auch wenn ich ihn erlange – der Schlüssel, der die Tür des Zimmers öffnet, ist noch nicht alles, was ich bedarf. Es gibt außerdem noch einen andern Schlüssel, einen kleinen Schlüssel –“

Sara schwieg mit verlegenem, ängstlichen Blick.

„Einen kleinen Schlüssel, den du wohl verloren hast ?“ fragte Onkel Joseph.

„Ich warf ihn an dem Morgen, wo ich aus Porthgenna entfloh, in den Brunnen des Dorfes. O, hätte ich ihn nur behalten ! Hätte ich nur daran gedacht, daß ich ihn vielleicht wieder brauchte !“

„Wohlan, das läßt sich nun weiter nicht ändern. Sage mir, Sara, was ist es für ein Behältnis, in welches der Brief eingeschlossen ist.“

„Ich fürchte, daß die Wände mich hören könnten.“

„Unsinn ! Komm, sage es mir leise.“

Sie sah sich mißtrauisch ringsum und sagte dann dem alten Manne etwas leise ins Ohr. Er horchte aufmerksam und lachte, als sie wieder schwieg.

„Ach bah !“ rief er. „Wenn es weiter nichts ist, dann sei gutes Mutes. Das ist ja, wie ihr ruchlosen Engländer sagt, leicht wie das Lügen. Mein liebes Kind, so etwas kannst du selbst aufsprengen.“

„Aufsprengen ? Wie denn ?“

Onkel Joseph ging an den Fenstersitz, der nach altväterischer Weise nicht bloß als Sitz, sondern auch als Kasten diente. Er öffnete den Deckel, holte einige in dem Behältnis darunter liegende Werkzeuge heraus und wählte von diesen einen Meißel.

„Sieh“, sagte er, indem er an dem Deckel des Fenstersitzes den Gebrauch veranschaulichte, der von dem Werkzeug gemacht werden sollte. „So steckst du ihn in die Fuge – knick ! – dann gibst du ihm einen Druck – so – knack ! Es bedarf eines kurzen Augenblickes – knick ! knack ! und das Schloß ist futsch. Hier nimm den Meißel gleich an dich, wickele ihn in dieses Stück starkes Papier und stecke ihn in die Tasche. Worauf wartest du denn noch ? Soll ich es dir noch einmal zeigen, oder glaubst du es nun zu können ?“

„Ich wünschte, daß du es mir noch einmal zeigtest, Onkel Joseph, aber nicht jetzt, nicht eher als bis wir an das Ende unserer Reise gelangt sind.“

„Gut. Dann kann ich vollends meine Sachen zusammenpacken und den Wagen bestellen. Vor allen Dingen muß Mozart seinen Überrock anziehen und mit uns reisen.“

Er ergriff die Spieluhr und schob sie sorgfältig in ein ledernes Futteral, welches er mittelst eines Riemens über die Schulter hing. „Das nächste ist meine Pfeife, Tabak, um sie zu stopfen, und Zündhölzer, um sie anzubrennen. Den Beschluß macht ein alter deutscher Tornister, den ich vorige Nacht gepackt habe. Sieh, hier ist ein Hemd, eine Nachtmütze, ein Kamm, ein Taschentuch und ein Paar Socken. Und wenn ich ein Kaiser wäre, was brauchte ich mehr als dies? – Also gut. Ich habe Mozart, ich habe die Pfeife, ich habe den Tornister, ich habe – halt! Halt! Der alte lederne Beutel darf auch nicht vergessen werden. Schau, hier ist er. Horch! Tinglingling! Er klimpert – es ist Geld darin. Ach, mein lieber, lederner Freund, du wirst viel leichter und dünner werden, ehe du wieder nach Hause kommst. So, - nun ist alles bereit. Wir sind nun marschfertig vom Kopf bis zum Fuß. Leb wohl auf eine halbe Stunde, Sara; du wirst hier warten und dir die Zeit zu vertreiben suchen, während ich nach dem Wagen gehe.“

Als Onkel Joseph wiederkam, brachte er seiner Nichte die Meldung, daß binnen einer Stunde ein Personenwagen die Stadt passieren würde, mit welchem sie bis zu einer Station gelangen könnten, die höchstens fünf bis sechs Meilen von der regelmäßigen Poststadt von Porthgenna entfernt wäre. Die einzige direkte Fahrgelegenheit nach der Poststadt war eine Nachtkutsche, welche die Briefbeutel beförderte und in Truro zu einer sehr unbequemen Stunde, nämlich zwei Uhr morgens, anhielt, um die Pferde zu wechseln.

Da Onkel Joseph der Meinung war, daß zur Schlafenszeit zu reisen ein Vergnügen in eine Plage verwandeln hieße, so schlug er als das beste vor, in der Tagkutsche Plätze zu nehmen und später einen Wagen zu mieten, um nach der Poststadt von Porthgenna zu gelangen.

Auf diese Weise konnten sie die Reise nicht bloß bequem bei Tage machen, sondern hatten auch noch den Vorteil, daß sie vor Antritt der Reise nach Porthgenna so wenig Zeit als möglich in Truro zu versäumen brauchten.

Der auf diese Weise vorgeschlagene Plan ward auch festgehalten. Als der Personenwagen durchkam, warteten Onkel Joseph und seine Nichte bereits, um einzusteigen. Sie fanden alle Innenplätze frei bis auf einen, stiegen zwei Stunden später an der Station wieder aus, welche dem Orte ihrer Bestimmung am nächsten war, mieteten hier einen Einspänner und erreichten die Poststadt zwischen ein und zwei Uhr nachmittags.

Aus Gründen der Vorsicht, welche Sara geltend machte, entließen sie ihr Fuhrwerk an dem Gasthause und machten sich auf, um zu Fuße über das Moorland nach Porthgenna zu wandern.

Als sie die letzten Häuser der Stadt passierten, begegneten sie dem Postboten, der eben vom Austragen der Briefe in dem umliegenden Distrikt zurückkehrte. Sein Beutel war an diesem Morgen weit schwerer und sein Weg ein weiterer gewesen als gewöhnlich. Unter den Extrabriefen, die ihn über seinen gewohnten Kreis hinausgeführt hatten, befand sich ein an die Haushälterin zu Porthgenna Tower adressierter, den er gleich früh am Morgen, als er seine Runde angetreten, abgegeben hatte.

Während der ganzen Reise hatte Onkel Joseph nicht ein einziges Mal auf den Zweck hingedeutet, wegen dessen sie unternommen worden. Von Natur die Einfälle eines Kindes besitzend, war er auch mit dem elastischen Sinne eines Kindes begabt. Die Zweifel und bangen Ahnungen, welche das Gemüt seiner Nichte trübten und sie schweigsam, nachdenklich und traurig machten, warfen keinen verfinsternden Schatten auf den natürlichen Sonnenschein des seinigen. Wenn er wirklich um seines Vergnügens willen allein gereist wäre, so hätte er sich an den verschiedenen Bildern und Vorfällen der Reise nicht mehr ergötzen können als es der Fall war.

Das Glück, welches die enteilende Minute ihm zu geben hatte, nahm er so bereitwillig und dankbar hin, als ob die Zukunft keine Ungewißheit hätte, als ob nicht Zweifel, Schwierigkeiten oder Gefahren am Ende der Reise seiner harrten.

Ehe er noch eine halbe Stunde im Wagen saß, begann er den dritten Passagier – einer steifen, alten Dame, die ihn mit sprachlosem Erstaunen anstierte – die ganze Geschichte der Spieluhr zu erzählen und schloß seine Geschichte damit, daß er die Uhr trotz des Geräusches, welche sdie Räder des Wagens machten, spielen ließ.

Als er mit seiner Nichte den großen Personenwagen verließ, war er dann mit dem Kutscher der Chaise ebenso gesellig, rühmte die Vorzüge des deutschen Bieres vor dem cornischen Apfelwein und machte seine Bemerkungen über die Gegenstände, an welchen sie unterwegs vorüberkamen, mit der angenehmsten Vertraulichkeit und dem herzlichsten Genuß an seinen eigenen Späßen.

Erst als er und Sara aus der kleinen Stadt hinaus und mit einander allein auf dem großen, sich jenseits derselben hinstreckenden Moorland waren, änderte sich sein Benehmen und sein Geplauder hörte gänzlich auf.

Nachdem er, seine Nichte am Arm führend, eine Zeit lang schweigend marschiert war, blieb er plötzlich stehen, sah ihr innig und freundlich ins Gesicht und legte seine Hand auf die ihrige.

„Noch eins gibt es, was ich dich fragen möchte, Kind“, sagte er. „Die Reise hat es mir aus dem Kopfe kommen lassen, obschon es während der ganzen Zeit von meinem Herzen festgehalten worden ist. Wenn wir dieses Porthgenna wieder verlassen und in mein Haus zurückkehren, nicht wahr, dann gehst du nicht wieder fort? Du verlässt Onkel Joseph nicht abermals? Stehst du noch in Diensten, Sara? Bist du immer noch nicht dein eigener Herr?“66

„Vor einigen Tagen stand ich noch in Diensten“, antwortete sie, „jetzt aber bin ich frei. Ich habe meinen Dienst verloren.“

„So! Du hast deinen Dienst verloren? Warum denn?“

„Weil ich eine unschuldige Person nicht mit Unrecht tadeln hören wollte – weil –“

Sie unterbrach sich. Die wenigen Worte aber, welche sie gesagt, wurden mit so plötzlich erhöhter Farbe, mit so außerordentlichem Nachdruck und in so entschlossenem Tone gesprochen, daß der alte Mann seine Augen so weit als möglich aufriß und seine Nichte mit unverhohlenem Erstaunen betrachtete.

„So! so! so!“ rief er. „Wie? Du hast also einen Streit gehabt, Sara?“

„Still, frage mich jetzt nichts weiter!“ bat sie eindringlich. „Ich bin zu unruhig und aufgeregt, um zu antworten. – Onkel, dies ist das Moorland von Porthgenna – dies ist der Weg, den ich vor sechzehn Jahren zurücklegte, als ich zu dir floh. O laß uns weiter gehen – ich bitte dich, laß uns weiter gehen! Ich kann jetzt an weiter nichts denken als an das Haus, dem wir so nahe sind, und die Gefahr, der wir vielleicht entgegengehen.“

Schweigend gingen sie weiter. Nachdem sie eine halbe Stunde rasch gegangen waren, gelangten sie auf den höchstgelegenen Punkt des Moorlandes, wo die ganze westliche Fernsicht imposant vor ihnen dalag.

Unter sich sahen sie das dunkle, einsame, weitläufige Schloß Porthgenna Tower, während das Sonnenlicht sich schon nach den Fenstern der westlichen Front herumstahl. Der dahinführende Pfad schlängelte sich in blendendweißen Kurven anmutig über den braunen Moor hinweg.

Weiter unten sah man die einsame alte Kirche mit dem friedlichen Begräbnisplatz, der sich an sie anschmiegte. Noch weiter unten zeigten sich die kleinen zerstreuten Dächer der Fischerhütten.

Und jenseits all diesem herrschte die unvergängliche Pracht des Meeres mit seiner weißschäumenden Brandung, mit dem gelben Strande.

Sechzehn lange Jahre – und was für, nach den Pulsschlägen des lebenden Herzens gezählte Jahre des Kummers, des Leidens und der Veränderung – waren über der Totenruhe von Porthgenna hinweggegangen und hatten es ebenso wenig verändert, als wenn sie alle in dem Umkreise eines einzigen Tages enthalten gewesen wären.

Die Augenblicke, wo der Geist in uns am tiefsten aufgeregt ist, sind auch fast unabänderlich die Augenblicke, wo die äußeren Kundgebungen desselben am schwersten zu entdecken sind. Unsere eigenen Gedanken steigen über uns empor, unsere eigenen Gefühle liegen tiefer als wir reichen können. Wie selten können Worte uns helfen, wenn ihre Hilfe am notwendigsten gebraucht wird! Wie oft trocknen unsere Tränen, wenn wir am meisten uns sehnen, daß sie uns das Herz erleichtern möchten. Gab es wohl jemals in dieser Welt eine starke Gemütsbewegung, welche im Stande gewesen wäre, ihre eigene Stärke angemessen auszudrücken? Welche dritte Person, die dem alten Mann und seiner Nichte begegnet wäre, während sie jetzt miteinander auf dem Moorland standen, würde geahnt haben, daß der eine die Landschaft mit weiter nichts als der Neugier eines Fremden, und die andere sie durch die Erinnerungen einer halben Lebenszeit hindurch betrachtete.

Die Augen beider waren trocken. Beide schwiegen und die Gesichter beider waren mit gleicher Aufmerksamkeit der Aussicht zugewendet. Sogar zwischen ihnen selbst bestand keine wirkliche Sympathie, keine verständliche Ansprache von einem Gemüt zum andern. Des alten Mannes ruhige Bewunderung der Aussicht ward, als sie endlich weitergingen und miteinander sprachen, nicht kürzer und bündiger ausgedrückt als die gewohnten zustimmenden Redensarten waren, mit welchen seine Nichte auf das Wenige, was er sagte, antwortete.

Wie viele Augenblicke gibt es in diesem strebsamen Leben, wo bei all unserer gerühmten Macht der Rede unser Wörterbuch uns verräterisch im Stiche läßt und die Blätter desselben uns weiter nichts zeigen als den Anblick einer vollkommen leeren Fläche.

Langsam den Abhang des Moorlandes hinabsteigend, kamen Onkel und Nichte dem Schloß Porthgenna Tower immer näher und näher. Sie waren nur noch etwa eine Viertelstunde davon entfernt, als Sara an einer Stelle stehen blieb, wo ein zweiter Pfad den Hauptfußweg durchschnitt, welchem sie bis jetzt gefolgt waren. Links, wie sie jetzt standen, zog dieser zweite Pfad sich hin, bis er in der Fläche des Moorlandes dem Auge entschwand. Rechts führte er gerade nach der Kirche.

„Warum bleiben wir hier stehen ?“ fragte Onkel Joseph, indem er erst in einer Richtung und dann nach der andern schaute.

„Willst du vielleicht eine kleine Weile hier auf mich warten, Onkel ? Ich kann den Kirchenweg“ – sie stockte, denn sie wußte nicht recht, wie sie sich ausdrücken sollte – „ich kann den Kirchenweg nicht passieren, ohne – da ich ja nicht wissen kann, was geschieht, nachdem wir das Schloß erreicht haben – ich kann diesen Weg nicht passieren, ohne – etwas zu sehen zu wünschen, was –“

Sie stockte wieder und wendete das Gesicht sehnsüchtig nach der Kirche. Die Tränen, welche bei dem ersten Anblick von Porthgenna ihre Augen nicht benetzt hatten, begannen jetzt in dieselben emporzusteigen.

Onkel Josephs natürliches Zartgefühl sagte ihm, daß es am besten sein würde, wenn er sich enthielte, Erklärungen von ihr zu verlangen.

„Gehe, wohin du willst und suche, was du wünschest“, sagte er, indem er sie auf die Schulter klopfte. „Ich werde ein wenig hier bleiben und mir die Zeit mit meiner Pfeife vertreiben, und Mozart soll aus seinem Käfig heraus und ein wenig in dieser schönen frischen Luft singen.“

Mit diesen Worten nahm er den Riemen des Lederfutterals von der Schulter, zog die Spieluhr aus dem Futteral und ließ sie das zweite der beiden Stücken, die sie spielte – das Menuett aus Don Juan – anstimmen. Als Sara fortging, sah er sich sorgfältig nach einer glatten, harten Stelle des Bodens um, nicht um sich, sondern um die Spieluhr darauf zu setzen. Nachdem er eine solche Stelle gefunden, zündete er seine Pfeife an und setzte sich zu seiner Musik und seinem Tabak nieder, wie ein Epikuräer zu einem guten Schmaus.

„Aha !“ rief er bei sich selbst, indem er die fremde Umgebung ringsum so gelassen beschaute, als ob er sich noch in seinem kleinen Ladenstübchen in Truro befände, „aha ! das ist ein schöner großer Konzertsaal, mein Freund Mozart, in dwelchem du dich jetzt hören lässest ! Uff ! Hier ist Wind genug, um deine herrliche Tanzmelodie bis auf das Meer hinaus zu blasen und den Matrosen einen Geschmack davon beizubringen, während sie in ihren Schiffen herumgeworfen werden !“

Sara schritt mittlerweile rasch auf die Kirche zu und trat in die Einhegung des kleinen Begräbnisplatzes. Nach derselben Stelle, nach welcher sie ihre Schritte am Morgen nach dem Tode ihrer Herrin die Schritte gerichtet, wendete sie jetzt, nach einem Zeitraume von sechzehn Jahren, ihr Gesicht wieder. Hier wenigstens hatte der Gang der Zeit seine handgreiflichen Spuren – seine Fußstapfen in Gestalt von Gräbern zurückgelassen. Wie mancher kleiner Platz, der noch leer war, als sie ihn das letzte Mal sah, hatte jetzt seinen Hügel und seinen Denkstein ! Das eine Grab, welches sie zu besuchen kam – das Grab, welches in früheren Tagen abgesondert gelegen – hatte jetzt Nachbarn rechts und links. Sie würde es nicht herausgefunden haben, ohne die verwitterten Flecken auf dem Denksteine, welche von dem Sturme und Regen erzählten, wovon die übrigen bis jetzt unberührt geblieben. Der Hügel war noch erhalten, das Gras aber war lang und nickte ihr einen schauerlichen Gruß zu, während der Wind darüber hinwegfegte.

Sara kniete an dem Steine nieder und versuchte die Inschrift zu lesen. Die schwarze Farbe, welche früher die eingegrabenen Worte sichtbar gemacht, war jetzt vollständig abgeblättert, für jedes andere Auge als das ihrige wäre sogar der Name des Toten schwer zu entziffern gewesen. Sie seufzte schwer, als sie den Buchstaben der Inschrift mechanisch einem nach dem andern mit den Fingern folgte:

Gewidmet dem Andenken an
Hugh Polwheal,
gestorben in seinem 26. Lebensjahre.
Der Tod ereilte ihn
durch den Sturz eines Felsens in
dem Porthgenna-Schacht,
am 17. Dezember 1823.

Ihre Hand weilte auf den Buchstaben, nachdem sie denselben bis zur letzten Zeile gefolgt war, dann bückte sie sich und drückte ihre Lippen auf den Stein.

„Besser so !“ sagte sie bei sich selbst, indem sie sich wieder von den Knien erhob und zum letzten Male auf die Inschrift herabblickte. „Besser, daß sie so verschwindet ! Weniger fremde Augen werden sie dann sehen, weniger fremde Füße werden den meinigen folgen – er wird dann auf seinem Ruheplatze um so ungestörter liegen. Sie trocknete ihre Tränen und pflückte einige Halmen Gras von dem Grabe, dann verließ sie den Kirchhof.

Vor dem Heckenzaune, der den Begräbnisplatz umgab, blieb sie einen Augenblick stehen und zog aus dem Busen ihres Kleides das kleine Gesangbuch, welches sie am Morgen ihrer Flucht von Porthgenna aus dem Schreibepulte in ihrem Schlafzimmer genommen. Die verdorrten Überreste der Halme, welche sie vor sechzehn Jahren von demselben Grabe gepflückt, lagen noch zwischen den Blättern. Sie fügte ihnen das eben gepflückte frische Gras hinzu, steckte das Buch wieder in den Busen ihres Kleides und eilte über das Moorland zurück nach der Stelle, wo der alte Mann auf sie wartete.

„Ein guter Wind“, sagte er, indem er seine flache Hand dem frischen Lufthauch entgegenhielt, der über das Moorland fegte. „Ein sehr guter Wind an und für sich – aber ein bitterböser Wind in Bezug auf Mozart. Er bläst die Melodie hinweg, als wenn es der Hut auf meinem Kopf wäre – du kommst gerade zu rechter Zeit, mein Kind – gerade wo meine Pfeife aus und Mozart bereit ist, die Reise weiter fortzusetzen. Ah, du hast wieder geweint, Sara. Worüber denn? Doch ich sehe schon – je weniger Fragen ich jetzt an dich tue, desto dankbarer wirst du mir dafür sein. Gut, ich bin fertig. Doch nein! Noch eine Frage habe zu tun. Weshalb stehen wir hier? Warum gehen wir nicht weiter?“

„Ja, ja – du hast Recht, Onkel Joseph – laß uns sofort weiter gehen. Ich werde den wenigen Mut, den ich besitze, noch vollends verlieren, wenn wir noch lange hier stehen und das verhängnisvolle Haus ansehen.“

Sie schritten ohne noch einen Augenblick zu zögern den Weg entlang. Als sie das Ende desselben erreicht hatten, standen sie der östlichen Umfassungsmauer von Porthgenna Tower gegenüber. Der Haupteingang, welcher in den letzten Jahren nur sehr selten benutzt worden, besfand sich auf der westlichen Seite und man gelangte zu demselben mittelst der Terrasse, von welcher man die Aussicht auf das Meer hatte. Der kleinere Eingang, welcher gewöhnlich benutzt ward, lag auf der Südseite des Gebäudes und führte durch die Dienerwohnungen nach der großen Halle und der westlichen Treppe.

Saras alte Kenntnis der Lokalitäten leitete sie instinktgemäß nach diesem Teile des Hauses. Sie führte ihren Begleiter weiter, bis sie die Südecke der östlichen Mauer erreichten, dann blieb sie stehen und sah sich um. Seitdem sie dem Postboten begegnet waren und das Moorland betreten, hatten sie kein lebendes Wesen wieder erblickt und dennoch, obschon sie sich jetzt unmittelbar unter den Mauer von Porthgenna befanden, war doch weder Mann, noch Weib, noch Kind, noch auch nur eine Haustür sichtbar.

„Es ist sehr einsam hier“, sagte Sara, indem sie sich mißtrauisch umschaute. „Viel einsamer als es sonst zu sein pflegte.“

„Bleibst du hier bloß stehen, um mir zu sagen, was ich selbst sehen kann?“ fragte Onkel Joseph, dessen eingefleischte Heiterkeit sich selbst in der Einsamkeit der Wüste Sahara nicht verleugnet haben würde.

„Nein, nein!“ antwortete sie rasch und ängstlich flüsternd. „Die Glocke aber, die wir läuten müssen, ist so nahe – gleich um die Ecke herum – und ich möchte wissen, was wir sagen sollen, wenn wir dem Diener gegenüber stehen. Du meintest, es wäre Zeit genug daran zu denken, wenn wir wirklich an der Tür sein würden, Onkel! Wir werden sogleich an der Tür sein. Was sollen wir tun?“

„Das Erste, was wir zu tun haben“, sagte Onkel Joseph, die Achseln zuckend, „ist jedenfalls, die Klingel zu ziehen.“

„Ja – aber wenn der Diener kommt, was sollen wir dann sagen?“

„Sagen?“ wiederholte Onkel Joseph, indem er von der Anstrengung des Denkens grimmig die Augenbrauen runzelte und sich dicht unter dem Hut mit dem Zeigefinger auf die Stirn pochte. „Sagen? – warte, warte, warte, warte! Ah, jetzt hab ich’s! Ich weiß es! – Sei unbesorgt, Sara. In dem Augenblick, wo die Tür sich öffnet, wird die ganze Unterredung mit dem Diener durch mich geführt werden.“

„O, welche Last nimmst du mir vom Herzen! Was wirst du ihm sagen?“

„Sagen? – Weiter nichts als: ‚Wie befindet Ihr Euch? Wir sind da, um das Haus anzusehen.’“

Als er dieses bemerkenswerte Auskunftsmittel um Zutritt zu dem Schlosse Porthgenna Tower zu erlangen, offenbart hatte, breitete er beide Hände fragend aus, trat mehrere Schritte vor seiner Nichte zurück und sah sie mit der heiter selbstvergnügten Miene eines Menschen an, welcher mit einem einzigen Sprunge seines Geistes von einem Zweifel zu einer Entdeckung gelangt ist.

Sara sah ihn erstaunt an. Der Ausdruck dieser unbedingten Überzeugung auf seinem Gesicht machte sie stutzig. Die armseligste aller armseligen Entschuldigungen, um Einlaß in das Haus zu erlangen, welche sie während der vergangenen Nacht selbst ersonnen und wieder verworfen, erschien als ein Muster von Schlauheit im Vergleich mit einem so kindisch einfachen Auskunftsmittel wie das vom Onkel Joseph vorgeschlagene. Und dennoch stand er da, dem Anscheine nach vollkommen überzeugt, daß er das rechte Mittel getroffen, um alle Hindernisse mit einem Male aus dem Wege zu räumen.

Da Sara nicht wußte, was sie sagen wollte und an die Stichhaltigkeit ihrer eigenen Zweifel nicht hinreichend glaubte, um offen eine Meinung nach der einen oder der andern Seite hin auszusprechen, so nahm sie die einzige Zuflucht, die ihr noch offen stand – sie bemühte sich nämlich, Zeit zu gewinnen.

„Es ist sehr, sehr freundlich von dir, Onkel, daß du die Mühe des Sprechens mit dem Diener auf deine Schultern nehmen willst“, sagte sie, während sich die Trostlosigkeit ihres Herzens wider ihren Willen in dem matten Tone ihrer Stimme und in dem verlgenen Ausdruck ihrer Augen verriet. „Aber wollenw ir nicht lieber noch ein wenig warten, ehe wir an der Tür klingeln, und einige Minuten an dieser Mauer auf- und abgehen, wo uns nicht so leicht jemand sehen wird? Ich möchte noch ein wenig Zeit gewinnen, um mich auf die schwere Prüfung vorzubereiten, die ich zu bestehen habe, und – und wenn nun der Diener Schwierigkeiten macht uns einzulassen – ich meine Schwierigkeiten, die wir bis jetzt nicht voraussehen können – wäre es für diesen Fall nicht gut, noch etwas anderes zu ersinnen, was wir sagen wollen? Vielleicht wenn du dir es noch einmal überlegtest –“

„Das ist durchaus nicht nötig“, unterbrach sie Onkel Joseph; „ich brauche bloß mit dem Diener zu sprechen und – knick! Knack! – wirst du sehen, daß wir hineinkommen werden. Indessen, ich will mit dir auf- und abgehen, so lange du wünschest. Wenn auch ich mit meinem Nachdenken in einem einzigen Augenblick fertig geworden bin, so ist dies kein Grund, daß auch du so schnell damit fertig sein sollst. Nein, nein, nein – das ist durchaus kein Grund.“

Indem der alte Mann diese Worte mit gönnerhafter Miene und einem selbstzufriedenem Lächeln sagte, welches unter weniger kritischen Umständen unwiderstehlich komisch gewesen wäre, bot er seiner Nichte wieder den Arm und führte sie den Weg zurück, der an der östlichen Mauer von Porthgenna Tower hinführte.

Während Sara zweifelnd und zögernd draußen wartete, geschah es in Folge eines seltsamen Zusammentreffens, daß eine andere mit der höchsten häuslichen Autorität bekleidete Person innerhalb des Hauses ebenfalls zweifelnd wartete.

Diese Person war keine andere als die Haushälterin von Porthgenna Tower und die Ursache ihrer Verlegenheit war keine andere als der Brief, der an diesem selben Morgen durch den Postboten überbracht worden.

Es war ein Brief von Mistreß Frankland, den sie geschrieben, nachdem sie eine lange Unterredung mit ihrem Gatten und Doktor Orridge gehabt, als sie die letzten Mitteilungen empfangen, welche der Doktor in Bezug auf Mistreß Jazeph zu machen im Stande war.

Die Haushälterin hatte den Brief mehrmals durchgelesen und ihr Erstaunen und ihre Verblüfftheit waren jedesmal höher gestiegen. Sie wartete jetzt auf die Rückkehr des Kastellans Mr. Munder, welcher außerhalb des Hauses beschäftig war, um seine Meinung über die eigentümliche Mitteilung zu hören, welche sie von ihrer Herrin empfangen.

Während Sara und ihr Onkel noch draußen an der östlichen Mauer auf- und abgingen, trat Mr. Munder in das Zimmer der Haushälterin.

Er war einer von jenen langen, ernsten Männern von wohlwollender Miene, mit kegelförmigem Kopf, einer tiefen Stimme, langsamem Gang und schwerfälligem Benehmen, welche in ganz passiver Weise durch ein unerklärliches Verfahren in den Ruf großer Weisheit zu gelangen wissen, ohne daß sie sich die Mühe zu geben brauchen, irgend etwas zu sagen oder zu tun, was diesen Ruf verdiente.

In der ganzen Umgegend von Porthgenna ward der Kastellan allgemein für einen Mann von ganz bemerkenswert gesundem Verstande gehalten, und die Haushälterin teilte, obschon sie in andern Dingen eine sehr gewitzte Frau war, die allgemeine Illusion hinsichtlich dieses einen Punktes in hohem Grade.

„Guten Morgen, Mistreß Pentreath“, sagte Mr. Munder. „Gibt’s etwas Neues heute?“

Welch ein Gewicht und welche Bedeutung gaben seine tiefe Stimme und seine eindrucksvoll langsame Art und Weise, sich derselben zu bedienen, diesen beiden unbedeutenden Redesätzen!

„Es gibt etwas Neues, Mr. Munder ,was Sie in Erstaunen setzen wird“, entgegnete die Haushälterin. „Ich habe heute morgen von Mistreß Frankland einen Brief erhalten, der jedenfalls das Seltsamste ist, was mir in dieser Beziehung vorgekommen. Es wird mir darin gesagt, daß ich den Brief Ihnen mitteilen soll, und ich habe den ganzen Morgen gewartet, Ihre Meinung darüber zu hören. Ich bitte, setzen Sie sich nieder und schenken Sie mir Ihre ganze Aufmerksamkeit, denn ich versichere Ihnen, daß der Brief dieselbe durchaus verlangt.“

Mr. Munder setzte sich und ward sofort die verkörperte Aufmerksamkeit – nicht die gewöhnliche Aufmerksamkeit, welche ermattet werden kann, sondern die richterliche Aufmerksamkeit, welche keine Ermüdung kennt und der Macht der Langeweile ebenso überlegen ist wie der Macht der Zeit.

Die Haushälterin öffnete, ohne weiter die kostbaren Minuten zu vergeuden – denn Mr. Munders Minuten kamen an Wichtigkeit unmittelbar hinter denen eines Premierministers – den Brief ihrer Herrin, widerstand der sehr natürlichen Versuchung, einige einleitende Bemerkungen dazu zu machen, und las dem Kastellan sofort den ersten Satz vor, welcher folgendermaßen lautete:

„Mistreß Pentreath!

Ihr werdet bestimmt schon längst einen Brief von mir erwartet haben, in welchem ich einen Tag für unsere Ankunft bestimme. Bei dieser, der dritten Veranlassung, an Euch in Bezug auf unsere Pläne zu schreiben, wird es, glaube ich, am besten sein, wenn ich nicht zum dritten Male einen Tag bezeichne, sondern sage, daß wir in dem Augenblick, wo ich die Erlaubnis des Arztes erhalte, von West Winston nach Porthgenna abreisen werden.“

„Insoweit“, bemerkte Mistreß Pentreath, indem sie den Brief auf ihren Schoß legte und, während sie sprach, mit fast gereizter Miene glattstrich, „insoweit hat die Sache weiter nichts auf sich. Der Brief scheint mir allerdings – unter uns gesagt – in ziemlich ordinären Ausdrücken geschrieben und viel zu sehr der gewöhnlichen Redeweise ähnlich zu sein, als daß er meiner Idee von dem Briefstile einer vornehmen Dame entsprechen sollte – aber dies ist Sache der persönlichen Ansicht. Ich kann nicht sagen, und würde auch die letzte Person sein, die so etwas behauptete, daß der Anfang von Mistreß Franklands Brief im Ganzen genommen nicht vollkommen klar sei. Es ist vielmehr die Mitte und das Ende, worüber ich Sie, Mr. Munder, zu Rate zu ziehen wünsche.“

„Ganz recht“, sagte Mr. Munder; nur zwei Worte sprach er, aber wie inhaltsschwer!

Die Haushälterin räusperte sich sehr laut und lange und las dann folgendermaßen weiter:

„Der Hauptzweck, weswegen ich diese Zeilen schreibe, ist, um auf Befehl meines Gatten den Wunsch auszusprechen, daß Ihr und Mr. Munder so geheim als möglich zu ermitteln sucht, ob eine Person, welche jetzt in Cornwall reist, und für welche wir uns zufällig sehr interessieren, vielleicht in der Nachbarschaft von Porthgenna gesehen worden ist. Die fragliche Person ist uns unter dem Namen Mistreß Jazeph bekannt. Sie ist eine schon etwas ältliche Frau von ruhigem, gebildetem Benehmen und nervenschwachem, kränklichen Aussehen. Sie kleidet sich, wie wir gesehen haben, außerordentlich sauber und nett und in dunkle Farben. Ihre Augen haben einen eigentümlichen Ausdruck von Schüchternheit, ihre Stimme ist eigentümlich sanft und gedämpft und ihr Benehmen wird sehr oft durch außerordentliches Zögern auffällig. Ich beschreibe sie so ausführlich für den Fall, daß sie nicht unter dem Namen reisen sollte, unter welchem wir sie kennen.

Aus Gründen, die ich hier nicht weiter anzugeben brauche, halten wir es für wahrscheinlich, daß Mistreß Jazeph zu einer frühern Zeit ihres Lebens mit der Umgebung von Porthgenna in gewisser Verbindung gestanden hat. Mag dies jedoch der Fall sein oder nicht, so ist doch unbestreitbar gewiß, daß sie das Innere von Porthgenna Tower genau kennt, und daß sie ein vollkommen unerklärliches Interesse irgend welcher Art an diesem Hause hat. Wenn wir diese Tatsachen mit der Kenntnis in Zusammenhang bringen, welcher zufolge sie sich gegenwärtig in Cornwall befindet, so glauben wir, es liege recht wohl im Bereich des Möglichen, daß Ihr oder irgend eine andere Person in unserem Dienste mit ihr zusammentrifft, und es liegt uns viel daran, daß, wenn sie vielleicht das Innere des Hauses zu sehen verlangt, Ihr sie in demselben nicht bloß mit vollkommener Bereitwilligkeit und Höflichkeit herumführt, sondern daß Ihr auch von dem Augenblick an, wo sie das Haus betritt bis zu dem, wo sie es verläßt, ihr Benehmen im Stillen, aber ganz genau, beobachtet. Laßt sie deshalb nicht eine Minute lang aus den Augen und beauftragt womöglich eine zuverlässige Person, ihr, nachdem sie das Haus verlassen hat, unbemerkt zu folgen und zu ermitteln, wohin sie geht.

Es ist von der größten Wichtigkeit, daß diese Instruktionen – so seltsam dieselben Euch auch erscheinen mögen – unbedingt und buchstäblich befolgt werden.

Ich habe bloß noch Zeit und Raum, hinzuzufügen, daß wir nichts dieser Person zum Nachteil Gereichendes wissen und daß es uns lieb sein wird, wenn Ihr, im Fall Ihr mit ihr zusammentrefft, Euch hinreichend diskret gegen sie benehmt, damit sie nicht argwohne, daß Ihr auf Befehl handelt oder ein besonderes Interesse daran habt, ihre Schritte zu überwachen.

Ihr werdet so gut sein, diesen Brief dem Kastellan mitzuteilen, ebenso wie Euch freigestellt ist, von den darin enthaltenen Instruktionen, da nötig, irgend eine andere zuverlässige Person in Kenntnis zu setzen.

                        Ergebenst

                                    Rosamunde Frankland.

P.S. – Das Zimmer brauche ich nicht mehr zu hüten und der Junge gedeiht, daß es eine Lust ist.“

„Da!“ sagte die Haushälterin. „Nun möchte ich wissen, wer daraus klug werden soll. Ist Ihnen, Mr. Munder, in Ihrem ganzen Leben schon ein solcher Brief vorgekommen? Man bürdet uns eine schwere Verantwortlichkeit auf, ohne ein Wort der Erklärung hinzuzufügen. Ich habe mir schon bald den Kopf darüber zerbrochen, was für ein Interesse unsere Herrschaft an dieser geheimnisvollen Person haben kann und je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich es erraten. Was ist Ihre Meinung, Mr. Munder? Wir müssen jedenfalls sofort etwas tun. Wissen Sie vielleicht ein bestimmtes Verfahren anzugeben?“

Mr. Munder hustete leise, schlug das eine Bein über das andere, hielt den Kopf kritisch auf die Seite, hustete zum zweiten Male und sah die Haushälterin an.

Hätte es irgend einem andern Menschen in der Welt angehört, so würde Mistreß Pentreath gemeint haben, daß das Gesicht, welches sich jetzt dem ihrigen gegenüber befand, nichts verriete als die tiefste, ratloseste Verblüfftheit. Aber es war Mr. Munders Gesicht und dieses konnte nur mit Vertrauen und mit Gefühlen ehrerbietiger Erwartung betrachtet werden.

„Ich glaube“ – begann Mr. Munder.

„Nun?“ fragte die Haushälterin begierig.

Ehe weiter ein Wort gesprochen werden konnte, trat die Magd in das Zimmer, um für Mistreß Pentreath den Tisch zu decken.

„Laß das jetzt sein, Betsey“, sagte die Haushälterin ungeduldig. „Decke den Tisch nicht eher als bis ich dir klingle. Mr. Munder und ich haben jetzt etwas sehr Wichtiges zu besprechen und können uns nicht stören lassen.“

Kaum aber hatte sie dieses Wort ausgesprochen, als eine Unterbrechung von ganz unerwarteter Art erfolgte.

Die Torglocke läutete. Dies war in Porthgenna Tower ein sehr ungewöhnliches Ereignis. Die wenigen Personen, welche in häuslichen Angelegenheiten Veranlassung hatten, das Schloß zu besuchen, traten stets durch ein kleines Seitenpförtchen ein, welches während des Tages bloß zugeklinkt war.

„Wer ums Himmels willen kann das sein!“ rief Mistreß Pentreath, indem sie an das Fenster eilte, welches die Seitenansicht der unteren Türstufen beherrschte.

Der erste Gegenstand, der ihrem Auge, als sie hinaussah, begegnete, war eine Frau, die auf der untersten Stufe stand – ein Frau sehr sauber und nett in bescheidene dunkle Farben gekleidet.

„Gütiger Himmel, Mr. Munder“, rief die Haushälterin, indem sie an den Tisch zurückeilte und Mistreß Franklands Brief aufraffte, den sie hier liegen gelassen. „Es wartet schon eine fremde Person an der Tür, eine Dame – oder wenigstens eine Frau – und sauber gekleidet in dunkle Farben. Es ist mir als müßte ich ohnmächtig werden, Mr. Munder! Bleib, Betsey – bleib!“

„Ich wollte bloß gehen und das Tor öffnen“, sagte Betsey erstaunt.

„Bleib, sag ich“, wiederholte Mistreß Pentreath, sich mit großer Anstrengung fassend. „Zufällig habe ich bei der gegenwärtigen Gelegenheit gewisse Gründe, von meinem Platze herabzusteigen und mich an den deinigen zu stellen. Geh aus dem Wege, du Gaffmaul! Ich werde selbst gehen, um zu sehen, wer Einlaß begehrt.“


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