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Die Neue Magdalena - Buch 2

Kapitel 9

Spätere Ereignisse werfen ihren Schatten voraus

„Ich ging, wie ich es Ihnen in meinem Briefe bereits angekündigt hatte, zunächst nach Mannheim und erfuhr dort alles, was der Konsul und die Hospitalsärzte überhaupt wussten; es war nichts neues. Sie gaben mir die Richtung an, in welcher ich jenen Wundarzt, der die Fremde operiert hatte, zu finden hoffen konnte, und ich reiste sogleich dahin ab, um von ihm mehr zu erfahren. Er konnte mir aber in Betreff der Identität der Person keine Auskunft geben, da er sie gar nicht weiter kannte; dagegen machte er mir eine wichtige Mitteilung bezüglich ihres Geisteszustandes, und zwar dahingehend, dass er einen gleichen Fall an einem in der Schlacht von Solferino verwundeten Soldaten operiert habe, welcher durch die Operation zwar vom Tode gerettet worden, aber irrsinnig geblieben ist. Das ist jedenfalls schon ein nicht unwichtiger Gewinn; finden Sie nicht auch, Tante?”

Lady Janet hatte kaum noch Zeit gehabt, ihre gewöhnliche Stimmung wiederzugewinnen.

„Er mag recht wichtig für Leute sein”, antwortete sie, „welche zweifeln, dass Ihre bedauernswerte Schutzbefohlene überhaupt verrückt ist. Ich bezweifle dies nicht - und somit finde ich Ihren ganzen Bericht unsäglich langweilig. Kommen Sie zu Ende. Haben Sie Mercy Merrick entdeckt?”

„Nein.”

„Haben Sie etwas von ihr gehört?”

„Nichts. Überall stieß ich auf Hindernisse. Die französische Ambulanz war in Folge der Niederlagen Frankreichs aufgelöst. Die französischen Verwundeten befanden sich in deutscher Gefangenschaft, aber niemand wusste wo, und der französische Wundarzt war in einer Schlacht gefallen. Seine Unterärzte hatten sich - wahrscheinlich, um sich zu verbergen - nach allen Richtungen zerstreut. Ich begann schon an jedwedem Erfolge meiner Bemühungen zu verzweifeln, als mir der Zufall zwei preußische Soldaten in den Weg führte, welche damals gleichzeitig in dem französischen Häuschen gewesen waren. Sie bestätigten, was ich von dem deutschen Chefarzt und Horace bereits gehört hatte: dass sie keine schwarzgekleidete Krankenpflegerin dort gesehen hatten. Die Preußen fügten noch hinzu, dass, wenn eine solche überhaupt da gewesen wäre, sie doch keinesfalls die Verwundeten würde verlassen haben, da sie ja durch das Kreuz der Genfer Konvention von vorneherein geschützt war. Keine Wärterin, die dieses Ehrenzeichen trug, hätte die Verwundeten dem Feinde preisgegeben.”

„Kurz und gut”, warf Lady Janet dazwischen, ”es gibt keine Mercy Merrick?”

„Ich kann mir nichts anderes denken”, sagte Julian, „ausgenommen, der englische Arzt hat darin recht, dass sie selbst Mercy Merrick ist.”

Lady Janet erhob die Hand zu einer Einwendung.

„Sie und der Arzt glauben beide, diese Angelegenheit zu Ihrer beider vollkommenen Zufriedenheit ergründet zu haben”, sagte sie. „Aber etwas haben Sie dabei immer unberücksichtigt gelassen.”

„Und das ist?”

„Sie sprechen fortwährend von der wahnsinnigen Behauptung jener Person, dass Grace die gesuchte Wärterin und sie selbst Grace sei. Aber Sie erklärten dabei nicht, wie jene bei alledem zuerst auf diesen Gedanken gekommen ist; wie sie meinen Namen erfahren haben mag, und schließlich, woher sie so genau Gracens Papiere und ihre Verhältnisse kennt. Das sind Dinge, die ein Wesen von meinem gewöhnlichen Verstande sehr in Erstaunen setzen. Weiß Ihr gescheiter Freund auch dies zu erklären?”

„Wollen Sie wissen, was er mir heute morgen gesagt hat?”

„Brauch es lange, es zu wiederholen?”

„Ungefähr eine Minute.”

„Da bin ich angenehm überrascht. Fahren Sie also fort.”

„Sie wollen wissen, wie sie Ihren Namen erfahren und von Miss Roseberrys Verhältnissen Kenntnis erhalten hat”, nahm Julian das Gespräch wieder auf. „Der Arzt meint, auf eine oder die andere Weise: Entweder hat ihr Miss Roseberry, so lange beide Frauen allein in dem Häuschen waren, von Ihnen und ihren eigenen Angelegenheiten erzählt, oder die Fremde hat heimlich einen Einblick in Miss Roseberrys Papiere gewonnen. Sind Sie so weit einverstanden?”

Zum ersten Male fand jetzt Lady Janet die Sache interessant.

„Vollkommen”, sagte sie. „Ich kann mir sehr gut denken, dass Grace unvorsichtigerweise Dinge erwähnt hat, welche eine ältere und klügere Person für sich behalten hätte.”

„Sehr gut. Glauben Sie nun auch, dass sehr wahrscheinlich die Fremde mit dem Gedanken an Miss Roseberry und deren Verhältnisse im Kopf von der Granate getroffen wurde? Sie halten dies für möglich? Gut! Was geschieht aber nachher? Die Verwundete wird durch eine Operation wieder zum Leben gebracht und liegt in einem Mannheimer Hospital. Da verfällt sie in ein Delirium, während dessen der Gedanke an Miss Roseberry zur fixen Idee wird, und jetzt äußert sie dieselbe in dieser wunderlichen Form. Sie bleibt dabei und verharrt infolgedessen bei der Verwechslung beider Personen. Sie hält sich für Miss Roseberry und erklärt diese für Mercy Merrick. Das ist die Ansicht des Doktors. Was sagen Sie dazu?”

„Sie ist zwar sehr geistvoll, aber ich bin doch nicht damit zufrieden. Ich glaube -”

Lady Janet besann sich - und sprach ihren Gedanken nicht aus. Sie erhob ein zweites Mal die Hand zum Zeichen, dass sie anderer Meinung sei.

„Haben Sie noch Einwendung zu machen?” forschte Julian.

„Seien Sie doch still!” rief die alte Dame. „Sonst vergesse ich es wieder.”

„Was denn, Tante?”

„Das, was ich Ihnen schon vor einer Ewigkeit habe sagen wollen. Ich habe es jetzt gefunden, es fängt mit einer Frage an. Lassen Sie den Doktor sein, ich habe genug von ihm! Wo hält sich Ihr beklagenswerter Schützling - ich nenne sie eine verrückte, elende Person - jetzt auf? Ist sie noch in London?”

„Ja.”

„Und sie geht noch immer frei umher?”

„Ihre Hauswirtin, bei der sie wohnt, wacht über sie.”

„Das ist recht schön. Aber antworten Sie mir jetzt. Wie kann es ihr unmöglich gemacht werden, jemals wieder in dieses Haus zu gelangen - weder offen noch heimlich. Wie soll ich Grace, wie soll ich mich selbst vor ihr schützen?”

„Und darüber wollten Sie mit mir sprechen?”

„Nur darüber.”

Beide waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht bemerkt hatten, wie eine Männergestalt von draußen in den Wintergarten eingetreten war. Als diese jetzt mitten durch Blumen und Pflanzen auf den weichen, indischen Matten geräuschlos näher kam, erkannte man in ihr Horace Holmcroft. Er blieb vor dem Speisezimmer stehen und blickte forschend nach dem Unbekannten hin, welcher, ihm den Rücken kehrend, neben Lady Janet saß. Nach einer Weile sprach der Fremde; bei dem Klag seiner Stimme erkannte Horace sofort, dass es Julian war. Er blieb trotzdem noch stehen; die Eifersucht machte ihn argwöhnisch und neugierig, was Lady Janet allein wohl mitzuteilen habe, und so wollte er abwarten, ob sein Verdacht begründet sei.

„Weder Sie noch Miss Roseberry, brauchen sich irgendwie vor dem armen Geschöpf zu fürchten”, fuhr Julian fort. „Ich habe großen Einfluss auf sie - und habe ihr bereits vorgestellt, dass es ganz umsonst wäre, noch einmal hierher zu kommen.”

„Entschuldigen Sie”, warf Horace an der Tür des Wintergartens stehend, dazwischen. „Sie scheinen das nicht getan zu haben.”

Was er vorhin gehört, war genug gewesen, um seinen Verdacht zu zerstreuen. Dazu bot sich ihm gerade jetzt eine gute Gelegenheit, um sich einzuführen, und so trat er mit diesen gegen Julian gerichteten Worten ein.

„Guter Gott, Horace”, rief Lady Janet aus. „Woher kommen Sie, was führt Sie hierher?”

„Ich erfuhr von dem Torwärter, dass Sie mit Grace gestern abend zurückgekehrt sind. Und so trat ich gleich hier durch den Garten herein.” Sich an Julian wendend, fuhr er fort: „Die Person, von der Sie soeben sprechen, ist - in Lady Janets Abwesenheit - bereits hier gewesen.”

Lady Janet blickte rasch auf Julian. Dieser machte eine abwehrende Bewegung und sagte: „Unmöglich; das muss ein Irrtum sein.”

„Es ist kein Irrtum”, versetzte Horace. „Ich wiederhole, was mir eben der Torwärter gesagt hat. Er verschwieg es Lady Janet, um sie nicht zu beunruhigen; erst vor drei Tagen war die Person da und wollte durchaus wissen, wohin die Damen gereist seien. Natürlich hat er es ihr nicht gesagt.”

„Hören Sie, Julian?” sagte Lady Janet.

Dieser war jedoch darüber weder erzürnt, noch verletzt. Sein Gesicht drückte vielmehr in diesem Augenblicke tiefe Betrübnis aus.

„Seien Sie ganz unbesorgt”, sagte er ruhig zu seiner Tante. „Wenn sie Sie oder Miss Roseberry noch einmal belästigen sollte, so steht es bei mir, sie fernerhin unschädlich zu machen.”

„Wie wollen Sie das?” fragte Lady Janet.

„Ja wirklich, wie wäre das möglich?” wiederholte Horace. „Wenn wir sie der Polizei übergeben, so setzen wir uns dem öffentlichen Gerede aus.”

„Ich habe alles so vorbereitet, dass jedes Aufsehen dabei vermieden wird”, antwortete Julian, und während dieser Worte nahm sein Gesicht einen noch traurigeren Ausdruck an. „Bevor ich heute hierher kam, hatte ich eine Besprechung mit dem Polizeichef jenes Stadtviertels und habe auf der nächstgelegenen Polizeistation bereits meine Anordnungen getroffen. Auf Vorweisung meiner Karte wird von dort ein verlässlicher, gewöhnlich gekleideter Mann an die angegebene Adresse abgeschickt, und dieser führt sie dann in aller Ruhe ab. Der Chef wird sie auf seinem Zimmer verhören, und die Beweise prüfen, welche ich für die Behauptung, dass sie nicht zurechnungsfähig sei, vorbringe. Der Gerichtsarzt berichtet weiter von amtswegen, und das Gesetz bringt sie in den entsprechenden Gewahrsam.”

Lady Janet und Horace blickten einander in maßlosem Erstaunen an. Julian war nach ihrer Ansicht der Letzte, dem ein solch harter Schritt zuzutrauen gewesen wäre.

Die Tante bestand darum auf einer näheren Erklärung.

„Warum sagen Sie mir erst jetzt, dass Sie diese Vorsichtsmaßregeln getroffen haben?” fragte sie.

Julian antwortete offen, aber traurig.

„Ich hoffte, liebe Tante, dass es nicht nötig sein würde, zum Äußersten zu schreiten. Sie zwingen mich, Ihnen zu bekennen, dass sowohl mein Rechtsfreund als auch der Doktor, welche ich beide heute schon gesprochen habe, Ihrer Ansicht sind und glauben, dass man die Person sich nicht selbst überlassen kann. Nur auf das Drängen dieser beiden hin bin ich zu dem Polizeichef gegangen. Sie wiesen mir nach, dass das Resultat meiner Nachforschungen - wenn auch in anderer Beziehung unbefriedigend - doch die Annahme bestätigt habe, dass der Geist des armen Geschöpfes gestört sei. Ich konnte dem unmöglich widersprechen und war deshalb gezwungen, die von dem Rechtsfreund und dem Doktor als notwendig erkannten Maßregeln zu ergreifen. Ich habe meine Pflicht getan - mit widerstrebendem Herzen. Es ist gewiss eine Schwäche von mir, der Gedanke ist mir unerträglich, dass dieses unglückliche Wesen mit Härte behandelt werden soll. Ihr Zustand ist hoffnungslos und ihre Lage wirklich verzweifelt!”

Seine Stimme stockte. Er wandte sich plötzlich ab und nahm seinen Hut.

Lady Janet folgte ihm und sprach an der Tür einige Worte mit ihm. Horace lächelte höhnisch und stellte sich an den Kamin, um sich am Feuer zu wärmen.

„Sie gehen fort, Julian?”

„Ich suche den Torwärter auf, um ihm für den Fall, dass er sie wieder sehen sollte, einen Auftrag zu geben.”

„Sie kommen doch wieder?” Ihre Stimme sank zum Geflüster herab. „Es ist wirklich nötig, Julian, dass Sie jetzt hier bleiben.”

„Ich verspreche es Ihnen, Tante, nicht eher fortzugehen, als bis ich Sie vollkommen in Sicherheit weiß. Sollten Sie oder Ihre Adoptivtochter noch einmal durch die Unglückliche in Schrecken versetzt werden, so schicke ich - darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort - zur Polizei, wenn es mir auch noch so schwer fällt.” Auch er dämpfte bei den folgenden Worten seine Stimme. „Unterdessen erinnern Sie sich meines Geständnisses und lassen Sie mich um meinetwillen so wenig als möglich von Miss Roseberry sehen und hören. Kann ich Sie bei meiner Rückkunft wieder hier treffen?”

„Ja.”

„Allein?”

Er legte in Blick und Ton ein besonderes Gesicht auf dieses Wort. Lady Janet verstand ihn.

„Sind Sie denn wirklich”, flüsterte sie, „so ernsthaft in Grace verliebt?”

Julian legte die eine Hand auf den Arm seiner Tante und mit der anderen deutete er auf Horace, der - ihnen den Rücken zugekehrt - am Kamin stand und seine Füße auf dem Gitter davor wärmte.

„Nun?” fragte Lady Janet.

„Nun”, wiederholte Julian lächelnd, aber dabei eine Träne im Auge zerdrückend. „Noch keinen Menschen habe ich so beneidet wie ihn.”

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.


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