Armadale



Fünftes Kapitel.

Die unmittelbare Umgebung der kleinen Stadt Thorpe-Ambrose auf der dem Herrenhause zunächst gelegenen Seite hat sich als die hübscheste Vorstadt der Art in Ost-Norfolk einige lokale Berühmtheit erworben. Die Villen und Gärten sind hier meistens in vortrefflichem Geschmack angelegt; die Bäume grünen in schönster Jugendfrische und der Wiesengrund hinter den Häusern hebt und senkt sich in malerischem und gefälligem Wechsel. Die vornehme und schöne Welt des Städtchens hat diesen Ort zu ihren Abendspaziergängen gewählt, und wenn ein Fremder eine Spazierfahrt macht und die Richtung dem Kutscher überläßt, so fährt dieser ihn selbstverständlich nach jenen Wiesen.

Auf der entgegengesetzten Seite, das heißt auf der dem Herrenhause am fernsten gelegenen, war im Jahre 1851 die Vorstadt allen Leuten, denen der gute Name des Städtchens am Herzen lag, ein Gegenstand des Aergernisses.

Hier war die Natur uneinladend; die Leute waren arm, und der sociale Fortschritt, soweit er sich in der Architektur zu erkennen gibt, machte hier Halt. Je weiter sich die Straßen vom Mittelpunkte der Stadt entfernten, desto kleiner wurden die Häuser, um endlich auf dem öden offenen Felde in elenden Hüttengerippen zu enden. Die Architekten schienen samt und sonders hier ihr Werk in seinem ersten Stadium aufgegeben zu haben. Grundbesitzer pflanzten auf armseligem Terrain Pfähle auf und verkündeten darauf klagend, daß Grund und Boden zum Bauen zu verpachten sei, während sie inzwischen bis sich ein Käufer fand, auf dem ausgebotenen Grundstück eine kränkliche kleine Kornernte versuchten. Es schien, als ob alles alte Papier des ganzen Oertchens sich zu diesem öden Orte sympathisch hingezogen fühle, und eigensinnige Kinder weinten und schrien hier unter der Obhut aller der unordentlichen Wärterinnen, die den Ort verunzierten. Hatte Jemand in Thorpe-Ambrose sein Pferd zum Tode verurtheilt, so harrte der arme Gaul sicherlich auf dieser Seite der Stadt seines Schicksals. In diesen wüsten Regionen gedieh nichts als steriler Kehricht, und kein menschliches Wesen freute sich hier seines Daseins, nur die Geschöpfe der Nacht das heißt allerlei Ungeziefer.

Die Sonne war untergegangen und das Sommerzwielicht begann dunkler zu werden. Die eigensinnigen Kinder schrien in ihren Wiegen; das zum Tode verurtheilte Pferd schlummerte einsam auf dem Felde seiner Gefangenschaft; die Ratzen warteten schleichend in Ecken und Winkeln auf den Einbruch der Nacht. Nur eine lebende Gestalt erschien in der einsamen Vorstadt —— die Gestalt von Mr. Bashwood. Nur ein schwacher Schall störte die grausige Stille —— der Schall von Mr. Bashwood’s leise fallenden Fußtritten.

Mr. Bashwood kam vom freien Felde her, langsam an den hier und dort am Wege liegenden Bausteinen vorüber und vorsichtig um die alten Eisenstücke und zerbrochenen Ziegel herumgehend, einer der unvollendeten Straßen der Vorstadt zugeschritten. Dem Anscheine nach hatte er einige Sorgfalt auf sein persönliches Aussehen verwendet. Seine falschen Zähne waren glänzend weiß, seine Perücke sorgfältig gebürstet, sein Traueranzug, durchaus erneut, hatte den häßlichen schleimigen Glanz wohlfeilen schwarzen Tuches. Er bewegte sich mit nervöser Munterkeit und blickte mit nichtssagendem Lächeln umher. Am ersten der Hüttenskelette angelangt, heftete er seine wässerigen Augen zum ersten Male fest auf die Perspective der vor ihm liegenden Straße. Im nächsten Augenblicke zuckte er zusammen; sein Athem kam schneller und heiß, und zitternd lehnte er sich an die halb fertige Mauer, neben der er stand. In einiger Entfernung kam eine Dame die Straße zu ihm heran. »Sie kommt!« flüsterte er mit einer seltsamen Mischung Von Entzücken und Furcht, während die Farbe in seinem hageren Gesichte abwechselnd kam und ging. »Ich wollte, ich wär’ der Boden, auf dem ihr Fuß wandelt! Ich wollte, ich wär’ der Handschuh an ihrer Hand!« Begeistert brach er in diese überschwenglichen Worte aus und das Entzücken, das sie ihm verursachten, ließ seine schwache Gestalt vom Kopfe bis zu den Füßen erbeben.

Leicht und anmuthig schwebte die Dame näher und näher heran, bis sie Mr. Bashwood’s Augen zeigte, was Mr. Bashwood’s Instinct sogleich erkannt hatte: Miß Gwilt’s Antlitz.

Sie war mit ausgesuchter Bescheidenheit gekleidet. Ihren Kopf bedeckte der schlichteste Strohhut mit der sparsamsten Garnitur von weißem Bande. In der makellosen Sauberkeit und den anspruchslosen Verhältnissen ihres hellen Kattunkleides und der kleinen dünnen schwarzseidenen Mantille, die mit einer schmalen Ruthe von demselben Stoffe besetzt war, drückte sich eine anspruchslose und geschmackvolle Armuth aus. Der Glanz ihres fürchterlichen rothen Haares präsentierte sich ungeniert in den Flechten über ihrer Stirn und fiel in einer vollen Locke auf ihre Schulter herab. Ihre Handschuhe, die sich wie ihre eigene Haut an ihre Hände schmiegten, waren von jenem nüchternen Braun, das am spätesten die Spuren des Gebrauchs zeigt. Mit der einen Hand hob sie den Rock zierlich über die Unsauberkeiten der Straße, die andere hielt einen kleinen Strauß von den gewöhnlichsten Gartenblumen, während der Abendwind sanft mit der langen Locke spielte; den Kopf ein wenig gesenkt, die Augen auf den Boden heftend —— in Gang, Miene und Wesen, in jeder zufälligen Bewegung jenes feine Gemisch der Sinnlichkeit und der Bescheidenheit, das von allen anziehenden Extremen, die sich im Weibe begegnen, in den Augen der Männer das unwiderstehlichste ist.

»Mr. Bashwood!« rief sie im lauten festen Tone des größten Erstaunens. »Welch eine Ueberraschung, Sie hier zu sehen! Ich glaubte, Niemand als die elenden Bewohner wagte sich je nach dieser Seite der Stadt. Bst!« fügte sie schnell flüsternd hinzu. »Sie täuschten sich nicht, als Sie zu hören glaubten, daß Mr. Armadale mich wolle beobachten lassen. Hinter einem jener Häuser versteckt sich ein Mann. Wir müssen laut von gleichgültigen Dingen sprechen und thun, als seien wir einander zufällig begegnet. Fragen Sie mich, womit ich mich beschäftige Laut! Augenblicklich! Sie sollen mich nie wiedersehen, wenn Sie nicht augenblicklich zu zittern aufhören und thun, was ich Ihnen sage!«

Sie sprach mit erbarmungsloser Tyrannei in Blick und Stimme, mit einer erbarmungslosen Anwendung ihrer Macht über das schwache Geschöpf, an das sie die Worte richtete. Mr. Bashwood gehorchte ihr mit einer Stimme, die vor innerer Erregung bebte, und mit Blicken, die wie bezaubert mit dem Ausdrucke von Angst und Entzücken ihre Schönheit verschlungen.

»Ich suche mir durch Musikunterricht etwas zu verdienen«, sagte sie in einem Tone, der darauf berechnet war, bis zum Ohre des Spions zu dringen. »Können Sie mir einige Schülerinnen empfehlen, Mr. Bashwood, so werden Sie mich durch Ihre Fürsprache sehr verpflichten. Waren Sie heute im Park?« fuhr sie dann mit leiserer Stimme fort. »Ist Mr. Armadale nach dem Parkhäuschen gegangen? Hat Miß Milroy sich außerhalb ihres Gartens sehen lassen? Nein? Sind Sie dessen gewiß? Passen Sie ihnen morgen und übermorgen und den nächsten Tag auf. Sie werden sicherlich zusammenkommen und sich wieder aussöhnen, und ich muß und will dies wissen. Bst! Fragen Sie mich nach den Bedingungen meiner Lectionen. Worüber ängstigen Sie sich? Der Mann lauert mir auf, nicht Ihnen. Lauter, als Sie mich so eben fragten, womit ich mich beschäftige; lauter, oder ich will Ihnen nicht mehr trauen; ich will mich an Jemand anders wenden!«

Mr. Bashwood gehorchte abermals. »Seien Sie nicht böse mit mir«, murmelte er schwach, nachdem er die nothwendigen Worte gesprochen. »Mir pocht das Herz so —— Sie tödten mich noch!«

»Sie armes liebes altes Geschöpf» erwiderte sie flüsternd mit plötzlich verändertem Wesen, mit leichter ironischer Zärtlichkeit »Was haben Sie in Ihrem Alter mit einem Herzen zu schaffen! Seien Sie morgen um dieselbe Zeit hier, um mir Bericht zu erstatten über das, was Sie im Park gesehen haben. Meine Bedingungen sind nur fünf Schillinge die Stunde«, fuhr sie mit lauterer Stimme fort; »das ist doch gewiß nicht theuer, Mr. Bashwood. Ich gebe solche lange Stunden und liefere meinen Schülerinnen die Noten um den halben Preis.« Plötzlich senkte sie wieder die Stimme und zwang ihn mit einem funkelnden Blicke zur Unterwürfigkeit. »Lassen Sie Mr. Armadale morgen nicht aus den Augen! Wenn es jenem Mädchen gelingt mit ihm zu sprechen und ich dies nicht erfahre, so will ich Sie zu Tode ängstigen.

Werde ich aber davon unterrichtet, so will ich Sie küssen! St! Wünschen Sie mir gute Nacht und setzen Sie Ihren Weg nach der Stadt fort, während ich die entgegengesetzte Richtung verfolge. Ich bedarf Ihrer nicht; ich fürchte mich nicht vor dem Manne hinter den Häusern. Sagen Sie gute Nacht und dann will ich Ihnen die Hand geben. Sagen Sie es lauter und dann sollen Sie eine von meinen Blumen haben, wenn Sie mir versprechen wollen, sich nicht in dieselbe zu verlieben.« Hierauf sprach sie wieder lauter: »Gute Nacht, Mr. Bashwood! Vergessen Sie meine Bedingungen nicht. Fünf Schillinge für eine volle Stunde und alle Noten um den halben Preis, was ein ungeheurer Vortheil ist, nicht wahr, Mr. Bashwood?« Sie ließ ihm eine Blume in die Hand gleiten, blickte ihn mit zorniger Stirn an, damit er ihr gehorche, und belohnte ihn dann durch ein Lächeln, hob wieder zierlich den Rock auf und ging mit der selbstgefälligen indolenten Ruhe einer Katze weiter, die so eben im Vergnügen geschwelgt hat, eine Maus zu ängstigen.

Sowie er wieder allein war, wandte sich Mr. Bashwood der niedrigen Hausmauer zu, neben der er gestanden hatte, lehnte sich müde über sie und betrachtete die Blume in seiner Hand. Sein vergangenes Leben hatte ihn geschult, Unglück und Schmach zu ertragen, wie wohl wenig glücklichere Menschen dies vermocht hätten, doch hatte dasselbe ihn nicht darauf vorbereitet, an dem trüben Ende seines Daseins in dem hoffnungslosen Verfall seiner Mannheit, die unter dem doppelten Fluche ehelicher Enttäuschung und väterlichen Kummers verdorrt war, zum ersten Male die Meisterleidenschaft des Menschen zu empfinden. »O wenn ich nur wieder jung wäre!« murmelte das arme Geschöpf, die Arme auf die Mauer stützend und mit heimlichem Entzücken die Blume mit seinen trockenen, fieberglühenden Lippen berührend. »Sie hätte mich vielleicht geliebt, als ich zwanzig Jahre alt war!« Plötzlich richtete er sich wieder empor und stierte in leerer Verwirrung und Angst um sich. »Sie hat mir befohlen, heim zu geben«, sagte er mit erschrockener Miene. »Warum bleibe ich hier?« Er wandte sich um und eilte der Stadt zu, in solcher Furcht vor ihrem Zorne, wenn sie sich umsähe und ihn erblickte, daß er sich nicht einmal nach der Richtung hin umzuschauen wagte, in der sie fortgegangen war, und den Spion gar nicht gewahr wurde, welcher ihr hinter den unbewohnten Häusern und den Steinhaufen folgte, die am Wege lagen.

Leicht und anmuthig, sorgfältig die makellose Sauberkeit ihres Kleides hütend, ohne ihre Schritte zu beschleunigen oder sich rechts oder links umzusehen, setzte Miß Gwilt ihren Weg ins freie Feld fort. Die Straße der Vorstadt lief am Ausgange der letzteren in zwei verschiedenen Richtungen weiter. Zur Linken führte der Pfad durch ein struppiges kleines Gebüsch zur Weide eines benachbarten Gehöftes, zur Rechten über einen kleinen brachliegenden Hügel nach der Landstraße hin. Indem sie einen Augenblick stehen blieb, um zu überlegen, jedoch den Spion durch kein Zurückblicken ahnen ließ, daß er ihr verdächtig schien, solange er sich innerhalb des Bereichs eines Verstecks befand, entschied Miß Gwilt sich für den Pfad über den Hügel. »Dort will ich ihn fangen«, sprach sie bei sich, ruhig die gerade Linie der unbelebten Landstraße hinab sehend. Sowie sie sich einmal auf dem Felde befand, das sie zu ihrem Zwecke ausersehen hatte, begegnete sie den Schwierigkeiten der Position mit vollkommenem Takt und ruhiger Selbstbeherrschung. Nachdem sie etwa dreißig Schritte weiter gegangen war, ließ sie ihren Blumenstrauß fallen, wandte sich, um ihn wieder aufzuheben, halb um, sah den Mann in demselben Augenblicke hinter sich stehen bleiben und ging augenblicklich weiter, allmälig ihre Schritte beschleunigend, bis sie die größte Schnelligkeit erreichten. Der Spion fiel in die ihm gelegte Schlinge. Da er die Nacht hereinbrechen sah und sie in der Dunkelheit aus dem Gesichte zu verlieren fürchtete, eilte er, die Entfernung zwischen sich und ihr zu verringern. Miß Gwilt ging immer schneller und schneller, bis sie seine Schritte deutlich hinter sich hörte; dann blieb sie stehen und befand sich im nächsten Augenblicke dem Manne dicht gegenüber.

»Macht Mr. Armadale meine Empfehlung und sagt ihm, ich hätte Euch daraus ertappt, wie Ihr mich beobachtetet.«

»Ich beobachte Sie nicht, Miß«, entgegnete der Spion, durch die kühne Deutlichkeit ihrer Worte unvorsichtig gemacht.

Miß Gwilt’s Augen maßen ihn verachtungsvoll vom Kopfe bis zu den Füßen. Er war ein schwächlicher kleiner Mann. Sie war die Größere und möglicherweise auch die Stärkere. »Nehmt den Hut ab, Ihr Flegel, wenn Ihr mit einer Dame sprecht«, sagte sie und schlug ihm den Hut vom Kopfe, daß derselbe über einen Graben, neben dem sie standen, und in eine Schmutzlache jenseits desselben flog.

Diesmal war der Spion auf seiner Hut. Er wußte ebenso gut wie Miß Gwilt, wie nützlich die kostbaren Minuten angewendet werden könnten, wenn er ihr den Rücken zukehrte und über den Graben stiege, um seinen Hut wieder zu suchen. »Es ist ein Glück für Sie, daß sie ein Frauenzimmer sind«, sagte er, in der schnell hereinbrechenden Nacht barhäuptig dastehend und sie mit drohenden Blicken betrachtend.

Miß Gwilt warf einen Seitenblick auf die sich vor ihr öffnende Perspective der Straße und gewahrte in der zunehmenden Dunkelheit die einsame Gestalt eines Mannes, der sich langsam ihnen nahte. Manche Frauen würden das Herannahen eines Mannes zu solcher Stunde und an einem solchen Orte mit einiger Besorgniß gesehen haben. Miß Gwilt hatte zu großes Zutrauen zu ihrer Ueberredungsgabe, um nicht im voraus auf den Beistand eines Mannes zu rechnen, wer derselbe auch sein mochte, und zwar weil er ein Mann war. Mit verdoppelter Zuversicht blickte sie nach dem Spion zurück und maß ihn zum zweiten Male mit Verachtung im Auge vom Kopf bis zu den Füßen.

»Ob ich wohl stark genug wäre, Euch Eurem Hute nachzuwerfen?« sagte sie. »Ich will ein paar Schritte thun und es mir überlegen.«

Sie schlenderte eine kleine Weile in der Richtung weiter, in welcher die Gestalt auf der Landstraße daherkam. Der Spion folgte hart hinter ihr drein. »Versuchen Sie es doch«, sagte er grob. »Sie sind ein schönes Frauenzimmer, und es soll mir Vergnügen machen, wenn Sie mich mit Ihren Armen umfassen wollen.« Während er diese Worte sprach, erblickte auch er den Fremden. Er that einen Schritt rückwärts und wartete. Miß Gwilt that ihrerseits einen Schritt vorwärts und wartete ebenfalls.

Der Fremde nahte sich mit dem leichten Schritte eines geübten Fußgängers, einen Stock in den Händen schwingend und auf dem Rücken einen Mantelsack tragend.

Als er noch einige Schritte näher gekommen, ließ sich sein Gesicht erkennen. Es war ein dunkler Mann, sein schwarzes Haar mit Staub bepudert, und seine schwarzen Augen blickten fest vor sich hin.

Mit den ersten Anzeichen von Gemüthsbewegung, die sie noch bisher verrathen hatte, trat ihm Miß Gwilt entgegen. »Ist es möglich?« sagte sie sanft. Sind Sie es wirklich?«

Es war Midwinter, auf der Heimkehr von den Haiden von Yorkshire nach Thorpe-Ambrose.

Er blieb stehen und sah sie in athemlosem Erstaunen an. Das Bild dieses Weibes hatte in demselben Augenblicke, wo es ihn anredete, sein Herz erfüllt.

»Miß Gwilt!« rief er aus und reichte ihr mechanisch die Hand.

Sie nahm dieselbe und drückte sie leise. »Zu jeder Zeit würde ich mich gefreut haben, Sie wiederzusehen«, sprach sie, »wie sehr ich mich aber in diesem Augenblicke freue, das können Sie sich nicht denken. Darf ich Sie bitten, mit dem Manne da zu sprechen? Er hat mich den ganzen Weg von der Stadt her verfolgt und belästigt.«

Ohne ein Wort schritt Midwinter an ihr vorüber. So dunkel es war, sah doch der Spion augenblicklich in seinem Gesichte, was kommen solle, und sprang, sich schnell umwendend, über den Graben am Wege. Ehe Midwinter ihm folgen konnte, lag Miß Gwilt’s Hand auf seiner Schulter.

»Nein«, sagte sie. »Sie wissen nicht, in wessen Dienste er steht.«

Midwinter blieb stehen und sah sie an.

»Es haben sich seltsame Dinge ereignet, seit Sie uns verließen«, fuhr sie fort. »Ich bin gezwungen gewesen, meine Stelle aufzugeben, und werde von einem gedungenen Spion verfolgt und beobachtet Fragen Sie nicht, wer mich gezwungen hat, meine Stelle zu verlassen, und wer den Spion gedungen. wenigstens jetzt noch nicht. Ich kann mich nicht entschließen, Ihnen dies zu sagen, bevor ich ein wenig ruhiger geworden bin. Lassen Sie den Elenden gehen. Wollten Sie wohl die Güte haben, mich nach meiner Wohnung zu begleiten? Sie liegt auf Ihrem Wege. Darf ich Sie um den Beistand Ihres Arms bitten? Mein kleiner Vorrath von Muth ist gänzlich erschöpft.« Sie nahm seinen Arm und schmiegte sich fest an ihn an. Das Weib, das Mr. Bashwood tyrannisiert und den Hut des Spions in den Schmutz geworfen, war verschwunden. Ein furchtsames, zitterndes, interessantes Wesen war an seine Stelle getreten. Sie führte ihr Taschentuch an die Augen. »Man sagt, Noth kennt kein Gebot«, murmelte sie leise. »Ich behandle Sie wie einen alten Freund. Gott weiß, ich bedarf eines solchen.«

So gingen sie zusammen der Stadt zu. Mit einer rührenden Entschlossenheit ermannte sie sich, steckte das Taschentuch wieder in die Tasche und bestand darauf, die Unterhaltung auf Midwinter’s Fußreise zu lenken. »Es ist schon schlimm genug, Ihnen zur Last zu fallen«, sagte sie, leise seinen Arm drückend; »ich darf Sie nicht außerdem noch betrüben. Erzählen Sie mir, wo Sie waren und was Sie gesehen haben. Interessieren Sie mich für Ihre Reise; helfen Sie mir, mich mir selbst zu entreißen.«

Sie langten bei der bescheidenen kleinen Wohnung in der garstigen kleinen Vorstadt an. Miß Gwilt seufzte und zog den Handschuh aus, ehe sie Midwinter die Hand reichte. »Hierher habe ich mich geflüchtet«, sagte sie einfach. »Es ist sauber und ruhig, ich bin zu arm, um mehr zu bedürfen oder zu verlangen. Wir müssen wohl Abschied nehmen, wenn Sie ——« sie stockte bescheiden und überzeugte sich durch einen schnellen Blick rings um sich her, daß sie unbeobachtet waren —— »wenn Sie nicht mit hereinkommen und ein wenig ausruhen wollen. Ich fühle mich Ihnen so dankbar verpflichtet, Mr. Midwinter! Meinen Sie, daß ein Arg darin läge, wenn ich Sie zu einer Tasse Thee einlüde?«

Der magnetische Einfluß ihrer Berührung durchzuckte ihn, als sie sprach. Wechsel und Abwesenheit, wodurch er ihre Macht über ihn zu vermindern gehofft, hatten diese im Gegentheil noch verstärkt. Ein ausnahmsweise gefühlvoller, in seinem bisherigen Leben ausnahmsweise reiner Mann, stand er in der verführerischen Heimlichkeit der Nacht Hand in Hand mit dem ersten Weibe da, das ihn den alles Andere in den Hintergrund drängenden Einfluß ihres Geschlechts fühlen ließ. Wer hätte wohl in seinem Alter und in seiner Lage es über sich vermocht, sie zu verlassen? Es lebt kein Mann mit dem Temperament eines Mannes, der dies zu thun im Stande gewesen wäre. Midwinter ging mit hinein.

Ein dummer schläfriger Junge öffnete die Hausthür. Selbst er —— er war ja ein männliches Geschöpf —— empfand Miß Gwilt’s Einfluß. »Die Theemaschine, John«, sagte sie freundlich, »und noch eine Tasse. Ich will Euer Licht borgen, um meine Kerze oben anzuzünden, und dann will ich Euch heute Abend nicht mehr bemühen.« John war augenblicklich wach und munter. »Keine Mühe, Miß«, sagte er mit ungeschickter Höflichkeit. Miß Gwilt nahm lächelnd sein Licht. »Wie gut die Leute gegen mich sind!« flüsterte sie Midwinter unschuldsvoll zu, indem sie ihm die Treppe hinauf und in das kleine Wohnzimmer der ersten Etage voranging.

Sie zündete die Kerze an und hielt, sich schnell umwendend, ihren Gast zurück, als sich dieser anschickte, den Tornister vom Rücken zu nehmen. »Nein«, sagte sie sanft. »Ja der guten alten Zeit gab es gewisse Gelegenheiten, bei denen die Damen ihre Ritter entwaffneten. Ich fordere das Vorrecht, den meinigen zu entwaffnen.« Ihre geschickten Finger kamen den seinigen bei den Riemen und Schnallen zuvor und sie hatte ihm den staubigen Ranzen abgenommen, ehe er sich ihr widersetzen konnte.

Sie ließen sich an dem einzigen kleinen Tische des Zimmers nieder. Letzteres war sehr ärmlich möbliert, aber es herrschte darin etwas von der sauberen Zierlichkeit des Weibes, das es bewohnte, in der Art und Weise, in der die wenigen Schmuckstücke des Kaminsimses aufgestellt waren, in den paar hübsch gebundenen Büchern auf der Chiffonniere, den Blumen auf dem Tische und dem bescheidenen kleinen Arbeitskörbchen im Fenster. »Wir Frauen sind nicht alle Koketten«, sagte sie, Hut und Mantille abnehmend und sorgfältig auf einen Sessel legend. »Ich will nicht in mein Zimmer gehen, um in meinen Spiegel zu sehen und mich hübsch zu machen, Sie sollen mich ganz so nehmen, wie ich bin.« Mit sanfter geräuschloser Geschäftigkeit bewegten sich ihre Hände unter dem Theeservice umher. Ihr prachtvolles Haar funkelte glutroth im Kerzenlicht, als sie, aus dem Präsentierbrett nach diesem oder jenem Gegenstande suchend, den Kopf hierhin und dorthin wandte. Die Bewegung in der freien Luft hatte ihr die schönste Farbe gegeben und den Wechsel des Ausdrucks in ihren Augen lebhafter gemacht: jetzt das köstliche Schmachten, während sie zuhörte oder nachsann, dann das klare Verständniß das aus ihnen blitzte, wenn sie sprach. In dem unbedeutendsten Worte, das sie sagte, in dem Geringsten, was sie that, lag ein Etwas, das das Herz des Mannes, der neben ihr saß, mild erregte. Durchaus bescheiden in ihrem Wesen, die anmuthige Zurückhaltung und Feinheit einer wohlgebildeten Dame bis zur Vollendung besitzend, gebot sie zugleich über alle die Verlockungen, die das Auge entzücken, alle die Sirenenkünste, welche die Sinne berücken.

»Irrte ich mich«, fragte sie, plötzlich die Unterhaltung abbrechend, die sie bis dahin beharrlich auf Midwinter’s Fußreise beschränkt hatte, »wenn ich riethe, daß Sie etwas auf dem Herzen haben, etwas, das weder mein Thee noch meine Unterhaltung fortzubannen im Stande ist? Sind die Männer ebenso neugierig? wie die Frauen. Wäre dieses Etwas vielleicht ich?«

Midwinter kämpfte mit dem Reize, der in ihrem Anblicke und ihrer Stimme lag. »Es liegt mir sehr am Herzen, zu hören, was sich während meiner Abwesenheit zugetragen hat«, sagte er, »aber noch mehr daran, Miß Gwilt, Sie nicht unangenehm zu berühren, wenn ich von einem Gegenstande rede, der Ihnen peinlich ist.«

Sie sah ihn dankbar an. »Ich habe den peinlichen Gegenstand um Ihretwillen gemieden«, sagte sie, mit dem Löffel in der leeren Tasse spielend. »Aber Sie werden durch Andere davon hören, wenn Sie es nicht von mir erfahren; und Sie sollen wissen, warum Sie mich in jener seltsamen Lage fanden und warum Sie mich hier sehen. Bitte, behalten Sie gleich im Anfange eins im Auge: ich mache Ihrem Freund, Mr. Armadale, keinen Vorwurf, nur den Leuten, deren Werkzeug er ist.«

Midwinter erschrak. »Ist es möglich«, begann er, »daß Allan in irgend einer Weise verantwortlich ——« Er stockte und schaute Miß Gwilt mit schweigendem Erstaunen an.

Sie legte sanft ihre Hand auf die seinige. »Werden Sie mir nicht böse, wenn ich Ihnen nur die Wahrheit sage. Ihr Freund ist für Alles verantwortlich, was mir zugestoßen ist, unschuldigerweise dafür verantwortlich, Mr. Midwinter, wie ich fest glaube. Wir sind beide Opfer. Er ist das Opfer seiner Stellung als der reichste unverheirathete Mann der ganzen Umgegend, und ich bin das Opfer von Miß Milroy’s Entschlusse, ihn zu heirathen.«

»Miß Milroy! wiederholte Midwinter immer erstaunter. »Wie, Allan sagte mir selbst ——« Er stockte abermals.

»Er sagte Ihnen, ich sei der Gegenstand seiner Bewunderung? Der arme Junge! Er bewundert alle Welt; sein Kopf ist fast so leer wie das da«, sagte Miß Gwilt, bedeutungsvoll in ihre leere Theetasse hineinlächelnd. Sie ließ den Löffel fallen, seufzte und ward wieder ernst. »Ich muß mich der Eitelkeit zeihen, ihm gestattet zu haben, mich zu bewundern«, fuhr sie reuig fort, »ohne die Entschuldigung zu haben, meinerseits des flüchtigen Interesses für ihn fähig zu sein, das er mir schenkte. Ich unterschätze seine vielfachen vortrefflichen Eigenschaften ebenso wenig wie die schöne Stellung, die er einer Gattin zu bieten hat, aber ein Frauenherz läßt sich nicht commandiren, Mr. Midwinter, nein, selbst nicht durch den glücklichen Besitzer von Thorpe-Ambrose, dem sonst Alles zu Befehl steht.«

Sie sah ihm, während sie diesem hochherzigen Gefühle Worte lieh, gerade ins Gesicht. Er schlug die Augen vor den ihrigen nieder und sein dunkles Gesicht erglühte. Er hatte gefühlt, wie sein Herz aufhüpfte, als sie ihre Gleichgültigkeit gegen Allan erklärte. Zum ersten Male, seit sie einander gekannt, standen seine Interessen als den Interessen seines Freundes direct entgegengesetzt vor ihm.

»Ich muß mich der Eitelkeit zeihen, Mr. Armadale gestattet zu haben, mich zu bewundern, und ich habe dafür gebüßt«, fuhr Miß Gwilt fort. »Hätte zwischen meiner Schülerin und mir das geringste Vertrauen bestanden, so hätte ich sie leicht darüber beruhigen können, daß sie Mrs. Armadale werden dürfe, wenn es ihr gelänge, ohne dabei irgend welche Nebenbuhlerschaft von meiner Seite fürchten zu müssen. Aber Miß Milroy konnte mich von Anfang an nicht leiden und mißtraute mir. Ohne Zweifel faßte sie ihre eigene eifersüchtige Meinung von Mr. Armadale’s unbedachten Aufmerksamkeiten gegen mich. In ihrem Interesse lag es, mich der Stelle, wie dieselbe eben war, die ich in seiner Meinung einnahm, zu berauben, und es ist sehr wohl möglich, daß ihre Mutter ihr dabei behilflich war. Mrs. Milroy hatte ebenfalls ihren Beweggrund, den ich mich wirklich anzugeben schäme, mich aus dem Hause zu vertreiben. Jedenfalls ist ihnen ihr Anschlag gelungen. Ich bin mit Mr. Armadale’s Hilfe gezwungen worden, die Stelle aufzugeben. Erzürnen Sie sich nicht, Mr. Midwinter! Ziehen Sie keine übereilten Schlüsse! Miß Milroy hat vielleicht ihre guten Eigenschaften, obgleich ich diese nicht habe entdecken können, und ich gebe Ihnen einmal über das andere die Versicherung, daß ich Mr. Armadale keinen Vorwurf mache, sondern nur den Leuten, deren Werkzeug er ist.«

»In welcher Weise ist er ihr Werkzeug? Wie kann er das Werkzeug irgend eines Ihrer Feinde sein?« fragte Midwinter »Bitte, entschuldigen Sie meinen Eifer, Miß Gwilt —— Allan’s guter Name ist mir ebenso theuer wie mein eigener!«

Miß Gwilt’s Augen hefteten sich abermals fest auf ihn und ihr Herz gab sich unschuldsvoll einem Ausbruche der Begeisterung hin. »Wie sehr ich Ihren Eifer bewundere!« sagte sie. »Wie mir Ihre Besorgniß um ihren Freund gefällt! O daß doch die Frauen solcher Freundschaften fähig wären! O Sie glücklichen, glücklichen Männer!« Ihre Stimme bebte und sie versenkte sich zum dritten Male in die bequeme Theetasse. »Alle Schönheit, die ich besitze, wollte ich darum geben«, sagte sie, »wenn ich einen solchen Freund zu finden vermöchte, wie Mr. Armadale einen in Ihnen gefunden hat. Doch den finde ich nimmer, Mr. Midwinter, nimmermehr. Lassen Sie uns auf das zurückkommen, wovon wir eben sprachen. Nur indem ich Ihnen zuerst etwas über mich selbst mittheile, kann ich Ihnen erzählen, in welcher Weise Ihr Freund an meinem Mißgeschick mit schuld ward. Ich theile mit vielen andern Erzieherinnen das Loos, daß ich das Opfer trauriger Familienverhältnisse bin. Es mag dies eine Schwäche von mir sein, aber es widerstrebt mir unendlich, Fremden davon zu sprechen. Mein Schweigen über meine Familie und meine Angehörigen setzt mich in meiner abhängigen Lage mancherlei Mißdeutungen aus. Hat es mir auch in Ihrer Meinung geschadet, Mr. Midwinter?«

»Das verhüte Gott!« sagte Midwinter mit Wärme. »Es lebt kein Mensch«, fuhr er an seine eigene Familiengeschichte denkend fort, »der mehr Ursache hätte, Ihr Schweigen zu achten, als ich.«

Miß Gwilt ergriff leidenschaftlich seine Hand.

»O«, sagte sie, »ich wußte es in dem ersten Augenblicke, da ich Sie sah! Ich wußte, daß auch Sie gelitten, daß auch Sie manchen Kummer gehabt haben, den Sie heilig halten! Seltsam, unerklärliche Sympathie! Ich glaube an Magnetismus —— glauben Sie daran?« Sie besann sich plötzlich und schauderte. »O was habe ich gethan! Was müssen Sie von mir denken!« rief sie aus, als er, von dem magnetischen Zauber ihrer Berührung überwältigt, Alles vergaß, außer der Hand, die in der seinigen lag, sich über dieselbe beugte und sie. küßte. »Schonen Sie mich!« sagte sie matt, als sie seine glühenden Lippen fühlte. »Ich bin so freundlos, bin so vollständig in Ihrer Gewalt!«

Er wandte sich von ihr ab und barg sein Gesicht in der Hand —— er zitterte, und sie bemerkte es. Sie sah ihn, während er sein Gesicht bedeckte, mit verstohlenem Interesse und mit Verwunderung an. »Wie dieser Mensch mich liebt!« dachte sie. »ob es wohl einst eine Zeit gegeben, wo ich ihn hätte lieben können?«

Einige Minuten lang schwiegen beide. Er hatte ihr Flehen um Schonung empfunden, wie sie dies durchaus nicht erwartet oder beabsichtigt hatte —— er wagte es nicht, sie wieder anzusehen oder zu ihr zu sprechen.

»Soll ich in meiner Erzählung fortfahren P« fragte sie. »Wollen wir beide vergeben und vergessen?« Das in dem Weibe wurzelnde Verlangen nach jedem Ausdrucke der Bewunderung von Seiten des Mannes, solange derselbe sich innerhalb der Schranken der Achtung hält, kräuselte ihre Lippen zu einem reizenden Lächeln. Sie sah nachdenklich auf ihr Kleid herab und strich mit einem unsicheren kleinen Seufzer ein Krümchen von ihrem Schooße. »Ich erzählte Ihnen eben«, fuhr sie fort, »von meinem Widerstreben, Fremden gegenüber etwas von meinen traurigen Familienverhältnissen zu erwähnen. Und so kam es, wie ich später entdeckt habe, daß ich mich Miß Milroy’s Bosheit und Argwohn aussetzte. Es wurden bei der Dame, die mich empfohlen, heimliche Erkundigungen angestellt und zwar, wie ich nicht bezweifle, zuerst auf Miß Milroy’s Anrathen. Ich bedaure sagen zu müssen, daß dies noch nicht das Schlimmste ist. Mr. Armadale’s Unbefangenheit ward auf irgend eine Art, über die ich in Unwissenheit bin, getäuscht, und als bei der Dame, die sich für mich verbürgt, in London geheime Nachforschungen angestellt wurden, geschah dies durch Ihren Freund, Mr. Midwinter.«

Midwinter sprang plötzlich auf und sah sie an. Der Zauber, den sie über ihn ausübte, hörte, so mächtig er war, momentan auf, als endlich die deutliche Enthüllung von ihren Lippen fiel. Er sah sie an und setzte sich dann, ohne ein Wort zu sagen, wie verblüfft wieder nieder.

»Bedenken Sie, wie schwach er ist«, sagte Miß Gwilt mit sanfter Bitte, »und entschuldigen Sie ihn, wie ich es thue. Der unbedeutende Zufall, daß es ihm nicht gelang, die Dame unter der ihm bezeichneten Adresse aufzufinden, scheint —— ich kann mir nicht erklären, warum —— Mr. Armadale mit Argwohn erfüllt zu haben. Jedenfalls blieb er in London. Was er dort gethan, kann ich unmöglich angeben. Ich war ganz im Dunkeln, ich wußte von nichts; ich beargwöhnte Niemand; ich war im kleinen Kreis meiner Pflichten so glücklich, wie ich dies mit einer Schülerin sein konnte, deren Zuneigung ich nicht zu gewinnen vermochte, als Major Milroy mir eines Morgens, zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen einen Briefwechsel zwischen ihm und Mr. Armadale zeigte. Er sprach mit mir in Gegenwart seiner Gemahlin. Das arme Geschöpf! Ich beklage mich nicht über sie —— solches Leiden wie das ihrige entschuldigt Alles. Ich wollte, ich könnte Ihnen eine Vorstellung von den Briefen geben, die Major Milroy und Mr. Armadale mit einander wechselten, aber mein Kopf ist leider nur ein Weiberkopf, und ich fühlte mich damals bestürzt und gekränkt! Ich kann Ihnen blos sagen, daß es Mr. Armadale beliebte, über sein Verfahren in London ein Schweigen zu beobachten, das unter den obwaltenden Verhältnissen einen Vorwurf für meinen guten Namen enthielt. Der Major war außerordentlich gütig; sein Zutrauen zu mir blieb unerschüttert; aber vermochte sein Zutrauen mich auch gegen das Vorurtheil seiner Gemahlin und seiner Tochter Uebelwollen zu schützen? O wie hart die Frauen gegen einander sind! Ach welche Demüthigung für uns, sähen die Männer nur einige von uns so, wie wir wirklich sind! Was konnte ich thun? Gegen bloße Andeutungen konnte ich mich nicht vertheidigen, und meine Stelle mußte ich aufgeben, nachdem man einen Makel auf meinen Namen geworfen hatte. Mein Stolz der Himmel sei mir gnädig, ich habe die Erziehung einer Dame genossen und die Gefühle eines gebildeten Weibes, die selbst jetzt noch nicht abgestumpft sind —— mein Stolz übermannte mich, und ich gab meine Stelle auf. Lassen Sie sich das nicht leid sein, Mr. Midwinter Das Bild hat auch feine Lichtseite. Die Damen der Umgegend haben mich mit Freundlichkeiten überschüttet; ich habe Aussicht, Schülerinnen zu bekommen, und so wird mir der Kummer erspart, zu meinen Angehörigen zurückkehren und ihnen zur Last fallen zu müssen. Die einzige Klage, die ich erhebe, ist wie mich dünkt, eine wohlbegründete Mr. Armadale ist seit einigen Tagen nach Thorpe-Ambrose zurückgekehrt. Ich habe ihn brieflich inständig gebeten, mir eine Unterredung mit ihm zu gestatten, mir zu sagen, welchen fürchterlichen Verdacht er gegen mich hegt, und mir Gelegenheit zu geben, mich in seiner Meinung zu rechtfertigen. Sollten Sie es wohl glauben, er hat sich geweigert, mich zu sehen, natürlich unter dem Einflusse Anderen nicht aus eigenem freien Antriebe, dessen bin ich sicher! Grausam, nicht wahr? Aber er hat mich sogar noch grausamer behandelt. Er bleibt dabei, mich zu beargwöhnen, und er ist es, der mich beobachten läßt. O Mr. Midwinter, hassen Sie mich nicht darum, weil ich Ihnen etwas mittheile, das Sie jedenfalls erfahren müssen! Der Mann, den Sie heute mich verfolgen und ängstigen sahen, verdient nur sein Brod als Mr. Armadale’s Spion.«

Midwinter sprang abermals auf, und diesmal machten seine Gedanken sich in Worten Luft.

»Ich kanns nicht glauben, ich will’s nicht glauben!« rief er entrüstet. »Wenn der Mann Ihnen das gesagt, hat er gelogen. Ich bitte um Verzeihung, Miß Gwilt; ich bitte Sie aus tiefstem Herzen um Verzeihung. Bitte, glauben Sie —— glauben Sie nicht, daß ich in Ihre Worte Zweifel setze; ich sage nur, irgendwo waltet ein abscheulicher Irrthum ob. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Alles, was Sie mir mitgetheilt, richtig verstanden habe, aber diese letzte schmachvolle Gemeinheit, deren Sie Allan für fähig halten, verstehe ich. Ich schwöre Ihnen, daß er derselben unfähig ist! Irgend ein Schurke hat ihn hintergangen, irgend ein Bösewicht hat sich seines Namens bedient. Ich will Ihnen dies beweisen, wenn Sie mir nur Zeit dazu geben wollen. Lassen Sie mich gehen und die Sache sofort aufklären. Eher kann ich nicht ruhen; ich kann den Gedanken nicht ertragen; ich kann mich selbst nicht dem Vergnügen hingeben, hier zu sein. O«, rief er im Tone der Verzweiflung, »ich bin überzeugt, daß Sie nach dem, was Sie gesagt haben, für mich fühlen —— ich fühle so sehr für Sie!«

Er schwieg verwirrt. Miß Gwilt’s Augen waren wieder auf ihn geheftet und ihre Hand hatte nochmals den Weg in die seinige gefunden.

»Sie sind der großmüthigste Mensch, den es in der Welt gibt«, sagte sie sanft; »ich will glauben, was Sie mich glauben heißen. Gehen Sie«, fügte sie flüsternd hinzu, indem sie plötzlich seine Hand losließ und sich von ihm wandte, »um unser beider willen, gehen Sie!«

Sein Herz pochte wild; er sah sie an, wie sie, das Tuch vor die Augen haltend, in einen Sessel sank. Einen Augenblick zögerte er, dann riß er seinen Ranzen vom Boden auf und verließ sie plötzlich ohne einen Rückblick oder ein Abschiedswort.

Als die Thür sich hinter ihm schloß, stand sie auf. Sowie sie allein war, ging eine Veränderung mit ihr vor. Die Farbe wich aus ihren Wangen; der Glanz erlosch in ihren Augen; ihre Züge wurden hart und drückten stumme Verzweiflung aus. »Es ist viel schändlicher, als ich geglaubt«, sagte sie, »wenn ich ihn täusche.« Nachdem sie einige Minuten im Zimmer auf und ab gegangen, blieb sie wie zerschlagen vor dem Spiegel über dem Kamine stehen. »Du merkwürdiges Geschöpf« murmelte sie, die Ellbogen auf den Kaminsims stützend und zu ihrem Bilde im Spiegel sprechend. »Hast du etwa noch einen Rest von Gewissen? Und sollte dieser Mensch denselben erweckt haben?«

Das Spiegelbild veränderte sich langsam. Die Farbe kehrte in die Wangen zurück, ein köstliches Schmachten schwamm wieder in ihren Augen. Ihre Lippen theilten sich leicht und ihr schneller Athem überzog die Oberfläche des Spiegels mit einem Nebel. Nachdem sie sich einen Augenblick in ihre Gedanken vertieft hatte, fuhr sie jählings schaudernd zurück. »Was beginne ich?« fragte sie sich plötzlich mit Entsetzen und Erstaunen. »Bin ich so wahnsinnig, in dieser Weise an ihn zu denken?«

Sie brach in ein spöttisches Lachen aus und öffnete ihre Schreibschatulle mit lautem Geklapper »Es wird Zeit, daß ich mich wieder mit Mutter Isabelle unterhalte«, sagte sie und setzte sich, um an Mrs. Oldershaw zu schreiben.

»Ich habe Mr. Midwinter getroffen, und zwar unter sehr glücklichen Umständen, und mir diese Gelegenheit zu Nutze gemacht. So eben hat er mich verlassen, um zu seinem Freunde Armadale zu gehen, und morgen wird sich eins von zwei guten Dingen ereignen. Wenn sie sich nicht veruneinigen, werden mir durch Midwinters Vermittlung die Thore von Thorpe-Ambrose wieder geöffnet werden. Gibt es aber einen Streit, so werde ich die unglückliche Ursache desselben sein, und dann werde ich mir in der rein christlichen Absicht, sie wieder auszusöhnen, den Eingang erzwingen.«

Beim nächsten Satze zögerte sie, schrieb die ersten Worte desselben nieder, strich sie wieder aus, riß den Brief in kleine Stücke und schleuderte die Feder in eine Ecke des Zimmers Sich schnell auf ihrem Sessel umdrehend, sah sie auf den Sitz, den Midwinter eingenommen, während ihr Fuß unruhig auf den Boden klopfte und sie sich das Taschentuch wie einen Knebel zwischen die Zähne klemmte. »Wie jung du immer sein magst«, dachte sie, im Geiste sein Bild in dem leeren Sessel erblickend, »hat es doch in deinem Leben schon etwas Ungewöhnliches gegeben, und dies muß und will ich erfahren!«

Die Hausuhr schlug die Stunde und riß sie aus ihrem Sinnen. Sie seufzte, ging an den Spiegel zurück und fing müde ihr Kleid zu lösen an, nahm die Knöpfe aus der Chemisette und legte sie auf den Kaminsims. Während sie ihr Haar aufflocht und es in einer einzigen großen Flechte über ihre Schultern zurückfallen ließ, warf sie nachlässig einen Blick auf die Schönheit ihres Nackens und ihres Busens. »Wenn er mich jetzt sähe!« dachte sie. Sie kehrte zum Tische zurück und seufzte abermals, indem sie die eine der Kerzen auslöschte und die andere in die Hand nahm. »Midwinter?« sagte sie, als sie durch die Flügelthür vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer ging. »Ich glaube schon gar nicht an seinen Namen.«

Die Nacht war um mehr als eine Stunde vorgerückt, ehe Midwinter im Herrenhause anlangte.

Obgleich er den Weg ganz genau kannte, war er zweimal irre gegangen. Die Ereignisse des Abends, die Begegnung mit Miß Gwilt selbst, nachdem er vierzehn Tage lang still mit dem Gedanken an sie beschäftigt gewesen war, die große Veränderung, die in ihrer Lage eingetreten, seit er sie zuletzt gesehen, und die überraschende Behauptung, daß Allan an derselben schuld sei, alles dies hatte sich vereinigt, um sein Gemüth in die wildeste Verwirrung» zu stürzen. Die Dunkelheit der Nacht trug noch zur Erhöhung dieser Verwirrung bei. Selbst die wohlbekannten Thore von Thorpe-Ambrose erschienen ihm fremd. Als er daran zu denken versuchte, war es ihm unbegreiflich, wie er überhaupt dort angelangt sei.

Die Vorderseite des Hauses war finster und verschlossen. Midwinter ging nach der Hinterseite herum. Wie er weiter schritt, schlug der Schall von Männerstimmen an sein Ohr. Er unterschied dieselben bald als die des ersten und zweiten Bedienten, und den Gegenstand ihrer Unterhaltung bildete ihr Herr.

»Ich wette eine halbe Krone, daß er aus der Umgegend vertrieben wird, ehe noch eine Woche vergeht«, sagte der erste Diener.

»Abgemacht!« sagte der zweite. »Er läßt sich nicht so leicht vertreiben, wie Du glaubst.«

»Nicht?« entgegnete der andere. »Er wird vom Pöbel beschimpft werden, wenn er bleibt! Ich sage Dir nochmals, er ist mit der Patsche, in die er sich bereits hineingearbeitet, noch nicht zufrieden. Ich weiß es gewiß, daß er die Erzieherin beobachten läßt.«

Bei diesen Worten blieb Midwinter mechanisch stehen, ehe er ins Haus hineinging. Plötzlich überfiel ihn der erste Zweifel an dem Erfolge der beabsichtigten Ansprache an Allan. Der Einfluß, den die Stimme öffentlicher Verleumdung ausübt, ist eine Gewalt, die in einer den gewöhnlichen Gesetzen der Mechanik entgegengesetzten Weise wirkt. Er wird am stärksten nicht durch Concentration, sondern durch Zerstreuung. Gegen den ersten Laut mögen wir die Ohren schließen, aber das Echo desselben ist unwiderstehlich. Midwinter war auf dem Heimwege von dem Wunsche erfüllt gewesen, Allan noch aufzufinden und unverzüglich mit ihm zu sprechen. Jetzt war seine einzige Hoffnung die, Zeit zu gewinnen, um mit seinen neuen Zweifeln zu kämpfen und seine bösen Ahnungen zu beschwichtigen, sein einziger Wunsch, zu hören, daß Allan zur Ruhe gegangen sei. Er bog um die Ecke des Hauses und zeigte sich den Männern, die im Hintergarten ihre Pfeife rauchten. Sobald ihr Erstaunen ihnen zu sprechen gestattete, erboten sie sich, ihren Herrn zu wecken. Allan hatte die Ankunft seines Freundes für diesen Abend nicht mehr erwartet und war seit etwa einer halben Stunde schlafen gegangen.

»Der Herr gab den besonderen Befehl, Sir«, sagte der erste Bediente, »daß es ihm gemeldet würde, sowie Sie kämen.«

»Es ist mein besonderer Wunsch«, erwiderte Midwinter, »daß er nicht gestört wird.«

Die beiden Diener sahen einander verwundert an, als er die Kerze nahm und sie verließ.


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte