Verbergen und Suchen



Zweiter Band - Verbergen und Suchen

Erstes Kapitel - Ein alter Freund

Die Zeit hatte die Frau Peckover mit einem ziemlich starken Embonpoint versehen, ihr aber großmütig nichts oder wenig dafür genommen. Ihr Haar war allerdings seit der Zeit, wo Valentin sie zum ersten Mal im Circus traf, grau geworden, aber ihr gutgelauntes Gesicht sah noch immer so lebhaft und herzlich aus, wie nur je in früheren Tagen. Ihre Backen hatten gewaltig an Umfang gewonnen, ihr Kinn war aus dem zweiten in das dritte Stadium jovialer Entfaltung getreten; einige zweifelhafte Spuren von einer Taille, die sie früher besessen hatte, waren spurlos verschwunden, aber an der geschäftigen Manier, mit der sie in Frau Blyths Zimmer eintrat, war leicht zu erkennen, dass ihr Tätigkeitssinn nichts von seiner früheren Kraft verloren hatte und noch immer allen körperlichen Hindernissen Trotz bieten konnte.

Zahllose Bruchstücke cordialer Worte hervor keuchend, Herrn und Frau Blyth, sowie Zack zulächelnd und zunickend, bis die mächtig große altmodische Haube auf ihrem Kopfe fieberhaft zitterte, schritt die gute Frau, jeden beweglichen Gegenstand im Zimmer erschütternd, gerade auf den Teetisch zu und schloss Madonna in ihre gewaltigen Arme. Das zarte Gesicht des jungen Mädchens schien in einer dichten Wolke von Haubenbändern und unergründlichen Stoffen zu verschwinden, als Frau Peckover sie mit einem prasselnden Feuer von Küssen begrüßte, deren Schall trotz des hastigen Sprechens des Herrn Blyth und des lauten Gelächters Zacks hörbar war.

»Ich will Ihnen sogleich sagen, wie ich hierher komme, mein Herr; ich musste doch aber wenigstens erst nach meiner alten Weise zur kleinen Marie »guten Tag« sagen“, begann Frau Peckover entschuldigend, die man nicht dahin bringen konnte, den Namen »kleine Marie«, welchen sie in früheren Jahren so oft und so gern ausgesprochen hatte, mit dem ihr in Valentins Hause gegebenen »Madonna« zu vertauschen. Dies kam daher, weil dieses würdige Geschöpf durchaus nicht das Geringste von Raphael wusste und sie »Madonna« als ein ausländisches Wort betrachtete, das mit Guy Fawkes und der Pulververschwörung in Verbindung stände, und daher fest glaubte, dass eine Engländerin von gesetzten Jahren ihren Charakter kompromittieren müsste, sobald sie diesen Namen auszusprechen wagte.

»Ich will Ihnen sagen, mein Herr —— ich will Ihnen sogleich sagen, warum ich nach London gekommen bin“, wiederholte Frau Peckover, majestätisch vom Teetische aufstehend, und bewegte sich leicht um ihre eigene Achse nach der Richtung des Kissens hin, um sich genau nach der Gesundheit der Frau Blyth zu erkundigen.

»Ich befinde mich weit besser, meine gute Freundin —— weit besser“, war die tröstliche Antwort; »aber bitte sagen Sie uns, weshalb Sie uns aus diese Weise überrascht haben?“

»Nun, verehrte Frau“, fing Frau Peckover an, »es ist für mich beinah fast eine ebenso große Überraschung in London zu sein, als es —— sein Sie ruhig, Sie junger Taugenichts; ich werde Ihnen nicht einmal die Hand geben, wenn Sie sich nicht anständig betragen!“ Die letzten Worte richtete sie an Zack, dessen Lieblingsscherz vom ersten Tage seiner Bekanntschaft mit ihr in Valentins Hause es stets gewesen war, sich fürchterlich verliebt in sie zu stellen. Er stand jetzt mit weit geöffneten Armen, die Röstgabel in der einen Hand und den Teekuchen, welchen er verbrannt hatte, in der andern, versuchte schmachtend auszusehen und bat Frau Peckover um einen Kuss.

»Sobald Sie es verstehen, einen Teekuchen gehörig zu rösten, könnte ich mich vielleicht entschließen, Ihnen einen zu geben“, sagte sie, indem sie triumphierend über ihre eigene kleine, ihr sehr witzig erscheinende Antwort lachte. »Bitte, Herr Blyth, sorgen Sie dafür, dass er sich ruhig verhält, oder ich werde kein Wort von Allen dem herausbringen können, was ich zu sagen habe. Sehen Sie, verehrte Frau, Doktor Joyce ——“

»Wie befindet er sich?“ unterbrach sie Valentin, indem er ihr eine Tasse Tee überreichte.

»Er ist der beste Mann von der Welt, mein Herr, aber er trinkt gern sein Glas Portwein nach Tische und davon kommt es, dass er jetzt an der Gicht darniederliegt.“

»Und Frau Joyce?«

»Die ist auch krank, mein Herr —— das ganze Haus ist beim Rektor mit Krankheit geplagt —— geplagt mit der Influenza.«

»Hat eins von den Kindern auch die Influenza?« fragte Frau Blyth. »Ich hoffe nicht.«

»Nein, verehrte Frau, sie sind Alle wohl, das jüngste Mädchen ausgenommen. —— Erinnern Sie sich ihrer noch, mein Herr? Es ist dieselbe, die so schnell wuchs, als sie zum letzten Male beim Rektor waren. —— Ihrethalben komme ich nach London.«

»Ist das Kind krank?« fragte Valentin ängstlich. »Es ist so ein allerliebstes kleines Geschöpf, Lavinia, ich möchte es gern malen.«

»Ich befürchte, sie eignet sich jetzt gerade nicht gut zum Malen«, erwiderte Frau Peckover. »Frau Joyce ist in schrecklicher Unruhe ihrethalben, weil eine ihrer Schultern schief geworden ist. Der Rubbleforder Doktor zweifelt zwar nicht daran, dass dieser Übelstand wieder beseitigt werden könnte, aber er sagt, man müsste sogleich mit ihr zu einem berühmten Doktor in London gehen. Da nun weder ihr Vater noch ihre Mutter im Stande waren, sie nach dem Hause ihrer Tante hinzubringen, so beauftragten sie mich damit. Wie Sie wissen, mein Herr, seit Doktor Joyce meinem Manne eine Stelle in Rubbleford verschafft hat, habe ich mich immer bemüht, mich in der Wohnung des Rektors bei den Kindern und sonst in der Wirtschaft nützlich zu machen; und da Fräulein Lucy sich an mich gewöhnt hat, so fuhren wir ganz fröhlich und heiter auf der Eisenbahn zusammen hierher. Sie können sich wohl leicht vorstellen, wie sehr erfreut ich war, eine solche Gelegenheit hierher zu finden, zumal ich die kleine Marie so lange nicht gesehen habe. Ich ließ Fräulein Lucy bei ihrer Tante, wo man sehr freundlich gegen mich war und mich die Nacht über dort zu behalten wünschte. Ich sagte aber, dass ich, so oft ich mich auch in London befände, stets durch Ihre Güte ein Bett in Ihrer Wohnung für mich hätte, und nachdem ich so das kleine Mädchen sicher und bequem untergebracht wusste, setzte ich mich in eine Droschke und fuhr hierher. Das ist die ganze Geschichte, wie ich dazu kam, Sie auf diese Weise zu überraschen, verehrte Frau —— und nun will ich meinen Tee austrinken.«

Nachdem sie ihre Tasse ausgetrunken und einen Teekuchen, der ihr von dem unverbesserlichen Zack als ein Beweis seiner unabänderlichen Zuneigung mit verliebter Miene präsentiert worden war, aufgegessen hatte, gewann Frau Peckover Zeit, sich wieder zur Madonna zu wenden, die ihr Hut und Shawl abgenommen hatte und jetzt dicht neben ihr saß. »Bei meinem jetzigen Eintritte dachte ich nicht, dass sie ganz so wohl aussehe, wie gewöhnlich, aber sie scheint sich jetzt wieder erholt zu haben«, sagte Frau Peckover, indem sie dem Mädchen mit ihren dicken Fingern auf die Wange klopfte. Und in der Tat, die stille Trauer war bei dem Anblick ihrer ältesten Freundin und Mutter von dem Gesicht der Madonna verschwunden. —— »Vielleicht hat sie sich kürzlich ein wenig zu sehr mit dem Zeichnen beschäftigt ——«

»Beiläufig gesagt, da wir gerade vom Zeichnen sprechen, was ist aus meiner Zeichnung geworden?« rief Zack aus, als er sich plötzlich zum ersten Male des Geschenks erinnerte, welches er von der Madonna zum Andenken erhalten hatte.

»Mein Gott«, fuhr Frau Peckover fort, als sie die drei Zeichenbretter erblickte, welche um das Fußgestell der Büste herumstanden, »hat dies alles die kleine Marie gemacht? Ich vermute, sie ist jetzt geschickter als je vorher im Zeichnen. O, mein Himmel, was für eine alte Frau ich geworden bin, wenn ich an die vielen vergangenen Jahre denke ——«

»Kommen Sie und sehen Sie, was sie heute Abend gearbeitet hat«, unterbrach sie Valentin, Frau Peckover beim Arm nehmend und denselben sehr bedeutungsvoll drückend, als er nach jenem Teil des Tisches hinblickte, wo der junge Thorpe saß.

»Meine Zeichnung —— wo ist meine Zeichnung?« wiederholte Zack. »Wer stellte sie weg, als der Tee hereingebracht wurde? O! dort liegt sie, ganz gut verwahrt auf dem Bücherschranke.«

»Ich gratuliere Ihnen, mein Herr, dass Sie sich endlich erinnern, dass überhaupt das Geschenk der Madonna noch für Sie existiert«, sagte Frau Blyth sarkastisch.

Zack sah verblüfft vom Tee auf und fragte sogleich, was jene Worte bedeuteten.

»O bitte, beachten Sie dieselben nicht«, sagte Frau Blyth in demselben Tone, »Sie sind keiner Erklärung wert. Hörten Sie jemals von einem jungen Gentleman, der einen Teller voll Teekuchen mehr schätzte, als das Geschenk einer Dame? Ich glaube nicht! Ich wenigstens niemals. Sprechen Sie nicht mehr mit mir darüber, ich habe hier ein Buch, das ich auslesen möchte. Nein, es hilft Ihnen nichts, ich werde kein Wort weiter sagen.«

»Was für ein Unrecht habe ich begangen?« fragte Zack, kläglich und bestürzt aussehend, als er zu ahnen anfing, dass er irgendeinen unverzeihlichen Verstoß begangen haben musste. »Ich weiß, dass ich einen Teekuchen verbrannt habe, aber was hat das mit meinem Geschenke von der Madonna zu tun?« (Frau Blyth schüttelte bei diesen Worten mit dem Kopfe, öffnete ihr Buch und vertiefte sich sogleich darin). »Dankte ich ihr nicht dafür in gehöriger Weise? Ich würde ein Unmensch und ein Narr sein, wenn ich nicht dankbar dafür und stolz auf das sein wollte, was sie für mich gearbeitet hat.« (Hier hielt er inne, aber Frau Blyth achtete nicht auf ihn). »Ich befürchte, dass ich in eine sehr unangenehme Lage gekommen bin! Scherzen Sie darüber, so viel Sie wollen, aber sagen Sie mir, worin sie besteht. Sie wollen nicht? Nun, dann will ich schon suchen, alles von der Madonna darüber zu erfahren. Sie weiß es natürlich und wird es mir sagen. Sehen Sie hierher, Frau Blyth, ich werde nicht eher aufstehen, bis sie mir alles gesagt hat.« Zack fiel hierauf mit einer komisch-bittenden Miene am Stuhle der Madonna auf seine Knie nieder, bemächtigte sich sogleich ihrer Schiefertafel, die immer noch an ihrer Seite hing, und verhinderte so, dass sie sich von ihrem Sitze erheben konnte.

Während der junge Thorpe Fragen, Beteuerungen und Unsinn aller Art schnell hintereinander auf die Tafel schmierte, las die Madonna, —— deren Augen unter Tränen zu lächeln suchten —— seine Fragen und Wünsche mit zweifelnder Miene. Anfangs konnte sie es kaum über sich gewinnen, an seine aufrichtige Reue zu glauben, als er aber die Bitte niederschrieb, sie möge sanft und verzeihend auf ihn nieder blicken, und dieselbe mit flehender Gebärde begleitete, so konnte Madonna trotz der geheimen Zeichen, die ihr von Madam Blyth für das Gegenteil gemacht wurden, doch nicht umhin, ihm seine Sorglosigkeit zu vergeben und ihm wie gewöhnlich wieder zum Beweise ihrer Aufrichtigkeit ihre Hand zu überlassen.

Während diese kleine Szene an einem Ende des Zimmers vor sich ging, war eine Szene anderer Art —— ein Gespräch in geheimnisvollem Flüstern zwischen Herrn Blyth und seinem Besuche vom Lande, an dem andern im vollen Gange.

Die Zeit hatte Valentins an Krankheit grenzende Angst über das strenge Geheimhalten eines jeden Umstandes, der sich auf Frau Peckovers erste Bekanntschaft mit der Madonna und ihrer Mutter bezog, keineswegs vermindert. Die Jahre, welche ihm jetzt in unbestrittenem Besitze seines Adoptivkindes dahingeschwunden waren, hatten die übermäßige Vorsicht, das Wenige, was von ihrem Leben bekannt war, geheim zu halten, nicht verringert, ja ihn sogar angetrieben, Doktor Joyce und seine Frau zu verpflichten, dass sie niemals die besonderen Umstände der in der Rektorwohnung mitgeteilten Erzählung gegen jemand erwähnten. Er konnte dessen ungeachtet seine erste Furcht nicht besiegen, dass sie eines Tages aufgespürt, ihm abverlangt und entrissen würde, sobald jene Erzählung, so armselig sie an sich war, jemals andern Ohren, als denjenigen, welche sie ursprünglich mit angehört hatten, anvertraut werden würde. Noch hielt er das Haararmband und das Taschentuch, welche ihrer Mutter gehört hatten, sorgfältig vor Jedermann in seinem Bureau verschlossen und dennoch zweifelte er an der Verschwiegenheit der Frau Peckover, wie er es schon in früheren Tagen getan hatte, als das kleine Mädchen zuerst in sein Haus kam.

Nachdem er einen Vorwand gesucht hatte, um ihr die am heutigen Abend angefangenen Zeichnungen zu zeigen, wusste es Herr Blyth schlau anzustellen, um Frau Peckover an denselben vorbei nach einem Winkel in dem äußersten Ende des Zimmers zu führen.

»Wohlan«, sagte er mit einem unnötigen leisen Flüstern, wenn man die Entfernung in Anschlag brachte, welche ihn jetzt von Zack trennte, und welche so groß war, dass niemand die Worte, welche er in einem leisen Tone hätte sagen können, verstanden haben würde, nicht einmal einer, der in der bestimmten Absicht ganz besonders gelauscht hätte, um sie zu erhorchen. »Wohlan, sind Sie überzeugt, dass Sie gegen niemand etwas ausgeplaudert haben, seit wir uns zuletzt sahen —— Sie verstehen, etwa beim Plaudern mit den Nachbarn —— über Ihr erstes Zusammentreffen mit unserm Lieblingsmädchen? Oder über ihre arme Mutter? Oder ——?«

»Wie, Sie fangen die alte Geschichte wieder an, mein Herr?« unterbrach ihn Frau Peckover hochmütig, aber in ebenso flüsterndem Tone, um Herrn Blyth nachzuahmen —— »Sie, der Sie noch obendrein ein so geschickter Mann sind! Mein Himmel, wie oft soll ich es Ihnen denn noch sagen, dass ich alt genug bin, um meine Zunge im Zaum zu halten! Wie lange wollen Sie sich denn noch ängstigen, etwas zu verbergen, was niemand sucht?«

»Meine gute Seele, Sie wissen, ich glaube immer, dass Sie Ihren Mund halten können«, erwiderte Valentin schmeichelnd, »aber gerade jetzt waren Sie hier in der Gegenwart des jungen Thorpe in Begriff, von alten Zeiten und von dem, was Sie sich von früher her von unserm lieben Kinde erinnerten, zu sprechen, wenn ich Sie nicht unterbrochen hätte.«

»Ich wollte durchaus nichts derartiges sagen, mein Herr, und ich wundere mich, wie Sie mir so etwas zumuten konnten«, antwortete Frau Peckover schnell und entschieden.

»Dann habe ich mich geirrt und ich bitte um Verzeihung.« Hier hielt er inne, um sich nach Zack umzusehen. Wie er aber bemerkte, dass der junge Thorpe zu sehr mit der Madonna beschäftigt war, um auf irgendetwas anderes zu achten, fügte er hinzu: »Und Ihr Mann? und Doktor Joyce und Frau Joyce, keiner von Ihnen, sagen natürlich jemals ein Wort darüber vor andern Leuten?«

»Täten Sie nicht besser, wenn Sie an alle drei schrieben und sie selber darüber befragen, mein Herr?« wandte Frau Peckover spöttisch ein. »Es würde weit beruhigender sein, als sich auf ein altes, geschwätziges Weib wie mich, zu verlassen, das kein Geheimnis bewahren kann.«

»Still! Still!« sagte Valentin, ihre Hand ergreifend, »Sie glauben doch nicht, dass ich Sie beleidigen wollte? Sie wissen, hierüber haben wir immer unsern kleinen Zwist, nicht wahr? Aber wir sahen darin niemals eine Beleidigung —— o nein, niemals! Dazu sind wir zu alte Freunde.«

Frau Peckover stimmte diesem Ausspruch lächelnd bei und schickte sich an, nach dem andern Ende des Zimmers zurückkehren; Herr Blyth hielt sie jedoch einige Augenblicke länger zurück und fuhr ernst, fast traurig fort: »So oft ich Sie sehe, meine gute Freundin, bilde ich mir ein, die ganze traurige Geschichte unseres Lieblingskindes und ihrer elenden verlassenen Mutter, deren Namen wir nicht einmal kennen, wieder zu hören. Ich fühle auch, wenn Sie uns besuchen fast mehr, als zu andern Zeiten, wie die Tochter, die Sie uns gegeben, Lavinia und mir unaussprechlich teuer geworden ist; und ich denke mit mehr Furcht, als ich wohl zu beschreiben im Stande bin, an den schrecklichen Fall, wenn unbedachtsamer Weise irgendetwas darüber gesagt und von einem zum andern weiter gesprochen würde.«

»O mein Himmel, wie können Sie nur nach so vielen Jahren noch so etwas befürchten?«

»Ich bin niemals lange ängstlich, Frau Peckover, meine gute Laune vertreibt immer jede Angst, sie sei groß oder klein, aber so lange ich nicht weiß, ob nicht noch Verwandte von ihr —— vielleicht ihr schurkischer Vater selbst —— noch leben könnten und nach ihr forschen ——«

»Darüber können Sie sich beruhigen, Herr Blyth, von ihren Verwandten lebt keiner mehr, und wenn es der Fall wäre, so bekümmert sich keiner um das arme Lamm. Dafür will ich stehen.«

»Ich hoffe zu Gott, dass Sie Recht haben«, sagte Valentin ernst. »Aber lassen Sie uns jetzt nicht mehr daran denken«, fügte er hinzu und ging wieder zu seinem gewöhnlichen Benehmen über. »Ich habe meine regelmäßigen Fragen vorgebracht, welche ich stets stelle, so oft ich Sie sehe; Sie haben mir dies wie gewöhnlich verziehen und nun bin ich ganz zufrieden. Nehmen Sie meinen Arm, Frau Peckover. Um Ihre Ankunft zu feiern, will ich den Studenten meiner neuen Zeichenakademie für den übrigen Teil des Abends ihre Arbeit erlassen. Was denken Sie davon, wenn wir nach alter Weise ein Spielchen machten?«

»Das ist es gerade, woran ich selbst dachte und womit ich sehr zufrieden sein würde, nämlich, so lange jedes Spiel nur um sechs Pence gespielt wird«, sagte Frau Peckover heiter. »Ich sage, junger Herr«, fuhr sie, als Herr Blyth sie verlassen hatte, um die Karten zu holen, an Zack gewendet fort, »was für Unsinn schreiben Sie da auf unseres Lieblings Tafel? Sie ist ja ganz verwirrt und errötet bis hinter die Ohren, wenn sie auf ihre arme alte Peckover blickt? Gott segne sie! sie vertreibt sich jetzt ebenso leicht die Zeit, wie damals, als sie noch ein Kind war. Gib mir noch einen Kuss, mein Liebling. Du verstehst, was ich meine, nicht wahr, wenn Du auch nicht hören kannst! O, du meine Güte! wenn sie so dasteht und mich mit ihren Augen betrachtet, so ist sie das lebende! Bild von ——«

»Cribbage«, rief Herr Blyth aus, ein dreieckiges Brett für drei Spieler auf dem Tisch befestigend und Frau Peckover mit dem vorwurfsvollsten und verweisendsten Ausdrucke ansehend, den seine Gesichtszüge annehmen konnten.

Sie fühlte, dass sie jenen Blick verdient hatte, und näherte sich beinah verwirrt dem Spieltisch, ohne noch ein Wort weiter zu sagen. Hätte sie aber Valentin nicht zum zweiten Male unterbrochen, so würde sie in der Gegenwart des jungen Thorpe erklärt haben, dass die Madonna das lebende Bild ihrer Mutter wäre.

Glücklicher Weise kam ihr Zack während der augenblicklichen, unangenehmen Stille, welche jetzt entstand, zu Hilfe. Während sie sprach, war er nach dem Bücherschrank gegangen, um sein Geschenk zu holen und es ihr zu zeigen. Hierauf setzte er, als sie die Zeichnung betrachtete, seinen Lieblingsscherz fort, —— indem er sie bat, auf die Madonna nicht eifersüchtig zu sein; dabei versuchte er seinen Arm um ihre Taille zu legen und erklärte, dass Frau Peckover der Name des einzigen weiblichen Wesens wäre, das er jemals wahrhaft geliebt hätte.

Außerdem bestürmte er sie noch mit so vielem geräuschvollem Unsinn, dass sie ihre gute Laune und den Gebrauch ihrer Zunge zu ihrer Selbstverteidigung sogleich wieder erlangte.

»Die Madonna wird wie gewöhnlich mitspielen. Willst Du die dritte abgeben, Lavinia?« fragte Valentin, als er die Karten mischte. »Zack brauchen wir gar nicht zu fragen, er kann noch nicht einmal zählen.«

»Nein, ich danke Dir, mein Lieber. Ich werde hinlänglich genug zu tun haben, wenn ich mit meinem Buche fortfahre und es während Eures Spiels nebenbei versuche, Meister Tollkopf hier in Ordnung zu halten«, erwiderte Frau Blyth.

Das Spiel fing an. Es war eine hergebrachte Sitte, dass, so oft Frau Peckover nach Herrn Blyths Hause kam, Cribbage gespielt wurde und die Madonna daran Anteil nehmen musste. Dies wurde hauptsächlich ihrethalben in dankbarer Erinnerung an die alten Zeiten getan, als sie unter der Fürsorge von Jemmys Frau lebte und wo sie von ihr Cribbage gelernt hatte, damit sie nach ihrer Genesung von dem im Circus sie betroffenen Unglücke eine kleine Zerstreuung hatte. Es war ein charakteristischer Zug und eine sonderbare Eigentümlichkeit ihrer Gemütsart, dass der Anblick der Karten, welche sie die Tage des Leidens und der Betrübnis und an die spätere Periode der mühsamen Produktionen vor dem Publikum, wobei die dieselben eine große Rolle spielten, niemals eine schmerzliche Erinnerung bei ihr hervorrief. Bei den angenehmen Nebenumständen aber, welche an ihnen hafteten, bei der sinnigen Güte, die sie in ihrem tiefen Schmerze so oft getröstet hatte, und bei der selbstleugnenden Liebe, die ihre Betrübnis gemildert hatte, verweilte ihr Herz, abgesehen von allen andern Dingen, immer und immer wieder sehr gern.

Valentins größte Aufmerksamkeit entdeckte niemals einen traurigen Blick in ihrem Gesicht, so oft Frau Peckover in London war, und wenn sie dasjenige Kartenspiel spielten, welches ihr zuerst nach dem Unglücke, das einen ihrer Sinne gänzlich zerstört und die Ausübung der andern gehemmt hatte, gelehrt worden war.

Zu Frau Blyths großem Erstaunen brauchte Zack zehn volle Minuten lang, während die andern Karten spielten, durchaus nicht in Ordnung gehalten zu werden.

Es war die unglaublichste aller menschlichen Erscheinungen, aber er stand zuverlässig ganz ruhig mit seinem Bilde in der Hand neben dem Kamine und dachte wirklich nach! Frau Blyths Erstaunen bei dieser beispiellosen Veränderung in seinem Benehmen wuchs so sehr, dass sie ihr Buch weglegte, um ihn ungestörter betrachten zu können. Er bemerkte dies und näherte sich sogleich ihrem Kissen.

»Das ist recht«, sagte er, »lesen Sie nicht weiter. Ich möchte gern eine ordentliche ernste Beratung mit Ihnen halten.«

»Erst einen Besuch von Frau Peckover, dann eine ernste Beratung mit Zack! Das ist ein wunderbarer Abend! ——« dachte Frau Blyth.

»Ich habe bei der Madonna alles wieder in das gehörige Geleise gebracht«, fuhr Zack fort. »Sie hält mich durchaus nicht für schlechter, weil ich mich, als wir den Tee tranken, beim Rösten der Teekuchen wie ein Narr benommen habe; aber das ist es gerade nicht, worüber ich jetzt mit Ihnen sprechen wollte: es ist eine Art Geheimnis. Erstens: ——«

»Sprechen Sie stets von Ihren Geheimnissen so laut, dass sie jedermann hören kann?« fragte Frau Blyth lachend.

»O, das tut durchaus nichts«, erwiderte er nicht im Geringsten mit leiserer Stimme; »es ist nur vor der Madonna ein Geheimnis, und wir können vor der armen Seele sprechen, gerade, wie wenn sie nicht im Zimmer wäre. Nun, die Sache verhält sich so: sie hat mir ein Geschenk gemacht, und ich denke, ich muss meine Dankbarkeit durch ein Gegengeschenk beweisen. Er nahm hierbei seine gewöhnliche Manier wieder an und begann auf seine übliche, unruhige, schnelle Weise im Zimmer auf und ab zu gehen. Wohlan, ich habe über das Geschenk nachgedacht —— ein recht hübsches muss es natürlich sein. Ich kann ihr keine Zeichnung von mir geben, die einen Nasenstüber wert wäre; und sogar, wenn ich könnte ——«

»Wollen Sie nicht lieber herkommen und sich hier niedersetzen, Zack«, unterbrach ihn Frau Blyth. »Wenn Sie immer auf diese Weise vor dem Spieltische auf und ab gehen, stören Sie die Aufmerksamkeit der Madonna beim Spiel.«

Das war auch ohne Zweifel der Fall, wie konnte sie genau auf ihr Spiel achten, wenn er immer an ihr vorüberging und stets ihre Zeichnung in seinen Händen trug, wie wenn er sie zu hoch schätzte, um sie wegzulegen! —— Sie musste ja bei dem Gedanken an diese unschuldige kleine Schmeichelei Gefallen finden und ihm recht oft nachblicken.

Zack folgte der Einladung der Frau Blyth, setzte sich zu ihr und kehrte seinen Rücken den Cribbage-Spielern zu.

»Nun, es handelt sich darum, was für ein Geschenk ich ihr geben soll«, fuhr er fort. »Ich habe es in meinem Kopfe hin und her überlegt und habe endlich herausgebracht ——«

»Fünfzehn zwei, fünfzehn vier, und ein Paar macht sechs«, sagte Valentin, die Stiche zusammenzählend, welche er in jenem Augenblicke in der Hand hatte.

»Bemerkten Sie jemals, dass sie eine besonders hübsche Hand und einen schönen Arm hatte?« fuhr Zack einigermaßen ausweichend fort. »Ich verstehe mich selbst auf solche Dinge, und von allen andern Mädchen, welche ich jemals sah ——«

»Kümmern Sie sich nicht um andere Mädchen«,erwiderte Frau Blyth. »Sagen Sie mir, was Sie der Madonna zu geben gedenken.«

»Zwei auf seine Hacken«, rief Frau Peckover aus, mit großer Heiterkeit einen Buben stechend.

»Ich gedenke ihr ein Armband zu geben«, sagte Zack.

Valentin sah schnell vom Spieltische auf.

»Bitte, mein Herr, spielen Sie«, sagte Frau Peckover; »die kleine Marie wartet auf Sie.«

»Nun Zack«, sprach Frau Blyth, »Ihre Idee, Madonnas Geschenk zu erwidern, billige ich von ganzem Herzen, nur würde ich ein etwas weniger kostbares empfehlen. —— Wissen Sie denn nicht, dass es zu den Wunderlichkeiten der Madonna gehört, keinen Wert auf Juwelierarbeit zu legen; sie hätte sich schon längst ein Armband von ihren eignen Ersparnissen kaufen können, wenn Pretiosen nur irgendwie einen Reiz in ihren Augen gehabt hätten.«

»Warten Sie einen Augenblick, Frau Blyth«, sagte Zack mit sichtlicher Genugtuung; »Sie haben das beste von meiner Idee noch nicht gehört, Kern und Mark kommen erst noch nach. Das Armband, welches ich ihr zu geben beabsichtige, ist ein solches, das sie bis zu ihrem Todestage hoch schätzen wird, oder sie ist nicht das liebende, hochherzige Mädchen, wofür ich sie halte. Was denken Sie von einem Armbande, das sie an Sie, an Valentin und an die alte drollige Peckover erinnert —— und auch ein wenig an mich! Ich denke, sie wird es meinetwegen doch wohl hoffentlich nicht schlechter halten. Ich führe etwas gegen alle Ihre Köpfe im Schilde, fuhr er fort, ahnte die Pantomime des Haarabschneidens mit der Schere und zweier seiner Finger nach und sprach mit triumphierender Stimme. Es ist eine köstliche Idee! Ich denke der Madonna ein Haararmband zu geben!«

Frau Peckover und Herr Blyth sanken auf ihre Stühle zurück und sahen sich einander so verwundert an, wie wenn Zacks letzte Worte aus einer geladenen Batterie gekommen wären und sie beide zu gleicher Zeit mit einem scharfen elektrischen Schlage getroffen hätten. Bei einer gewöhnlichen Gelegenheit würden die Erinnerungen, die des jungen Thorpes Äußerung angeregt hatte, nicht einen so mächtigen, wirkungsvollen Eindruck hervorgebracht haben, oder sie würden höchstens, wenn ja einmal erweckt, bald wieder vergessen worden sein, aber an jenem besonderen Abend nach einer solchen, vor kaum einer halben Stunde stattgefundenen Unterredung hatte die bloße Erwähnung eines Haararmbandes, das auf die Madonna Bezug hatte, eine unbestimmte üble Vorbedeutung für Beide. Aus ein und demselben Antriebe sahen sie von sich nach dem Mädchen hin, welches zwischen ihnen saß und erstaunt war, dass das Spiel, ohne dass sie dazu irgendeine Ursache finden konnte, plötzlich unterbrochen wurde.

»Wie kommt er nur auf den Gedanken, unter allen den vielen Geschenken, die es für Mädchen gibt, gerade ein Armband zu wählen«, fuhr Frau Peckover mit gedämpfter Stimme heraus; und während sie so sprach, wandte sich ihre Erinnerung jenem Tage zu, an welchem sie den Leichnam von Mariens Mutter durchsucht und ganz in der Ecke einer Tasche verborgen das Haararmband gefunden hatte.

»Still! lassen Sie uns mit unserm Spiele fortfahren«, sagte Valentin. Auch er dachte an das Haararmband, wie er es beinah vor Jahren vernichtet haben würde, wenn sein Gewissen und sein Ehrgefühl ihn nicht davon abgehalten hätten. Gleichzeitig vergegenwärtigte er sich die verhängnisvollen Entdeckungen, die möglicherweise gemacht werden könnten, wenn es jemals in fremde Hände fiele.

»Ein Haararmband«, fuhr Zack fort, und ahnte nicht im Geringsten die Wirkung, welche er auf zwei von den Kartenspielern hervorgebracht hatte, »und aus den von mir genannten Haaren soll es angefertigt werden. —— Nun, die Madonna wird es für kostbarer halten, als alle Diamanten auf der Welt. Ich fordere jeden heraus, ob er eine bessere Idee zu einem Geschenke hätte ersinnen können, es ist elegant und passend —— nicht wahr?«

»O, ja! wirklich sehr niedlich und hübsch«, erwiderte Frau Blyth beinah zerstreut und verwirrt. Sie kannte von der Geschichte der Madonna ebenso viel wie ihr Mann und war neugierig, was Valentin über das Geschenk sagen würde, das der junge Thorpe ihrem Adoptivkind zu machen gedachte.

»Aber nun möchte ich auch vor allen Dingen wissen«, fuhr Zack eilig fort, »welches Muster Sie für das Armband am passendsten halten. Zwei Arten der darin befindlichen Haare wird man natürlich in jede beliebige Form bringen können —— Ihr Haar nämlich und das der Frau Peckover.«

»Nicht ein Härchen von meinem Kopfe soll zu dem Armbande kommen, —— nicht ein einziges Härchen!« murmelte Frau Peckover, die immer während des Spiels aufmerksam auf diese Unterhaltung horchte.

»Das Haar, welches schwer anzubringen sein wird, ist das meinige und das Valentins«, fuhr Zack fort. »Das meinige ist sicherlich lang genug; ich hätte es mir schon vor einem Monate sollen schneiden lassen, aber es ist so steif und lockig, und Blyth hält das seinige so kurz zu gestutzt. Ich begreife nicht, was man daraus machen könnte, es sei denn, man fertigt Ringe oder Sterne oder sonst etwas Derartiges daraus.«

»Die Leute im Laden werden das am besten wissen«, sagte Frau Blyth mit dem Entschluss, sehr vorsichtig zu Werke zu gehen.

»Zu einer Sache habe ich mich jedoch schon vorher entschlossen«, rief Zack —»— es ist das Schloss. Das Schloss muss eine Schlange sein ——«

»Welche ihren schurkischen Vater vorstellt! Dafür will ich stehen«, flüsterte Frau Peckover hinter den Karten leise vor sich hin, während ihre Gedanken immer noch bei der Madonna und ihrer Mutter verweilten.

»—— Eine Schlange, fuhr Zack fort, mit Augen von Türkisen und einem Schweif von Karfunkeln und alle unsere Anfangsbuchstaben irgendwo auf den Schuppen angebracht. Wird das nicht köstlich sein? Ich möchte die Madonna noch gern heute Abend damit überraschen.«

»Sie sollen es ihr niemals geben, wenn ich es verhindern kann«, murmelte Frau Peckover leise vor sich bin sprechend. »Wenn irgendetwas auf der Welt ihr Unglück bringen kann, wird es ein Haararmband sein!«

Diese letzten Worte wurden in vollkommenem Ernste gesprochen, denn sie waren das Resultat des stärksten Aberglaubens.

Außer der Kenntnis des Lesens und Schreibens entbehrte Frau Peckover alles weiteren Wissens. Sie hatte für den größten Teil ihres Lebens —— den frühesten Teil besonders —— unter ebenso ungebildeten Personen, wie sie selbst, verlebt. Es gab von den vielen volkstümlichen Aberglauben, welche noch unter ihrer Klasse bestehen, keinen einzigen, den sie nicht kannte und an den sie nicht glaubte, —— keine abergläubische Ansicht, die irgendeinen merkwürdigen Umstand entnommen werden konnte und die sie nicht bereit war, sogleich zu der ihrigen zu daneben. Von der Zeit an, wo das Haararmband zuerst bei der Mutter der Madonna gefunden worden war, hatte sich ihr die Überzeugung aufgedrängt, —— und zwar bei dem Mangel an jeder Belehrung vom Gegenteil als gar nicht seltsam —— dass es auf irgendeine Weise mit dem Elende und der Schande in Zusammenhang gestanden hätte, die seine unglückliche Besitzerin aus ihrer Heimat vertrieben hatte, um als eine Verstoßene unter Fremden zu sterben. Der Glaube nun, dass ein Haararmband der Mutter Unglück gebracht hätte, und die daraus hervorgehende Überzeugung, dass ein Haararmband daher auch dem Kind Unglück bringen würde, war eine vollkommen richtige und unvermeidliche Folgerung für das abergläubische Gemüt der Frau Peckover. Die Beweggründe, welche sie früher veranlasst hatten, ihrer kleinen Marie zu verbieten, jemals etwas Wichtiges an einem Freitage zu unternehmen, oder ihre Glückseligkeit dadurch zu gefährden, dass sie unter einer Leiter wegginge, waren gerade die nämlichen Beweggründe, welche ihr den Entschluss aufdrängten, die Überreichung des verhängnisvollen Geschenkes seitens des jungen Thorpe durch alle ihr zu Gebote stehenden Mittel zu verhindern, sogar auf die Gefahr hin, das Geheimnis zu entdecken, welches sie zu bewahren verpflichtet war.

Obgleich Valentin nur hier und da ein Wort von dem Selbstgespräch, welches Frau Peckover während des Spieles leise fortsetzte, aufgefangen hatte, so erriet er doch leicht genug den allgemeinen Inhalt ihrer Gedanken und vermutete, dass sie über kurz oder lang lauter als wünschenswert zu sprechen anfangen würde, wenn Zack nämlich mit seinem jetzigen Konversationsthema noch weiter fortfahren würde. Er benutzte daher eine Pause im Spiele und einen Rückfall des jungen Thorpe, unruhig im Zimmer aus und ab zu laufen, um sich dem Kissen seiner Frau zu nähern, wie wenn er dort etwas aufheben wollte, und ihr zuzuflüstern.

»Verhindere ihn, dass er noch ein Wort weiter über das Geschenk der Madonna spricht; ich will Dir das »Warum« ein andermal sagen.«

Frau Blyth gehorchte dieser Ermahnung sehr gern und bereitwillig, indem sie Zack sagte, dass sie, wie es auch wirklich der Fall war, durch die Ereignisse des Abends in Rücksicht auf ihren schwachen Gesundheitszustand schon ein wenig zu sehr aufgeregt worden wäre, und dass sie ihrerseits alles Sprechen und Zuhören auf den nächsten Abend verschieben müsste, wo sie ihm ihren besten Rat über das Armband erteilen zu wollen versprach. Er war jedoch zu sehr mit seinem Gegenstande beschäftigt, um ihn schon bloß auf einen höflichen Wink zu verlassen. Da er einen Zuhörer an Madame Blyth verloren hatte, versuchte er sein Experiment zum großen Erstaunen dieser Dame an den zwei Spielern am Kartentische.

»Vermutlich haben Sie gehört, worüber ich mit Madame Blyth gesprochen habe?« fing er an.

»O mein Himmel, Master Zack«, sagte Frau Peckover, »denken Sie, wir haben hier weiter nichts zu tun, als Ihnen zuzuhören? Bitte, sprechen Sie nichts weiter mehr mit uns, oder Sie werden uns ganz aus unserm Spiele herausbringen, was Sie unter keiner Bedingung tun dürfen, da wir um Geld spielen, sechs Pence das Spiel.«

Von beiden Seiten abgewiesen, war Zack genötigt aufzuhören. Er ging weg und versuchte sich am Bücherschrank zu amüsieren. Frau Peckover nickte und winkte mit einer sehr triumphierenden Miene Valentin mehrere Male über den Tisch zu und wünschte durch diese Zeichen seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, dass sie nicht nur selbst schweigen könnte, wenn die Unterhaltung auf einen verbotenen Gegenstand zu gelangen drohte, sondern dass sie auch andere Leute zum Schweigen bringen könnte.

Es herrschte nun vollkommene Ruhe im Zimmer, und das Spiel hatte seinen gehörigen Fortgang, aber nicht ganz so angenehm, wie bei andern Gelegenheiten. Valentin bekam seine gewöhnliche heitre Laune nicht wieder, und Frau Peckover fing wieder unzufrieden an, mit sich selbst zu flüstern —— von Zeit zu Zeit nach dem Bücherschranke hin blickend, wo der junge Thorpe mit einem Band von Kupferstichen auf seinen Knien schläfrig saß. Es war für Jedermann mehr oder weniger eine Erleichterung, als das Abendbrot aufgetragen und die Karten weggelegt wurden.

Bei der Aussicht, sich ein wenig am Essen und Trinken zu ergötzen, wurde Zack wieder ganz lebhaft und versuchte auf das gefährliche Thema des Haararmbandes zurückzukommen indem er sich bei dieser Gelegenheit an Valentin direkt wandte. Er wurde aber unterbrochen, bevor er noch drei Worte gesprochen hatte. Herr Blyth erinnerte sich plötzlich, dass er dem jungen Thorpe selbst eine wichtige Mitteilung zu machen hätte.

»Entschuldigen Sie mich, Zack«, sagte er; »ich habe Ihnen einen kleine Neuigkeit zu erzählen, welche ich durch die Ankunft der Frau Peckover vergessen hatte, die ich aber jetzt sogleich nachholen will, da die Gelegenheit jetzt gerade passt. Meine beiden Bilder sind fertig —— was denken Sie davon? —— fertig und eingerahmt. Ich bestimmte gestern ihre Namen. Die klassische Landschaft soll das »goldene Zeitalter« genannt werden, was ein ziemlich poetischer Name ist, und das Figurenbild soll »Columbus im Anblick der neuen Welt versunken« heißen, ein Titel, der, wie ich denke, einfach, ergreifend und großartig ist. Warten Sie eine Minute! Das Beste kommt noch nach. Ich will schon am nächsten Sonnabend beide Bilder meinen Freunden und deren Bekannten in meinem Atelier zeigen.«

»Das ist wohl nicht Ihr Ernst!« rief Zack aus. »Wir haben nur erst Januar und Sie pflegten doch immer die Privatausstellung Ihrer eignen Bilder im April zu Hause zu veranstalten, kurz vorher, ehe sie nach der Akademieausstellung geschickt wurden.«

»Ganz recht!« schaltete Valentin ein, »aber ich will dies Jahr eine Veränderung vornehmen. Die Sache verhält sich einfach so: Ich habe eine Arbeit auf dem Lande anzufertigen, die meine Entfernung von hier im Frühjahr veranlassen wird. Diese Arbeit ist zwar kaum der Erwähnung wert, aber sie wird mich verhindern, meine Ausstellung zur gewöhnlichen Zeit zu veranstalten, also denke ich, es ist besser, wenn es jetzt geschieht. Die Bilder sind fertig und eingerahmt und so beschaffen, dass ich sie sehen lassen kann. Die Einladungskarten erhalte ich morgen früh vom Lithographen. Ich werde natürlich eine Partie für Sie reservieren, welche ich Ihnen morgen Abend bei Ihrem Besuche übergeben werde.«

»Ich danke Ihnen, alter Bursche; ich will eine Masse von Freunden hierher bringen. Und nun, um wieder auf das zurückzukommen, worüber ich vor einer Minute sprach ——«

Aber Valentin ließ sich nicht fangen. Er hatte einige wichtige Zusätze zu der Einladungsliste zu machen, welche ihm gerade jetzt einfielen, und er schickte ihn unter vielen Entschuldigungen zu seiner Frau, um Lavinia nach seinem Notizbuch zu fragen.

Noch immer hartnäckig und unermüdlich, versuchte es Zack nun mit Frau Peckover; aber er wurde augenblicklich mit solcher außerordentlichen Rauheit und Strenge zurückgewiesen, dass er in Verzweiflung alle Hoffnung, seine Lieblingsidee von dem Haararmbande heute Abend weiter erklären zu können, aufgab und sich damit eine andere Unterhaltung verschafft, dass er mit der Madonna das Taubstummen-Alphabet übte.

Er war noch bei dieser Beschäftigung, als die Uhr auf Herrn Blyths Kamin halb elf schlug. Da er seine eignen besonderen Gründe hatte, um anscheinend mit vollkommenem Gehorsam seines Vaters Hausordnung zu bewahren, so stand er sogleich auf und wünschte gute Nacht, um pünktlich zu Hause zu sein, ehe die Haustür um elf verriegelt wurde. Diesmal vergaß er die Zeichnung der Madonna nicht, sondern zeigte soviel ungewöhnliche Aufmerksamkeit, dass er sein Taschentuch über den Rahmen band, um sie, wenn er sie über die Straßen trüge, vor Beschädigung zu bewahren, dass die Madonna ihn bei seinem Abschiede in der furchtlosen Unschuld ihres Herzens im Blick und Benehmen offenherzig zeigte, wie sehr sie die Aufmerksamkeit würdigte, welche er auf die sichere Erhaltung ihres Geschenks verwandt.

Niemals sah das liebliche junge Gesicht in ihrer naiven Seligkeit reizender aus, als indem Augenblicke, wo sie Zack die Hand reichte.

Gerade, als Valentin im Begriff war, seinen Gast aus der Stube zu begleiten, rief ihn Frau Blyth zurück, erinnerte ihn, dass er den Schnupfen hätte, und bat zärtlich, sich beim Heruntergehen nach der Tür der kalten Nachtluft nicht auszusetzen.

»Aber die Leute müssen jetzt schon im Bette sein; sie bleiben niemals so lange auf, wenn es ihnen nicht befohlen wird, und jemand muss die Tür verriegeln«, wandte Herr Blyth ein. »Es hat nichts zu sagen mit meinem Schnupfen Lavinia, und ich werde ihn sicher nicht verschlimmern, wenn ich meinen Hut aufsetze.«

»Ich will gehen, mein Herr«, sagte Frau Peckover, mit außerordentlicher Schnelligkeit aufstehend. »Ich will Herrn Zack herauslassen und die Tür öffnen. Wahrhaftig! es macht mir gar keine Mühe, ich gehe zu Hause immer von einem Orte zum andern, vom Morgen bis zum Abend, um nicht noch fetter zu werden, wie ich schon bin. Sagen Sie nicht nein, verehrte Frau, ich würde mich hier nicht heimisch fühlen, wenn Sie mir nicht gestatteten, mich nützlich zu machen. Und rühren Sie sich nicht, Herr Blyth, es wäre denn, Sie hätten nicht den Mut, eine alte Frau, wie mich, mit einem ihrer Besucher allein zu lassen.« Die letzten Worte wurden in spottender Absicht gesprochen und Valentin ins Ohr geflüstert. Er verstand darunter die Anspielungen auf ihre Privatunterhandlungen leicht genug und fühlte, dass, wenn er sie nicht ohne Widerspruch jetzt auf ihre eigne Weise handeln ließe, er durch Misstrauen riskierte, eine alte Freundin zu beleidigen, was unter den jetzigen Umständen lächerlich gewesen sein würde. Als seine Frau ihm bejahend zwickte, das ihm gemachte Anerbieten zu benutzen, so nahm er es sofort an.

»Jetzt will ich schon dafür sorgen, dass er ihr kein Haararmband gibt!« dachte Frau Peckover, als sie hinter dem jungen Thorpe her trippelte und die Zimmertür hinter sich schloss.

»Warten Sie ein bisschen, junger Herr«, sagte sie, sein weiteres Vorschreiten auf dem ersten Treppenabsatz verhindernd. »Hören Sie nur eine Minute lang auf zu sprechen und lassen Sie mich reden. Ich habe Ihnen etwas zu sagen. Denken Sie wirklich daran, ihr jenes Haararmband zu geben?«

»Oho, dann haben Sie doch etwas am Spieltische darüber gehört!« sagte Zack. »Denken? Natürlich denke ich das!« »Und Sie wollen etwas von meinem Haar dazu anwenden?«

»Sicherlich will ich das. Es würde der Madonna sonst nicht gefallen.«

»Dann täten sie sogleich besser, ihr ein anderes Geschenk zu geben; denn von meinem Haar soll sie auch nicht ein bisschen dazu haben. Was denken Sie nun jetzt davon?«

»Das glaube ich nicht, mein alter Liebling.«

»Und nichtsdesto weniger ist es dennoch wahr, das kann ich Ihnen sagen. Sie sollen nicht ein Haar von meinem Kopfe bekommen.«

»Warum nicht?«

»Kümmern Sie sich nicht darum. Ich habe meine eigenen Gründe dazu.«

»Sehr gut, wenn Sie es so haben wollen, so hab ich meine Gründe, warum ich das Armband gebe, und ich gedenke es zu geben. Wenn Sie nicht wollen, dass etwas von ihrem Haar hinein geflochten wird, so werden Sie nicht mich, sondern die Madonna kränken.«

Frau Peckover fing an zu merken, dass sie ihre Taktik ändern müsste, um keine Niederlage zu erleiden.

»Seien Sie doch nicht so fürchterlich hartnäckig, Mister Zack, und ich will Ihnen den Grund sagen«, sagte sie in einem veränderten Tone, indem sie weiter nach dem Gange hinunter ging. »Ich wünsche überhaupt nicht, dass Sie ihr ein Haararmband geben, ich glaube, dass es ihr Unglück bringen wird —— nun!«

Zack brach in Lachen aus. »Nennen Sie das einen Grund? Wer hörte jemals früher, dass ein Haararmband eine unheilvolle Gabe wäre? O Sie geheimnisvolle alte Peckover! an was denken Sie denn nur?«

In diesem Augenblicke öffnete sich die Zimmertür der Frau Blyth.

»Ist irgendetwas am Schloss nicht in Ordnung?« fragte Valentin von oben. Er war erstaunt über die Zeit, welche schon verflossen war, ohne dass er die Haustür hatte verschließen hören.

»Alles ist daran in Ordnung, mein Herr«, sagte Frau Peckover, indem sie Zack zuflüsterte: »Still, sagen Sie kein Wort!«

»Lassen Sie sich nicht durch seinen Unsinn in der Kälte aufhalten«, rief Valentin.

»Meinen Unsinn!« fing Zack zornig an.

»Er geht schon, mein Herr«, unterbrach ihn Frau Peckover. »Ich werde in einem Augenblicke heraufkommen.«

»Bitte, komme doch herein, mein Lieber! Du lässt ja die ganze kalte Luft ins Zimmer«, rief Frau Blyth.

Die Zimmertür schloss sich wieder.

»Was zum Teufel haben Sie denn vor?« rief Zack mit außerordentlicher Verwunderung.

»Ich wünsche nur, dass Sie ihr ein anderes Geschenk geben möchten«, sagte Frau Peckover in ihrem schmeichelndsten Tone. »Sie mögen dies meinetwegen alles für eine Laune von mir halten, und ich will auch zugeben, dass ich eine alte Törin bin: aber ich wünsche nicht, dass Sie ihr ein Haararmband geben. Es gibt Massen von andern Geschenken, die Sie zum Ersatz dafür wählen könnten. —— Ich würde Ihnen ebenfalls einen solchen Gefallen nicht abschlagen, Master Zack, wenn Sie ihn von mir verlangten!«

»Nun ich will mich hängen lassen, wenn ich nicht denke, dass einer von uns beiden zu viel Xereswein und Wasser beim Abendrot zu sich genommen hat —— ich bin es aber nicht (Frau Peckover’s Wangen fingen sich vor Zorn zu röten an). Erst Gründe und nachher Launen, wie? Launen! O beim Himmel, wie sollte man nur denken, dass eine so bejahrte Frau wie Sie noch Launen hätte! (Die Wangen wurden noch röter.) Aber das soll mich nicht abhalten, ich werde ihr das Haararmband geben —— ja und wenn Sie noch so ärgerlich aussehen, ich werde es doch tun! Mein Entschluss ist einmal gefasst und nichts in der Welt kann mich davon abbringen, ausgenommen, sie müsste denn schon ein Haararmband haben, was, wie ich weiß, nicht der Fall ist.«

»Das wissen Sie so ganz bestimmt, Sie erbärmlicher kleiner Teufel? Dann sage ich Ihnen ein für allemal, dass Sie es nicht recht wissen«, rief Frau Peckover aus, ihre Fassung gänzlich verlierend.

»Sie wollen doch das nicht etwa behaupten, meine Liebe! Das wäre doch sehr merkwürdig, wenn sie schon ein Haararmband hätte, und ich wüsste nichts davon —— Frau Peckover«, fuhr Zack fort, indem er den Ton und die Manier seines alten geistlichen Freundes, des hochwürdigen Aron Yollop nachahmte, »was ich noch jetzt zu sagen habe, betrübt mich tief, aber ich habe eine feierliche Pflicht zu erfüllen, und in der gewissenhaften Erfüllung jener Pflicht drücke ich jetzt ohne Zaudern meine Überzeugung aus, dass die Bemerkung, welche Sie so eben gemacht haben —— eine Lüge ist.«

»Es ist keine Lüge, Affe«, erwiderte Frau Peckover vor Zorn außer sich und heftig mit dem Kopf schüttelnd.

In demselben Augenblicke wurde Valentins Schritt in dem Zimmer oben hörbar, wie er sich zuerst nach der Tür bewegte und dann plötzlich wieder zurückwich, wie wenn er zurückgerufen worden wäre. »Ich habe noch nicht gesagt, was ich nicht hätte sagen sollen«, dachte Frau Peckover, sogleich wieder ruhiger werdend, als sie die Bewegung oben hörte.

»Also Sie bleiben wirklich dabei?« fuhr Zack fort. »Es ist beinahe sonderbar, alte Dame, dass mir Frau Blyth in dem Laufe des Abends über ihr kürzlich entdecktes Haararmband nichts hätte gesagt haben sollen. Aber sie weiß natürlich nichts davon und Valentin ebenso wenig vermutlich? Beim Jupiter! Er ist noch nicht zu Bette gegangen, ich will zurücklaufen und ihn fragen, oh die Madonna wirklich ein Haararmband hat.«

»Um des Himmels Willen tun Sie das nicht —— sagen Sie kein Wort darüber!« rief Frau Peckover blass werdend, als sie an die möglichen Folgen dachte, und ergriff den jungen Zack beim Arm, als er im Gange bei ihr vorbeizukommen versuchte.

»Hallo!« rief Zack durch die plötzliche Veränderung in ihrem Gesicht ernstlich erschreckt, »was geht denn eigentlich hier vor?«

»Mein lieber, guter Bursche«, fuhr sie in einem schnellen Flüstern fort, »sagen Sie kein Wort darüber, oder Sie werden mich in eine schreckliche Verlegenheit bringen, viel Unheil anstiften und Herrn Blyth dahin treiben, dass er von mir Dinge dachte, die er um die ganze Welt nicht von mir denken soll. Sprechen Sie nicht, ich weiß, Sie können es nicht verstehen! —— Wie sollten Sie es auch? O mein Himmel, ich wünschte, ich wäre nicht heruntergekommen und hätte überhaupt nicht mit Ihnen gesprochen! Nein, nein, sagen Sie kein Wort. Natürlich Sie können nicht begreifen, was das alles bedeutet —— können Sie? O das tut nichts —— wie? Das ist nicht Ihre Sache —— wie? Sie haben keinen Grund sich danach zu erkundigen —— haben Sie irgendeinen? Und Sie werden kein Wort sagen, oder darüber nachdenken, oder sich dessen entsinnen, wollen Sie? Still! Still! er kommt zu uns herunter!«

Die Schritte oben gingen wieder durch das Zimmer.

»Wohl an bei meiner Seele, von allen sonderbaren alten Frauen ——«

»Still! er wird diesmal die Tür öffnen; er wird es wirklich!«

»O kümmern Sie sich nicht darum; ich werde nichts sagen«, flüsterte Zack, da ihn seine natürliche Gutmütigkeit antrieb, der Not der Frau Peckover ein Ende zu machen, in dem Augenblicke, wo er die feste Überzeugung gewann, dass es eine wirkliche wäre. »Und was meine Idee von dem Haararmbande betrifft —— obgleich ich nicht die geringste Vorstellung von dem habe, was Sie die ganze Zeit über vor hatten —— so will ich darin nichts tun, bis ——«

»Sie sind ein guter Bursche! Ein lieber, guter Bursche!« rief Frau Peckover aus, Zacks Hand in warmer, unbegrenzter Dankbarkeit drückend.

Die Türe zu Herrn Blyths Zimmer öffnete sich zum zweiten Male.

»Ist er noch nicht fort?« erkundigte sich Valentin in einem Tone, welcher den schuldigen Ohren der Frau Peckover fürchterlich rau und verdächtig vorkam. Er würde diese Frage schon einige Minuten vorher gestellt haben, aber seine Aufmerksamkeit war durch eine Unterhaltung mit seiner Frau in Anspruch genommen worden, die zum Zwecke hatte, welchen Rat man dem jungen Zack in Bezug auf das für die Madonna beabsichtigte Geschenk erteilen sollte, wenn er am nächsten Abend zur Fortsetzung seiner Zeichenstunden kommen würde. Sie hätten sich aber die Mühe ersparen können, irgendeine Beratung über diesen Gegenstand anzustellen. Zacks Studienplan war vom ersten Anfange an bestimmt, unterbrochen zu werden.

»Er ist fort, er ist endlich fort, mein Herr!« sagte Frau Peckover, als sie mit ungastfreier Schnelligkeit die Türe hinter dem scheidenden Gast endlich zumachte und dieselbe mit ungemeiner Sorgfalt und einem außerordentlichen Geräusche verschloss.

»Ich muss mich morgen Abend bemühen, Zack dahin zu bringen, dass er von dem, was ich zu ihm gesprochen habe, mit keinem Andern weiter spricht, obgleich ich nicht glaube, dass ich ein einziges Wort gesagt habe, was ich nicht hätte sagen sollen, dachte sie leise die Treppe heraufsteigend. Aber Herr Blyth macht solchen Lärm und gerät gleich in eine so fürchterliche Unruhe und Furcht, dass dem armen Dinge nachgespürt und sie ihm entrissen werden könnte. Ja er würde ganz sicher glauben, ich hätte alles heraus geplaudert, und schließlich halb verrückt werden, wenn er erfahren würde, was ich jetzt eben zu Zack gesagt habe. Nicht etwa, als ob es eben viel wäre, was ich zu ihm gesagt habe, eben sowie das, was er auf irgendeine Weise entdeckt und zu mir gesagt hat. Aber diese jungen Londoner Burschen sind so schlau, sie sind so fürchterlich schlau!«

Hier stand sie auf dem Treppenabsatz still, um frei Atem zu holen, dann flüsterte sie zu sich selbst, als sie weiter ging und an Herrn Blyths Tür kam:

»Aber zu einer Sache habe ich mich entschlossen, die kleine Marie soll jenes Haararmband nicht haben.«

Sowie Frau Peckover in Gedanken vertieft die Treppe hinaufstieg, eben so ging Zack seinen ganzen Weg voller Verwunderung nach Hause.

Was zum Teufel konnte denn dieser außerordentliche Lärm über sein Geschenk an die Madonna möglicher Weise bedeuten? War nicht aus dem Schrecken, welchen die alte Peckover gehabt hatte, als er Blyth fragen wollte, ob die Madonna wirklich ein Haararmband hätte, klar zu ersehen, dass sie die Wahrheit und keine Lüge gesagt hätte? Und erhellte es nicht noch mehr daraus, dass sie ein Geheimnis preisgegeben hat, als sie jene Wahrheit sagte, welche ihr Blyth zu bewahren befohlen hatte? Warum es bewahren? Was suchte man darin, ein Geheimnis daraus zu machen, dass die Madonna im Besitze eines Haararmbandes wäre? Wer war die Madonna? Wie kam es, dass Blyth niemals irgendjemand das Geringste über den Ort sagen wollte, wo er sie aufgefunden hatte? Stand dieses geheimnisvolle Haararmband, dessen er sich niemals an ihr erinnern konnte und von dem Frau Blyth während seiner Unterhaltung über die Anfertigung seines gleichen Geschenkes kein Wort erwähnt hatte, gewissermaßen mit dem großen Geheimnis über den Ursprung der Madonna in Verbindung, das Valentin immer vor Jedermann verborgen gehalten hatte? War nicht dies alles zusammengenommen sehr möglich? Was machte es aber nach Allem aus, ob dem wirklich so war, oder nicht? Warum sollte er seinen Kopf mit etwas quälen, das ihm nichts weiter anging? War es nicht, wenn er alles zusammen betrachtete, und wenn er sich besonders des vorher vergessenen Faktums erinnerte, dass er nur fünfzehn Schillinge und drei Pence überhaupt zu seiner Verfügung hätte —— eher ein glücklicher als unglücklicher Fall, dass die alte Peckover es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihn an dem Kaufe eines Gegenstandes zu verhindern, zu dessen Bezahlung er nicht die Mittel besaß? Würde nach dem, was er zu Frau Blyth gesagt hatte, sich eine Entschuldigung finden für die Nichtübergabe des kostbaren Geschenkes? Was konnte er noch für die Madonna kaufen, das hübsch und billig genug war, um den jetzigen Stand seiner Kasse nicht zu überschreiten? Würde ihr ein Fingerhut, ein Almanach, ein Paar Manschetten oder ein Topf Pomade gefallen?

Hier hörte Zack plötzlich mit den Fragen auf, die er in Gedanken an sich richtete, denn er war so weit gekommen, dass er seine Wohnung in Baregrove-Square sehen konnte.

Eine Veränderung ging in seinem hübschen Gesicht vor; er runzelte die Stirn und seine Gesichtsfarbe wurde dunkler, als er nach dem Lichte in seines Vaters Zimmer in die Höhe sah.

»Ich will heute Nacht wieder ausbleiben und das Leben genießen«, murmelte er mürrisch zu sich selbst, als er sich der Tür näherte. »Je mehr sie mit mir zu Hause toben, desto öfter will ich verstohlen ausgehen.«

Diese störrische Rede würde durch die Erinnerung an eine häusliche Szene hervorgebracht, die dadurch hervorgerufen worden war, dass sein Vater die Annahme seiner Einladung nach Valentins Hause missbilligte. Herr Thorpe hatte, wie schon früher einmal bemerkt, einen moralischen Abscheu gegen Valentins Stand und moralische Zweifel in Rücksicht auf Herrn Blyth selbst. Obwohl diese Zweifel nicht durch die nachteiligen Gerüchte erzeugt waren, welche Valentins Weigerung, das die Geburt und Verwandtschaft seines Adoptivkindes umhüllende Geheimnis aufzuklären, hervorgerufen hatten, so wurden sie aber hierdurch doch noch gesteigert. Herr Thorpe kannte seine Pflicht gegen seinen Nächsten und war zu gewissenhaft, irgendjemanden vorschnell und ungerecht zu beurteilen und sich durch ein bloßes Gerücht bei der Beurteilung von Herrn Blyths Charakter leiten zu lassen, aber die böse Welt hatte ihren trügerischen Einfluss auf ihn so gut wie auf Andere und verstärkte noch mehr, als er es selbst vermutete, seinen Verdacht, dass der Maler keine Person von festen Grundsätzen und kein hervorragendes Muster von Ehrenhaftigkeit wäre. Aus diesem Verdachte musste notwendiger Weise hervorgehen, dass er Herrn Blyth nicht für einen passenden Gefährten eines frommen jungen Mannes hielt, und er drückte streng genug sein unbegrenztes Erstaunen aus, als er bei seinem Sohn schon ein solches rückwärts schreitendes Vergessen der ausgezeichneten, ihm von dem hochwürdigen Aaron Yollop beigebrachten Lehren darin erblickte, dass er eine Einladung zum Tee von einer Person angenommen hatte, die einen zweifelhaften Charakter besaß. Zacks Erwiderung auf seines Vaters Tadel war ziemlich entschieden; er stellte alles in Abrede, was man gegen den guten Ruf seines Freundes vorbringen mochte, und als er wegen seiner unanständigen und sehr heftigen Redeweise zurecht gewiesen wurde, verlor er seine Fassung, verließ trotzig den väterlichen Teetisch, um in der bedenklichen Gesellschaft des Herrn Valentin Blyth Teekuchen zu essen.

»Sie kommen gerade zur rechten Zeit, mein Herr!« sagte der Laufbursche, seinen jungen Herrn angrinsend, als er die Tür öffnete. »Es ist auf den Schlag elf.«

Zack murmelte eine etwas mehr als derbe Abfertigung, deren Wiederholung gerade nicht ratsam sein möchte. Der Diener verschloss und verriegelte die Tür, während er seinen Hut auf den Tisch des Vorsaals setzte und sein Nachtlicht anzündete.

Fast länger als eine Stunde nach seiner Heimkunft, oder mit andern Worten, ein wenig nach Mitternacht wurde die Tür wieder leise geöffnet, und Zack erschien zu seiner nächtlichen Wanderung ausgerüstet auf dem Tritte.

Er zögerte, als er von außen den Schlüssel in das Schlüsselloch steckte und bevor er die Tür hinter sich schloss. Er hatte dies niemals bei andern Gelegenheiten getan und konnte auch nicht sagen, warum er es jetzt tat. Wir sind oft sogar uns selbst Geheimnisse, und es gibt Zeiten, wo die Stimmen der Zukunft, die in uns sind, wenn auch noch nicht die unsrigen, sprechen und unsern irdischen Teil von ihrer Gegenwart benachrichtigen. Am häufigsten fühlt unser irdischer Verstand, dass sie ihr totes Schweigen bei jenen wichtigsten Momenten unseres Daseins brechen, wo beider Wahl zwischen zweien anscheinend unbedeutenden Wechselfällen die ganze Zukunft unseres künftigen Lebens auf dem Spiele steht. Und so war es jetzt mit dem jungen Manne, welcher zweifelhaft an der Schwelle seines Hauses stand, ob er den Entschluss, der jetzt seine Gedanken beschäftigte, ausführen oder aufgeben sollte. Von dieser Wahl zwischen den beiden Wechselfällen, weiter oder zurück zu gehen —— was das Schließen einer Tür entscheiden musste —— hing jetzt seine eigene Zukunft und die anderer ihm teurer und mit ihm eng verbundener Wesen ab.

Er wartete eine Minute unentschieden, denn die warnenden Stimmen von innen waren mächtiger, als sein eigener Wille; er wartete und blickte gedankenvoll nach dem gestirnten, freundlichen Himmel der Winternacht empor, dann schloss er die Tür hinter sich, so leise wie gewöhnlich, zögerte auf der letzten Stufe, die zum Pflaster führte, noch einmal und eilte dann stracks von dannen, indem er schnellen Schrittes durch die Straßen wandelte.

Er war nicht in seiner gewöhnlichen, guten Laune. Er fühlte sich nicht, wie sonst, zum Singen aufgelegt, als ihn die frische, frostige Luft anwehte, und er wunderte sich, warum es so war.

Die inneren Stimmen sprachen immer schwächer und schwächer. Aber wir müssen sterben, ehe wir unsterblich werden, wie sie es sind; und ihre Sprache ist für uns in unserm Leben oft ein unbekanntes Idiom.



Kapiteltrenner

Zweites Kapitel - Ein Kampf in dem Tempel der Harmonie

Der römische Dichter welcher bei der Beschreibung des Lasters den Einfluss desselben gänzlich der Anlockung und den schönen Verhüllungen, welche es verbargen, zuschrieb, und zugleich behauptete, es wäre seiner Natur nach ein so abscheuliches Ungeheuer, so dass man es nur in seiner wahren Gestalt zu sehen brauchte, um den Abscheu der ganzen Menschheit zu erregen, stellte einen sehr wahrscheinlichen, moralischen Grundsatz auf, dem es an nichts weiter fehlte, um ihn der unberechtigten Bewunderung der Nachwelt zu empfehlen, als an einem kleinen Zusatz von praktischer Wahrheit. Sogar in den üppigsten Tagen des alten Roms kann man mit guter Sicherheit die Frage aufwerfen, ob sich das Laster immer so verhüllen konnte; um neue Anhänger zu gewinnen, ausgenommen unter den wohlhabenden Klassen der Bevölkerung. Aber in diesen neueren Zeiten kann man es entschieden als ein Faktum aufstellen, dass das Laster zu seinen meisten Verführungen durchaus keiner Verhüllung bedarf, schamlos in seiner nackten Hässlichkeit erscheint, und anstatt alle Zuschauer zurückzuschrecken, in Übereinstimmung mit der Voraussage des klassischen Satyriker’s, unbedingt eine weit größere Menge von Anhängern herbeizieht, als jemals durch die göttlichsten Schönheiten zusammengebracht wurden, welche die Tugend als Reiz für die Menschheit entfalten kann.

Jener berüchtigte Platz des öffentlichen Vergnügens, welcher der locker lebenden und nachtschwärmenden Jugend Londons unter dem Namen des »Tempels der Harmonie« bekannt war, gewährt unter der Masse von andern Beispielen, welche man zitieren könnte, einen merkwürdigen Beweis, um die Behauptung des alten Dichters zu widerlegen. In dieses Tempels Hallen konnte man sich schlagend überzeugen, dass das Laster sogar auch dann nicht in Gefahr kommt, Ekel zu erregen, wenn es sich dem Zuschauer, unbedeckt und nicht verhüllt von den bloßen Lappen und Lumpen der dünnsten Verhüllung zeigt.

Der Tempel der Harmonie war, wie schon sein Name andeutet, vorzüglich der Ausübung des musikalischen Talents gewidmet und fing zu jener Zeit der Nacht an, wo die Ausführungen in den Theatern vorüber waren. Das gewöhnliche Orchester dieses Platzes bestand aus einem einzigen Klavier, welchem gelegentlich, um die Anziehung zu vermehren, Vorträge auf dem Banjo und der Gitarre hinzugefügt wurden. Die Sänger wurden »Damen und Herren« genannt. Der Tempel selbst bestand aus einem langen Zimmer mit einer doppelten Reihe von Bänken, welche an ihren Lehnen mit einem Aufsatz zur Aufbewahrung der mit geistigen Getränken gefüllten Gläser versehen waren. An dem einen Ende hatte es eine wenig hervorragende Bühne für die Darsteller, und ihre aschfarbenen Wände waren so wenig bemalt, dass sie kaum den Anspruch machen konnten, als solche betrachtet zu werden.

Die Unschuld selbst musste auf den ersten Blick erkennen, dass der Tempel der Harmonie ein äußerst lasterhafter Vergnügungsaufenthalt war. Das Laster dachte nirgends so wenig, als hier daran, sich irgendeiner Verhüllung zu bedienen. Kein Funken des Witzes sprühte aus dem gemeinen Inhalte der Lieder hervor, die hier gesungen wurden, und suchte ihn nicht einmal unter einer geschickten Zweideutigkeit zu verbergen. Kein Überbleibsel von jugendlicher Frische, keine künstlich affektierte Unschuld und Lebhaftigkeit verbargen die schmutzige physische Verdorbenheit der erschöpften menschlichen Gestalten, welche sich hier zum Singen erhoben. Sie waren auf gemeine Weise geschminkt und auswattiert, um wie schöne Frauen auszusehen. Ihre männlichen Gefährten waren solche aufgedunsene Vagabunden, dass es kein Ladenjunge, der sie in der vorigen Nacht beklatscht hatte, gewagt haben würde, mit ihnen am andern Morgen spazieren zu gehen. Der Ort selbst hatte so wenig Reiz, Eleganz und Schönheit an sich, wie die Leute selbst darin. Hier sah man keine glänzende Vergoldung der Decke, keine prächtigen, ja nicht einmal bequeme Möbel. Hier waren keine lasterhaft anziehenden Gemälde an den Wänden, keine betäubenden, lieblichen Ausdünstungen in der Atmosphäre, keine Anstalten zur Ventilation, um den Gestank des schlechten Tabaks und des nach Branntwein riechenden menschlichen Atems, womit das Zimmer die ganze Nacht angefüllt war, zu vertreiben. Hier, um es auf einmal zu sagen, erschien das Laster gänzlich unverstellt, sich rücksichtslos jedem Auge zeigend, ohne den Firnis der Schönheit, ohne den Flitterstaat des Witzes, ja es war nicht einmal der Geruch der Reinlichkeit vorhanden, der ihm zur Empfehlung dienen konnte. Wurden alle Zuschauer bei diesem Anblick von Abscheu ergriffen? Weit entfernt davon. Der Tempel der Harmonie war jede Nacht bis zur letzten Bank gestopft voll, und der Wirt füllte seine Taschen aus den Börsen des Beifall klatschenden Publikums. Denn, mögen die klassischen Moralisten sagen, was sie wollen, das Laster mit der abgenommenen Maske wirbt in den neueren Zeiten ebenso leicht Anhänger, als dies in alten Zeiten mit vorgehaltener Larve geschehen war. Es war zwei Uhr am Morgen, und die Unterhaltungen im Tempel standen im Begriff, den Gipfel der harmonischen Jovialität zu erreichen. Ein komisches Lieblingslied war eben von einem alten aufgedunsenen kahlköpfigen Manne gesungen worden. Es entstand eine kurze Pause, ehe die Vergnügungen ihren geräuschvollen Fortgang wieder anfingen. Grog und Zigarren wurden in allen Richtungen bestellt. Freunde sprachen sehr laut miteinander und Fremde starrten sich gegenseitig an — ausgenommen an dem unteren Ende des Jammers, wo die ganze Aufmerksamkeit der Gesellschaft sonderbarer Weise auf einen einzigen Mann konzentriert war.

Die Person, welche auf diese Weise die Neugierde aller seiner Nachbarn auf sich zog, war spät hereingekommen, hatte den ersten leeren Platz, welchen er neben der Tür finden konnte, eingenommen und dann sehr ruhig zuhörend und um sich schauend dagesessen. Er trank und rauchte wie die Übrigen der Gesellschaft, aber lachte und applaudierte niemals, noch zeigte er überhaupt das geringste Merkmal des Erstaunens, des Vergnügens, der Ungeduld oder des Abscheus, obgleich aus der Art und Weise, wie er auftrat und wie er dem Kellner seine Befehle erteilte, sehr leicht zu ersehen war, dass er in dieser Nacht den Tempel der Harmonie zum ersten Male besuchte.

Er war nicht in Trauer, denn es war kein Flor um seinen Hut, aber dessen ungeachtet trug er doch einen schwarzen Frack, Weste und Beinkleider und schwarze Glaceehandschuhe. Er schien sich in diesem Anzug durchaus nicht wohl zu befinden, da er seine Glieder, so oft er seine Stellung wechseln, so vorsichtig und zurückhaltend bewegte, als wenn er statt eines Anzugs von starkem, breiten, schwarzen Tuche zu haben, das noch in seinem ersten Glanz prangte, einen fadenscheinigen Anzug an hätte. Wenn man ihn in seiner sitzenden Stellung beurteilte, schien er kein großer Mann zu sein, aber seine Schultern waren außerordentlich breit und seine Arme so lang, dass sie mit seinen übrigen Körperteilen in keinem Verhältnis standen. Sein Gesicht hatte die braune Farbe eines Negers, zeigte an zwei Stellen sichtbare Narben von alten Wunden und war von einem gewöhnlichen, eisgrauen Backenbart, der unter dem Kinn zusammenlief, überwachsen. Seine Augen waren hell und fast groß und schienen immer ruhig, aber wachsam zu lauern. In der Tat, der ganze Ausdruck seines Gesichtes, grob und schwer nach der Form, war wegen seiner Schärfe, seiner kalten gesammelten Einsicht, wegen seines immerwährend beobachtenden, ruhig wachenden Blicks ein merkwürdiger. Wenn irgendjemand aus seiner Manier und aus seiner persönlichen Erscheinung seinen Beruf hätte erraten wollen, der würde ihn sogleich für den Kapitän eines Kauffahrtenfahrers gehalten haben und würde auch die höchste Wette eingegangen sein, dass er schon mehrmals die Reise um die Welt gemacht hätte. Aber es war weder sein Gesicht, noch sein Anzug, noch seine Manier, welche die Aufmerksamkeit aller seiner Nachbarn auf sich zog, es war vielmehr sein Kopf. Unter seinem Hut, der wie seine übrigen Kleidungsstücke funkelnagelneu war, zeigte sich dicht um seine Schläfe und bis hinter die Ohren ein schwarzes Sammetkäppchen. Keine Spur von Haar sah darunter hervor, denn rings um seinen Kopf, soweit man unter seinem, bis über den Rockkragen reichenden Hut sehen konnte, erblickte man nichts als bloßes Fleisch, das von einem Rande von schwarzem Sammet umgeben war.

Von einem großen Vorschlage in der Reform bis zu einer kleinen Sonderbarkeit herab, sind die Engländer das unduldsamste Volk auf der Welt, sobald sie irgendetwas aufnehmen sollen, was sich ihnen unter der Form einer vollkommenen Neuheit darbietet. Mag irgendjemand ein neues Projekt vor das englische Parlament bringen oder den Einwohnern Londons ein neues Paar hellgrüner Beinkleider zeigen, und mag das Projekt sich allen zuhörenden Ohren als nützlich ankünden und die Beinkleider sich jedem beschauenden Auge gegenüber beredsam sehr schön aussehen: Die Nation wird nichts desto weniger argwöhnisch sowohl vor dem einen, als vor dem andern zurückweichen und befehlen, dass man das Projekt auf den Tisch des Hauses niederlege, dabei zischen und lachen und die Beinkleider anstarren. Es wird mit einem Worte, die Neuheit aus keinem andern Grunde, als einen unverbürgten Eindringling betrachten, als dass man im Allgemeinen nicht daran gewöhnt ist.

Ruhig wie der fremde Mann im schwarzen Anzug seinen Sitz in dem Tempel der Harmonie eingenommen hatte, so zogen er und sein Sammetkäppchen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, und unsere Nationalschwäche zeigte sich sogleich.

Niemand nahm sich Zeit dazu, um auf den Gedanken zu kommen dass er sein schwarzes Sammetkäppchen wahrscheinlich notwendig tragen musste; Niemand konnte es begreifen, warum er nicht eine Perücke trüge, welche ganz an ihrem Orte und wohl begründet gewesen wäre; und Niemand sogar in diesem freien Lande dachte freisinnig genug, dass er mit demselben Rechte nach seinem Wohlgefallen ein Sammetkäppchen unter seinen Hut setzen konnte, wie irgendein Anderer vom Publikum das Recht hatte, ein Hemd unter seine Weste zu ziehen. Das Publikum sah nichts als eine Neuheit in der Art und Weise, wie der Fremde sein Käppchen trug, und man nahm es einstimmig übel auf, weil es eine Neuheit war. Zuerst drückten die Anwesenden ihren Unmut darüber dadurch aus, dass sie ihn zornig anblickten, ihn darauf auslachten und endlich sarkastische Bemerkungen über ihn machten. Er ertrug ihren Spott mit der vollkommensten und herausforderndsten Kaltblütigkeit. Er erwiderte kein Wort, sah weder zornig aus, noch wurde er rot im Gesicht oder unruhig auf seinem Sitze, noch schickte er sich zum fortgehen an. Er saß ebenso ruhig da und rauchte und trank, wie vorher, und nahm nicht die geringste Notiz von Allen denen, die sich so augenscheinlich mit ihm beschäftigten.

Seine Gleichgültigkeit diente nur dazu, die Danebenstehenden zu größeren Freiheiten gegen ihn zu ermutigen. Ein schwacher kleiner Gentleman mit roter Nase und wässrigen Augen trat, von einigen neben ihm sitzenden Frauen dazu aufgefordert, an die Bank des Fremden heran, drückte seine Bewunderung vor seinem Käppchen als eine für seinen Hut passend beigegebene Zierde aus und gab mit einem spöttischen Komplimente seinen sehnlichen Wunsch zu erkennen, die Qualität des Samtes befühlen zu dürfen. Indem er bei diesen Worten seine Hand darnach ausstreckte, wurde kein Wort der Warnung oder des Zankens von demjenigen geäußert, für den die Beleidigung beabsichtigt worden war, aber in dem Augenblicke, wo seine Finger das Käppchen berührten, warf der fremde Mann, immer noch ohne zu sprechen, ja sogar, ohne seine Zigarre aus dem Munde zu nehmen, alles, was noch von dem vor ihm stehenden Glas heißen Grogs übrig war, dem schwachen Gentleman sehr bedachtsam ins Gesicht.

Als dem elenden, kleinen Manne die heiße Flüssigkeit in die Augen floss, schlug er mit einem Schmerzensschrei hilflos mit beiden Fäusten aus und fiel zwischen die Bänke. Einer seiner Freunde, der in seiner Nähe stand, kam heran, um diese Beleidigung zu rächen, wurde aber von dem Fremdlinge zappelnd auf den Boden geworfen. Gellende Schreie »werft ihn hinaus« und »Polizei! Polizei« erfolgten; die Leute an dem andern Ende des Zimmers fuhren aufgeregt von ihren Sitzen in die Höhe. Die Weiber kreischten, die Männer lärmten und fluchten, Gläser wurden zerbrochen, Stöcke hin und her geschwungen, Bänke zerbrochen und in einem Nu war der Fremde von Jedem der Nebenstehenden, der nur an ihn kommen konnte, unter dem Vorwand, ihn hinauszuwerfen angegriffen.

Gerade in dem Augenblicke, wo man als ausgemacht annehmen konnte, dass er trotz seines tapferen Widerstandes der Menge würde weichen müssen und schimpflicher Weise aus der Tür die Treppe hinunter geworfen werden würde, sprang ein großer junger Gentleman mit blond gelocktem Haar auf seinem unbedeckten Kopfe auf eine der Bänke an der entgegengesetzten Seite des Durchgangs, welcher bis zur Mitte des Zimmers herabführte, und forderte die Gesellschaft um sich mit heftigen Faustgestikulationen heraus. Wehe der Ehrenhaftigkeit der Eltern, welche vergnügungssüchtige Söhne haben, wehe der Idee des Herrn Valentin Blyth, seinen Schüler durch den Zeichenunterricht zu einem soliden jungen Manne zu machen! Dieser wütende junge Gentleman war kein anderer, als Herr Zacharias Thorpe junior von Baregrove-Square.

»Gott verdamme euch Alle, ihr feigen, nichtsnutzigen Schurken!« brüllte Zack mit von Tapferkeit, Großmut und Grog entzündeten Augen. »Wie könnt ihr euch unterstehen, einen einzigen Mann anzugreifen? Schlagen Sie aus, mein Herr schlagen Sie aus rechts und links! Ich sah, wie Sie beleidigt wurden, und bin zu Ihrem Beistande bereit.«

Bei diesen Worten schlug Zack seine Manschetten zurück und stürzte sich in die ihn umgebende Menge. Seine Größe, Stärke und seine Erfahrung im Boxen ließen ihn triumphierend zu der entgegengesetzten Bank gelangen. Zwei oder drei Schläge in die Rippen und einer auf die Nase, dem ein starker Blutverlust folgte, dienten nur dazu, seinen Eifer anzufeuern und die faustkämpferische Wut seines Ausdrucks zu vermehren. In einer Minute stand er neben dem Manne mit dem Käppchen und kämpfte Rücken an Rücken mit ihm unter dem Beifallsbrüllen desjenigen Teiles des Publikums, das an dem oberen Ende des Zimmers nur Zuschauer des Tumults war.

In der Zwischenzeit war die Polizei herbeigerufen worden. Aber die Kellner hatten in ihrer Angst wegen eines Kampfes von zwei Leuten gegen ungefähr zwei Dutzend die Tür, welche nach der Straße führte, zu verriegeln vergessen. In Folge dessen stürzten alle Droschkenkutscher draußen von ihrem Haltepunkte und alle sich herumtreibenden Nachtbummler aus der berüchtigten Gegend des Tempels der Harmonie in den engen Durchgang und fingen ganz von freien Stücken mit den Kellnern, welche zu spät versuchten, sie herauszuwerfen, einen Streit aus dem Stegreif an. Gerade als die Polizei sich unten durch die Menge einen Weg gebahnt hatte; hatten sich Zack und der Fremde ihren Weg durch die Menge oben erkämpft und es war ihnen gelungen, ungehindert aus dem Zimmer zu gelangen.

Rechts von den Treppenabsatz, dem sie sich jetzt näherten, befand sich eine Tür, durch welche der Mann mit dem Käppchen stürzte und Zack mit sich fortzog. Seine Fassung war so kaltblütig, sein schnelles Auge so wachsam wie immer. Der Türschlüssel steckte von innen. Er verschloss sie unter einem gellenden Beifallsgelächter der Leute auf der Treppe und unter dem Geschrei der Kellner. »Haltet sie im Hofe fest!« Die Flüchtenden stiegen dann eine steile Treppe mit der größten Geschwindigkeit hinab und befanden sich sogleich in einer Küche, wo sie einem verwunderten Koche und zwei Mägden gegenüber standen. Zack schlug den Mann nieder, ehe er sich des Rollholzes bedienen konnte, welches er bei ihrem Erscheinen ergriffen hatte, während der Fremde ruhig einen, auf dem Anrichtetisch stehenden Hut nahm und ihn mit einem Schlage seiner großen Hand auf Zacks bloßen Kopf niederdrückte. Im nächsten Augenblick kamen sie aus der Küche in einen Hof und liefen nun, was sie laufen konnten.

Die Polizei ihrerseits verlor keine Zeit, aber sie musste erst aus dem Gedränge im Durchgang heraus, vorn um das Haus herumgehen, ehe sie zu dem Eingange gelangen konnte, welcher von der Straße nach dem Hofe führte. Dies gab den Flüchtlingen einen Vorsprung, und die Nähe von Gässchen, freien Plätzen und Nebenstraßen, in die sie ihre Flucht augenblicklich führte, war besonders geeignet, um ihr Entrinnen zu begünstigen. Während der Lärm der Tobenden und das Geschrei »haltet den Dieb auf!« die frostige Nachtluft in der einen Richtung durch schallte, gingen Zack und der Fremde Arm in Arm ruhig in der andern von dannen, während der junge Thorpe jeden verirrten Polizeidiener, welcher bei ihnen vorbeilief, beschwor, sich um des Himmels willen zu beeilen und einem fürchterlichen Tumult, welcher außerhalb des Tempels der Harmonie stattfand, Einhalt zu tun.

Der Mann mit dem Käppchen war bis jetzt vorangegangen und tat es auch noch, obgleich es sich aus der Art und Weise, wie er die Straßenecken anstarrte und sich mit seinem Gefährten dann und wann im Gässchen ohne Ausgang stürzte, ganz deutlich ergab, dass er in diesem Teile der Stadt, den sie jetzt durchwanderten, gänzlich unbekannt war. Zack, welcher in jener Nacht bereits zu dem dritten verhängnisvollen Glas Grog gelangt war und das letztere schon vor Beginn des Kampfes bereits zur Hälfte ausgetrunken hatte, befand sich zu dieser Zeit nicht in einem solchen Zustande, um sich sehr um eine besondere Richtung in dem großen Straßenlabyrinthe Londons zu kümmern. Er ging berauscht und unaufhörlich mit dem Fremden sprechend weiter, welcher ihm niemals eine Antwort gab. Es half ihm nichts, dass er seine Tapferkeit lobte und seine Art des Boxens, welche wie immer und wollte nach demselben ebenfalls durchaus nicht kunstgerecht war, tadelte; oder dass er sein Erstaunen darüber ausdrückte, dass jener während des ganzen Kampfes seinen Hut wieder aufstülpte, so oft er ihm vom Kopfe geschlagen wurde, oder auch seine Schnelligkeit bewunderte, womit er des Kochs Hut nahm, um seinen eigenen bloßen Kopf zu bedecken, was ihn sonst dem Verdachte und der Verhaftung hätte aussetzen können, als er die Straßen durchschritt; es half ihm nichts, über diese oder andere Gegenstände zu sprechen, denn der unerschütterliche Held, welcher während des ganzen Kampfes kein Wort geäußert hatte, war noch ebenso unerschütterlich wie immer und wollte nach demselben ebenfalls kein Wort äußern.

Sie schlenderten endlich nach Fleet-Street und gingen bis Ludgate Hill herunter. Hier stand der Fremde still, sah nach dem offenen Raume zur Rechten, wo der Fluss strömte, atmete erleichtert und befriedigt auf und schlug sogleich den Weg nach Blackfriars-Bridge ein. Er führte Zack, welcher noch eine ziemliche Betrunkenheit in seiner Redeweise kund gab und unstet auf seinen Füßen stand, zu der Mauer der Brustwehr, ließ seinen Arm dort los und indem er ihn bei dem Scheine des Gaslichtes fest in das Gesicht schaute, redete er ihn zum ersten Male mit einer merkwürdigen, ernsten und bedächtigen Stimme mit folgenden Worten an:

»Nun denn, mein junger Mann, ich dächte Sie holten einmal Atem und wischten Ihre blutige Nase ab.«

Zack, anstatt diese etwas unhöfliche Anrede übel zu nehmen — was er sicher getan haben würde, wenn er nüchtern gewesen wäre, — brach in ein tolles Gelächter aus. Der merkwürdige Ernst und das gesetzte Wesen in dem Tone und dem Benehmen des Fremden, welcher mit einem so sonderbaren Vorschlage die Unterhaltung eröffnete, würden sogar für einen Mann unwiderstehlich possierlich gewesen sein, der durchaus nicht im trunken Zustande zu sein brauchte.

Während Zack laut auflachte, dass ihm die Tränen über die Wangen rollten, lehnte sich sein sonderbarer Begleiter über die Brustwehr der Brücke, zog seine schwarzen Glaceehandschuhe ab, welche während des Kampfes bedeutend gelitten hatten. Nachdem er sie zusammengelegt hatte, schleuderte er sie verächtlich in den Fluss.

»Fort mit dem ersten Paar Haar Handschuhe, welches ich jemals angezogen habe, und mit den letzten, welche ich jemals anzuziehen hoffe«, sagte er in verächtlichem Tone und hielt seine fleischigen Hände in die scharfe Nachtluft empor.

Der junge Thorpe lachte sich vollends aus; dann wurde er vor lauter Erschöpfung ruhig und ernst.

»Fangen Sie nur wieder an!« sagte der Mann mit dem Käppchen, so ernst wie immer nach ihm hin blickend, »ich höre Sie so gern.«

»Ich kann nicht wieder anfangen«, antwortete Zack mit schwacher Stimme, »ich bin außer Atem. O, Sie sonderbarer alter Kauz! Wer zum Teufel sind Sie?«

»Ich bin eigentlich Niemand und glaube nicht, dass ich einen einzigen Freund in ganz England habe, der sich darum kümmert, wer ich bin«, erwiderte der Andere. »Geben Sie mir Ihre Hand, junger Mann! Wenn in den fremden Weltteilen, aus denen ich komme, ein Mann dem andern so beigestanden wie Sie mir heute Nacht, so werden Sie nachher Brüder miteinander. Sie brauchen mein Bruder nicht zu sein, wenn Sie nicht wollen; ich aber will Ihnen Bruder sein, Sie mögen es nun wollen oder nicht. Mein Name ist Mat. Wie heißen Sie?«

»Zack«, erwiderte der junge Thorpe, seinen neuen Bekannten schon mit brüderlicher Vertraulichkeit auf den Rücken schlagend. »Sie sind ein lustiger alter Knabe, und ich liebe Ihre Art und Weise zu sprechen. Woher kommen Sie, Mat? Und warum tragen Sie dieses sonderbare Käppchen unter Ihrem Hut?«

»Ich kam zuletzt aus Amerika«, sagte Mat so ernst und bedächtig wie immer, »und trage dieses Käppchen, weil ich keine Kopfhaut auf meinem Kopfe habe.«

»Zum Teufel auch! Was meinen Sie damit?« schrie Zack, für den Augenblick ganz nüchtern werdend und seine Hand so schnell von seines neuen Freundes Schulter entfernend, wie wenn er sie auf ein glühendes Eisen gelegt hätte.

»Ich meine immer, was ich sage«, fuhr Mat fort, »das Gute habe ich an mir, wenn ich auch sonst weiter nichts habe. Ich und meine Kopfhaut haben uns schon vor Jahren getrennt. Ich stehe hier auf einer Londoner Brücke und spreche hier mit einem jungen Burschen, welcher Zack heißt. Meine Kopfhaut befindet sich auf der Spitze eines hohen Pfahles in irgendeinem indianischen Dorfe des Amazonen-Landes. Wenn dort solche Windstöße sind, wie gerade heute hier, so wird sie wahrscheinlich wie ein Stückchen trockenes Pergament rascheln, und das ganze Haar, welches sich noch daran befindet, wird sich unruhig bewegen, wie ein Rossschweif, der von vielen Fliegen belästigt wird. Weiter weiß ich von meiner Kopfhaut nichts. Wenn Sie mir nicht glauben wollen, so ergreifen Sie meinen Hut, und ich will es Ihnen zeigen —«

»O, nicht doch!« rief Zack, vor dem ihm angebotenen Hut zurückweichend aus. »Ich glaube Ihnen alter Bursche. Aber, wie zum Teufel, werden Sie ohne Kopfhaut fertig? — So etwas habe ich noch niemals gehört! Wie ist es möglich, dass Sie noch leben, he?«

»Es gehört weit mehr Geschicklichkeit dazu, einen starken Mann zu töten, als Ihr Londoner Burschen Euch einbildet«, sagte Mat.

»Ich wurde gefunden, ehe mein Kopf kalt geworden war, und darauf wurde er mit Blättern und Salbe bedeckt. Man hatte hinten ein wenig von der Kopfhaut daran gelassen, da sie in zu großer Eile waren, um ihre Arbeit so vollständig, wie gewöhnlich, zu verrichten; und nach einiger Zeit wuchs eine neue Haut darüber, eine Art Haut, die der eines kleinen Kindes ähnlich und dabei ziemlich empfindlich war. Ich musste also nachhelfen und bedeckte meinen Kopf ungeniert mit einem alten gelben Taschentuche, welches ich so lange trug, bis ich auf meiner Rückreise nach St. Francisco kam. Hier traf ich einen Priester, welcher mir gesprächsweise mitteilte, dass ich so bedeckt fast wie ein Wilder aussähe. Ich würde bei meiner Rückkehr nach der zivilisierten Welt viel anständiger erscheinen, wenn ich statt des Taschentuches ein Käppchen wie das seinige tragen würde. Ich befolgte seinen Rat und kaufte dieses Käppchen. Ich vermute, dass es besser aussieht, als mein altes Taschentuch, aber es ist nicht halb so bequem.«

»Aber auf welche Weise verloren Sie Ihre Kopfhaut?« fragte Zack »erzählen Sie mir alles darüber. Bei meiner Seele, Mat, Sie scheinen der interessanteste Kerl zu sein, mit dem ich jemals zusammentraf! Und ich sage, lassen Sie uns ein wenig umhergehen, während wir sprechen. Ich stehe jetzt wieder fester auf meinen Füßen, und es ist hier so höllisch kalt, wenn man sich nicht von der Stelle rührt.«

»Auf welche Weise können wir am leichtesten aus diesen schmutzigen Häusern und Straßen wegkommen?« fragte Mat, London mit einem Ausdrucke des grimmigsten Ekels übersehend. »Sogar auf dieser Brücke ist für den Wind nicht einmal Raum genug, um einen Menschen ordentlich anzuwehen. Ich möchte ebenso ungern im Bett ersticken, als hier im Rauche.«

»Was für ein sonderbarer Kerl Sie sind! — ein gehöriger Charakter. Lassen Sie uns nach dieser Richtung hingehen. Fest alter Knabe! Der Grog ist noch nicht ganz aus meinem Kopfe heraus, und ich habe den Schlucken bekommen. Hier ist mein Weg nach Hause und Ihr Weg in die frische Luft, wenn Sie deren wirklich bedürfen. Nun kommen Sie und sagen Sie mir, auf welche Weise Sie Ihre Kopfhaut verloren haben.«

»Darüber gibt es gerade nicht besonders viel zu erzählen. Wie heißen Sie doch gleich?«

»Zack.«

2Nun, Zack, ich lauerte auf einer meiner Wanderfahrten auf Wild, das an den Ufern des Amazon auftauchte —«

»Amazon? was zum Teufel ist das? Eine Frau oder ein Ort? — fest gestanden, oder jene Droschke wird uns überfahren.«

»Hörten Sie jemals von Süd-Amerika?«

»Ich kann das gerade nicht positiv beschwören, aber nach meinem besten Wissen, denke ich, dass ich doch etwas davon gehört habe.«

»Wohlan! der Amazon ist ein großer Fluss in jenen Gegenden. Ich war, wie ich Ihnen sagte; auf einem Streifzuge begriffen. —«

»Beim Jupiter! Sie sehen gerade wie ein Mann aus, der überall Streifzüge unternommen hat.«

»Wirklich?«

»Und alles getan hat, möchte ich sagen.«

»Größtenteils alles. Ich habe das Vieh in Mexiko getrieben, ich habe eine Truppe begleitet, die einen Landweg nach dem Nordpol auffinden wollte, ich habe mich während einer oder zwei Jahreszeiten mit dem Einfangen von wilden Pferden in den Pampas abgegeben und zwei Jahreszeiten darauf habe ich in Kalifornien nach Gold gegraben, Ich ging aus England weg als ein rüstiger Bursche an Bord eines Schiffes und jetzt bin ich nun wieder hier zurück als ein alter Vagabund, der keinen Freund hat, den er den seinigen nennen könnte. Wenn Sie gerade genau wissen wollen, wer ich bin und was ich mein ganzes Leben lang getan habe, so ist das gerade alles, was ich Ihnen darüber sagen kann.«

»Und das ist auch verteufelt interessant! Aber ich sage, —— o dieser höllische Husten! Ich werde immer des Nachts nach dem Abendbrote davon gequält, ich bin von meiner Kindheit an ein Märtyrer des Hustens gewesen —— aber ich sage, es gibt noch eine Sache, von der Sie mir noch nichts gesagt haben; Sie haben mir noch nicht gesagt, welchen andern Namen Sie außer Mat haben. Der meinige ist Thorpe.«

»Ich habe den Widerhall des andern Namens, nach dem Sie fragen, seit mehr als zwanzig Jahren nicht gehört, und es soll mich auch nicht kümmern, wenn ich ihn niemals wieder höre.«

Als er diese Worte sprach, klang seine Stimme rau und er wandte seinen Kopf ein wenig von Zack ab.

»Man gab mir den Beinamen »Marksman (Scharfschütz)«, als ich die Fahrten mit den Entdeckungstruppen mitmachte, weil ich der beste Schütze auf dem Schiffe war. Nennen Sie mich auch Marksman, wenn Sie den Namen Mat nicht lieben. Herr Mathias Marksman also, wenn es Ihnen beliebt. Jedermann scheint hier ein Herr zu sein. Sie sind natürlich auch einer, aber trotzdem gedenke ich Sie nicht Herr zu nennen. Ich werde bei Zack bleiben; das ist kurz und man braucht sich nicht lange damit zu quälen.«

»Ganz recht, alter Bursche! Und ich will es bei Mat lassen, welches noch um einen ganzen Buchstaben kürzer ist. Aber Sie haben mir ja noch immer nicht die Geschichte erzählt, auf welche Weise Sie Ihre Kopfhaut verloren haben.«

»Da kann ich keine lange Geschichte davon erzählen. Wissen Sie, was es heißt, wenn Sie durch alle diese krummen und langen Straßen hier von einem Manne verfolgt werden? Ich glaube, das wissen Sie! Wohlan, drei hinterlistige, indianische Diebe verfolgten mich über mehr als vierhundert Meilen in einem einsamen Lande, wo ich eine ganze Woche lang laut hätte um Hilfe heulen können und mich doch Niemand gehört hätte. Sie verlangten meine Kopfhaut, sie verlangten meine Büchse und am Ende ihrer Menschenjagd bekamen sie zuletzt Beides, weil ich keinen Schlaf finden konnte.«

»Keinen Schlaf finden können! Warum nicht?«

»Weil sie drei waren und ich nur einer! Einer von ihnen hielt Wache, während die beiden andern schliefen. Ich hatte Niemanden, der für mich Wache hielt, und mein Leben hing davon ab, dass ich meine Augen Tag und Nacht offen hielt. Ich schlief einst leise wie ein Hund ein und wurde durch einen Pfeilschuss in mein Gesicht erweckt. Ich hielt noch eine lange Zeit aus, ehe ich nachgab, aber zuletzt ergriff mich Entsetzen, ich dachte, die Prärie stünde ganz in Feuer und lief davon. Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem tollen Zustande weitergelaufen bin, aber ich weiß nur, dass dieses Entsetzen mein Lebensretter wurde. Ich verlor meine eigene Spur und geriet in die Spuren der mir befreundeten Indianer, Leute, mit denen ich Handel getrieben hatte. Ich kam so nah an sie heran, dass die Nachzügler ihrer Jagdpartie mein lautes Schreien über meine verlorene Kopfhaut hören konnten. Nun wissen Sie gerade so viel davon, als ich selbst davon weiß; denn ich kann Ihnen weiter nichts sagen, außer, dass ich in einem indianischen Wigwam mit kühlenden Blättern statt der Haare auf meinem Kopfe erwachte.«

»Beim heiligen Georg, wie schrecklich! Es ist fürchterlich ergreifend! Welche von diesen Narben auf Ihrem Gesicht rührt von der Pfeilwunde her, he? O, das ist sie, nicht wahr? Hallo, alter Bursche, Sie haben ein blaues Auge davongetragen. Hat einer von jenen Halunken so hart zugeschlagen, um Sie so nach unserer Art zu verletzen?«

»Mich verletzen! Solche Spitzbuben mich verletzen! —« Marksman, durch die Außerordentlichkeit der Idee belustigt, welche Zacks Frage bei ihm hervorrief, schüttelte seine stämmigen Schultern und brach in ein mürrisches Kichern aus, welches einigermaßen auf eine rohe Verwandtschaft mit dem Lachen Anspruch machen konnte.

»Ach natürlich, sie haben Sie nicht verletzt! —— Ich dachte nicht, dass sie das getan hätten«, sagte Zack, dessen faustkämpferische Sympathien durch die Verachtung, womit sein neuer Freund die im Kampf erhaltenen Quetschungen und Beulen behandelte, tief berührt wurde. »Fahren Sie fort, Mat, ich liebe Abenteuer, wie die Ihrigen. Was taten Sie, nachdem Ihr Kopf wieder geheilt war?«

»Nun, ich wurde des Herumwanderns an dem Amazonasstrome müde, ging weiter nach Süden, lernte daselbst einen Lasso werfen und beschäftigte mich eine Zeitlang mit dem Einfangen von wilden Pferden. Galoppieren tat meinem Kopfe gut.«

»Das würde dem meinigen gerade ebenfalls gut tun. Ein. solches, heiteres, herumstreifendes Leben, wie das Ihrige, Mat, ist gerade dasjenige, was mir gefällt! Wie fingen Sie es zuerst an? Entliefen Sie Ihrer Heimat?«

»Nein, ich diente an Bord eines Schiffes, wohin ich gebracht wurde, weil ich ein zu fauler Vagabund war, als dass man mich hätte zu Hause halten wollen. Ich wollte immer der Veränderung halber irgendwo frei in der Stadt herumlaufen, aber ich tat es dennoch nicht, bis ich einen Brief auffing, den ich im Hafen in Brasilien vorfand. Darin stand eine Nachricht, welche mir das nach Hause Gehen wieder verleidete, also desertierte ich und ging auf einen Streifzug. Und seit dieser Zeit bin ich meistenteils immer auf Streifzügen gewesen, bis ich am letzten Sonntag hierher kam.«

»Wie, sind Sie erst seit Sonntag in England?«

»So ist es. Ich verbrachte eine gute Zeit in Kalifornien, wo ich zuletzt gewesen bin, um nach Gold zu graben. Mein Kamerad, der bei mir war, fing von dem alten Lande (Heimat) zu sprechen an und machte einen solchen Eindruck auf mich, dass ich mit ihm zurückging, um es noch einmal zu sehen. Also, statt mein ganzes Geld dort drüben zu verspielen, (Herr Marksman zeigte mit der Hand sorglos nach einer westlichen Richtung) bin ich hierhergekommen, um es hier zu verzehren. Ich gehe morgen auf das Land, um zu sehen, ob noch irgendjemandem an dem alten Orte etwas daran liegt, mich als seinen Verwandten zu betrachten. Wenn das Niemand tut, werde ich sogleich wieder zurückgehen. Nachdem ich zwanzig Jahr oder noch länger unter den Wilden gewesen bin, kann ich mich nicht mehr an die Lebensart hier gewöhnen. Ich kann in keinem Bette schlafen, kann es in keinem Zimmer lange aushalten, befinde mich nicht wohl in anständigen Kleidern, kann mich nicht nach einem Vergnügungslokale verlaufen, wie ich es vergangene Nacht tat, ohne dass ein Skandal entsteht, weil ich nicht einen gehörigen Kopf voll Haare habe, wie jeder andere Mensch. Ich kann es nicht lange bei Euch aushalten; ich bin an harte Gesichtszüge und an wildes Land gewöhnt und werde dorthin zurückgehen, um daselbst aus irgendeinem von den einsamen Plätzen sterben, wo Raum genug für mich ist.«

Und wiederum streckte Herr Marksman seine Hand sorglos in der Richtung des amerikanischen Kontinents aus.

»O, sprechen Sie nicht vom Zurückgehen, alter Bursche!« schrie Zack. »Sie müssen eine ganze Menge von herrlichen Geschichten zu erzählen wissen, die ich gern Alle hören möchte. Am liebsten möchte ich selbst nach Amerika entlaufen. Es nützt Ihnen nichts, gleich wieder von hier fortzulaufen, nachdem Sie soeben hier angelangt sind und ehe ich Zeit gehabt habe, Sie kennen zu lernen. Überdies werden Sie sicherlich noch irgendeinen von Ihren Verwandten vorfinden. Meinen Sie das nicht selbst, Mat?«

Mat gab keine Antwort. Er fing an plötzlich langsamer zu gehen, dann eben so plötzlich seinen Schritt wieder zu beschleunigen, indem er Zack in größter Eile nach sich zog.

»Sie werden sicherlich Jemanden finden«, fuhr Zack in seiner freien, vertrauten Weise fort. »Ich weiß nicht, —— langsam, Mat! Wir laufen doch nicht um die Wette —— ich weiß nicht, ob Sie verheiratet sind oder nicht? (Herr Marksman gab immer noch keine Antwort und ging schneller als je.) Aber wenn Sie auch keine Frau oder kein Kind haben, so hat doch Jeder einen Vater und eine Mutter, verstehen Sie? und die meisten Leute haben Brüder und Schwestern; und sogar wenn ——«

»Gute Nacht!« sagte Herr Marksman, ein wenig still stehend und barsch seine Hand ausstreckend.

»Wie? Was haben Sie denn vor?« fragte Zack mit Erstaunen. »Sie wollen sich doch nicht jetzt schon von mir trennen? Wir sind noch nicht an dem Ende der Straßen. Ich habe doch nichts gesagt, was Sie hätte beleidigen können?«

»Nein, nichts. Wenn Sie wollen, können Sie übermorgen mit mir weiter sprechen, wo ich dann auf alle Fälle wieder zurück sein werde. Ich sagte, ich wollte Ihnen ein Bruder sein, und das heißt in meiner Sprache: ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen. Sie wünschen gern zu wissen, was für eine Art von Leben ich geführt habe —— nicht wahr? Sehr wohl; ich will Ihren Wunsch erfüllen. In Kirk-Street, Wendover-Market, befindet sich ein Bäckerladen mit einer grünen Tür und daran Nr. 14 mit gelber Farbe geschrieben. Wenn ich in meinem eigenen Zimmer eingeschlossen bin, was nicht oft der Fall ist, so können Sie mich da finden. Ich kann Ihnen den Hausschlüssel aber nicht geben, weil ich ihn selber brauche.«

»Kirk-Street? Das ist mein Weg. Warum können wir nicht zusammen weiter gehen? Warum wollen Sie hier schon gute Nacht sagen?«

»Weil ich allein zu sein wünsche. Es ist nicht Ihre Schuld, aber Sie haben bei mir eine Erinnerung angeregt, welche mein Gemüt beunruhigt hat. In meiner Jugend habe ich ein einsames Leben geführt, indem ich mich Monate lang draußen in der Wildnis herumtrieb, ohne mit irgendeinem menschlichen Wesen zu sprechen. Ich weiß wohl, dass dies keine richtige Lebensweise für einen Mann ist, aber ich führte sie nun einmal und kann nicht umhin, sie zuweilen noch immer gern zu führen. Wenn ich unruhig in meinem Gemüt bin, so wünsche ich, dass man mich allein lässt, wie ich es gewöhnt bin. Und das wünsche ich fest.« Herr Marksman streckte seine Hand noch einmal aus.

»Nun, Mat, Sie sind sicherlich der merkwürdigste Bursche, mit dem ich jemals zusammengekommen bin. Warten Sie ein wenig, alter Knabe, bis ich Ihre Adresse in meinem Notizbuch aufgeschrieben habe. Zum Teufel auch! Ich kann gar nicht damit fertig werden. Was für eine Nummer war es? —— he? Ach! Vierzehn. Warten Sie eine Minute; Herr Marksman, das ist der Name, nach dem ich fragen soll, nicht wahr? Ganz recht. »Herr Marksman, 14 Kirk-Street, Wendover-Market.« Welchen Tag haben wir übermorgen? Donnerstag? »Wendover-Market: Donnerstag.« Soll ich schreiben »früh am Morgen?« Sehr wohl: »früh am Morgen«. Und Mat, wenn Sie wirklich Niemanden finden, der Ihnen angehört ——«

»Gute Nacht!« wiederholte Herr Marksman, plötzlich nach der andern Seite des Weges schreitend und dann mit großen Schritten gerade ausgehend.

Der junge Thorpe stand mit seinem Notizbuch und seinem Bleistifte in der Hand, seinem neuen Freunde nachschauend, bis er ihn in der Ferne, die nur noch schwach vom Gaslicht erleuchtet wurde, gänzlich aus dem Gesicht verloren hatte. Er hörte den letzten Widerhall seines festen Fußtritts aus dem Straßenpflaster in der Stille des Morgens leise verschwinden.

»Das ist ein sonderbarer Kerl«, dachte Zack, als er seinen eigenen Weg fortsetzte, »und wir sind auf eine sehr sonderbare Weise miteinander bekannt geworden. Ich werde ihn Donnerstag besuchen, denn, wenn ich in die Welt hinausgestoßen werde, was durchaus nicht unwahrscheinlich ist, wenn ich bedenke, wie schlecht sich meine Lage zu Hause gestaltet, so ist er gerade der rechte Mann dazu, mir über die gehörige Richtung welche ich einschlagen muss, einen oder zwei Winke zu geben. Ich werde ihn sicherlich am Donnerstag besuchen; es könnte vielleicht aus diesem Besuche bald für mich etwas entstehen.«

Zack war ein sorgloser Mutmaßer, aber in diesem Falle mutmaßte er richtig. Etwas entstand daraus.



Kapiteltrenner

Drittes Kapitel - Die Rückkehr des verlorenen Sohnes

Als Zack Baregrove-Square erreichte, war es vier Uhr Morgens. Die benachbarte Kirchenglocke schlug gerade diese Stunde, als er sich seiner Haustür nahte.

Gleich nachdem er sich von Herrn Marksman getrennt hatte, musste es sein böses Schicksal wollen, dass er bei einer jener spätzeitigen oder, um richtiger zu sprechen, bei einer jener frühzeitigen Kneipen vorbeiging, welche den Gästen während der Frühstunden des Morgens geöffnet sind. Er fühlte einen brennenden Durst und der Schlucken, welcher ihn in der Gesellschaft seines neuen Freundes befallen hatte, war noch nicht gänzlich verschwunden.

»Wenn ich nun versuchte, ob mir ein Tropfen Cognac gut tun würde«, rief Zack aus, an dem verhängnisvollen Eingange der Kneipe stehen bleibend.

Er ging leicht und frei genug hinein. Er kam mit einiger Ungemächlichkeit und nicht weniger Mühe wieder heraus. Er hatte jedoch seinen Zweck, den Schlucken los zu werden, erreicht. Das angewandte Mittel wirkte natürlich eben sowohl auf seine Beine, als auf seinen Magen —— aber das war eine unbedeutende physiologische Sonderbarkeit, welche der Beachtung gänzlich unwürdig war. Er war viel zu sehr ausschließlich mit seinen Gedanken an den sonderbaren Herrn Marksman beschäftigt, um in der Erinnerung noch einmal die Masse von angenehmen Umständen zu belachen, welche ihn mit seinem neuen Bekannten zusammengebracht hatten, um seinen eigenen persönlichen Zustand, oder zu bemerken, dass sein Gang über das Pflaster einigermaßen von einer schwankenden Beschaffenheit war, als er nach Hause ging. Nur erst als er den Hausschlüssel aus seiner Tasche zog und ihn in das Schlüsselloch zu stecken versuchte, wurde seine Aufmerksamkeit gehörig auf sich selbst geleitet, zumal als er entdeckte, dass seine Hände fast kraftlos waren, und dass er auch keineswegs fest auf seinen Beinen stand.

Es gibt einige Leute, deren Geist, und einige, deren Körper durch den Einfluss des berauschenden Getränks benebelt werden. Zack gehörte zur zweiten Klasse. Er war vollkommen im Stande, alles zu verstehen, was zu ihm gesagt wurde, und alles zu wissen, was er selbst sagte, lange nach dem seine Sprache schwerfällig und seine Haltung gefährlich unsicher geworden war. Er war jetzt vollkommen überzeugt, dass sein Besuch in der Kneipe keineswegs dazu beigetragen hatte, ihn nüchtern zu machen, und wusste recht gut, wie wichtig es für ihn war, wenn er sich geräuschlos ins Bett stehlen wollte, aber er war zu gleicher Zeit gänzlich unfähig, den Schlüsse! in die Tür stecken oder ruhig nach dem Schlüsselloch sehen zu können, ohne sich vorher an das Geländer des freien Platzes anzuhalten.

»Fest«, murmelte Zack, »es ist um mich geschehen, wenn ich Lärm mache.«

Hier fühlte er nach dem Schlüsselloch und steckte den Schlüssel mühsam mit seiner linken Hand in die richtige Öffnung. Hierauf öffnete er die Tür so ruhig, dass er selbst darüber erstaunt war, trat mit bewunderungswürdiger Verstohlenheit in den Gang, schloss hierauf das Haus wieder und rief »still!« als er bemerkte, dass er das Schloss ein wenig zu geräuschvoll in den Riegel hatte fallen lassen.

Er lauschte, bevor er sein Licht anzuzünden versuchte. Die Luft im Hause war sonderbar dicht und heiß in Vergleich mit der Luft draußen. Die dunkle Stille über und um ihn war von einer ehrfurchteinflößenden und tugendhaften Ruhe belegt und wurde noch verhängnisvoll durch das feierliche Ticken der Uhr vermehrt, das, am Tage vom Gange aus niemals, in diesem Augenblicke schrecklich und unbegreiflich deutlich hörbar war.

»Ich will die Tür nicht verriegeln«, flüsterte er zu sich selbst, »bis ich ein ——«

Hier zeigte sich handgreiflich die Unzuverlässigkeit des Kognaks als heilendes Agens in Fällen von Gärungen im Magen durch die Rückkehr des Schluckens. »Still!« rief Zack zum zweiten Male, erschreckt über die plötzliche Heftigkeit des Schluckens und seine Hand auf den Mund schlagend, als es zu spät war.

Nachdem er auf den Knieen liegend mit außerordentlicher Ausdauer rings um den Rand seines Leuchters, welcher aus einem der Stuhle des Vorsaals stand, herumgetappt hatte, gelang es ihm nicht, die Schachtel mit Schwefelhölzer zu finden, sondern sie unerklärlicher Weise vom Stuhl herunter zu schlagen, wo sie auf den mit Steinen gepflasterten Fußboden hinrollte, bis sie an der entgegengesetzten Mauer stehen blieb. Er bemächtigte sich derselben mit einiger Schwierigkeit und machte Licht.

Niemals hatte Zack früher ein Schwefelholz sich mit einem so grellen Knistern entzünden hören, als es bei diesem einen unheilvollen und teuflischen Schwefelholz der Fall war, das er zufällig herausgezogen hatte, um sein Licht daran anzuzünden.

Das nächste, was er zu tun hatte, war, die Tür zu verriegeln. Dies gelang ihm sehr gut mit dem Riegel oben, aber es missglückte ihm gänzlich mit dem Riegel unten, der sich in dieser Nacht besonders schwierig handhaben zu lassen schien, denn sobald er bewegt wurde, knarrte er fürchterlich; dann saß er hämisch am Schließhaken fest —— endlich glitt er plötzlich unter einem mäßigen Drucke herunter und fiel wie ein Blitz mit einem Donner des boshaftesten Triumphs in die dazu passende Krumme. »Wenn das meinen Vater nicht herunterbringt«, dachte Zack, mit beiden Ohren aufhorchend und seinen Schlucken so viel er konnte, dämpfend »—— so hat er einen festeren Schlaf, als ich ihm zumutete.«

Aber es öffnete sich keine Tür, keine Stimme rief, kein Schall irgendeiner Art unterbrach die geheimnisvolle Stille der Umgebung des Schlafzimmers Zack setzte sich auf der Treppe nieder, zog seine Stiefel aus, stand mit einiger Schwierigkeit wieder auf, lauschte, ergriff seinen Leuchter, lauschte noch einmal, flüsterte sich selbst zu, »nun drauf und dran!« und fing an, den gefährlichen Gang nach seinem Zimmer anzutreten.

Er hielt sich fest an die Geländersäule und fiel auch nur einmal gegen dieselbe, machte sie aber dadurch von oben bis unten zittern, ehe er den Treppenabsatz des Besuchszimmers erreichte. Er stieg die zweite Treppe herauf, ohne dass ihm etwas Besonderes begegnet wäre, bis er zur obersten Stufe kam, dicht an der Tür vor seines Vaters Schlafzimmer. Hier wollte ein schreckliches Verhängnis, dass der erstickte Schlucken über alle Maßen wieder losbrach und sich deutlich ein krampfhaftes lautes Aufstoßen kundgab, wodurch Zack plötzlich von Entsetzen ergriffen wurde. Er zitterte so sehr, dass sein Leuchter hin und her wankte; die Lichtschere, welche unbefestigt darauf lag, fiel davon herab, glitt mutwillig die Steintreppen Hinunter und rollte über den Absatz mit einem lauten und lebhaften Geräusch in teuflisch ausgelassener Freude zur Ehre ihrer eigenen Tätigkeit.

»O mein Himmel!« rief Zack leise aus, als er eine Stimme sprechen und sich Jemanden im Schlafzimmer bewegen hörte. Er erinnerte sich, dass er noch eine andere Treppe hinaufzusteigen hatte —— diesmal eine hölzerne Treppe, ehe er zu seiner eigenen Bodenkammer gelangen konnte.

Er stieg jedoch sogleich mit dem Mute der Verzweiflung hinauf, jede einzelne Stufe bebte und krachte unter ihm, gerade wie wenn ein junger Elefant statt eines jungen Mannes sich zur Ruhe begeben hätte. Er blies sein Licht aus, riss seine Kleider herunter, schlüpfte zwischen die Betttücher, fing sorgfältig an zu schnarchen, wie wenn er fest schliefe, in der verzweifelten Hoffnung, dass er noch im Stande wäre, seinen Vater zu täuschen, wenn Herr Thorpe heraufkäme, um nach ihm zu sehen.

Aber ein anderer und letzter Unfall, der schrecklichste von allen, vereitelte seine Pläne und verriet ihn ohne Erbarmen. Sobald er sich niedergelegt hatte, hörte er ein starkes und unaufhörliches Singen in seinen Ohren, welches ihn verwirrte und halb betäubte. Sein Bett, das Zimmer, das Haus, die ganze Welt drehte sich um ihn herum und senkte sich wie toll auf und nieder mit ihm. Er hörte auf, ein menschliches Wesen zu sein. Er war ein sich im Kreise drehendes Atom, welches sich betäubt in einem unermesslichen Raume hin und her bewegte. Er fuhr im Bette auf und wurde durch einen kalten Schweiß und eine tödliche Anwandlung wieder zum Bewusstsein der Menschheit zurückgerufen. Der Schlucken hatte aufgehört, aber es folgten ihm andere und lautere Töne, Töne, die Jedem vertraut klingen, der jemals zur See gewesen ist —— Töne, welche eine nautische und beklagenswerte Verwandtschaft haben mit weißen Waschbecken, wirbelnden Wellen und dem Elende eines sterblichen Magens, der in der Verzweiflung eines Brechanfalls sein klägliches Aufstoßen hören lässt.

In den augenblicklichen Pausen zwischen den schnell aufeinander folgenden Anfällen der Krankheit, welche ihn jetzt überwältigte und welche er in dem späteren Leben ganz allein dem Einfluss des unverdaulichen gerösteten Käses zuschrieb, hörte Zack, wenn auch undeutlich, das Geräusch eines Menschen, der in Pantoffeln die Treppe heraufstieg. Sein Rücken war der Tür zugewandt. Er hatte keine Kraft, sich zu bewegen, keinen Mut, um sich zu sehen, keine Stimme, um sie zu einem Laute zu erheben. Er wusste, dass seine Tür geöffnet wurde, dass Licht in seinem Zimmer erschien, dass eine Stimme rief: »Entartetes Vieh!« —— dass die Tür plötzlich mit einem Knalle wieder zugeworfen wurde —— und dass er wieder in vollkommener Dunkelheit lag. Er kümmerte sich nicht um das Licht, oder um die Stimme, oder um das Knallen der Tür —— er dachte auch nachher nicht daran, er trauerte nicht um die Vergangenheit, noch dachte er an die Zukunft. Er keuchte, fiel auf sein Kissen wieder zurück, zog wimmernd die Bettdecke über sich und schlief wieder ein in glücklicher Sorglosigkeit über die Vergeltung, welche seiner am andern Morgen harrte.

Als er am andern Morgen spät erwachte, bemerkte er zuerst weiter nichts, als dass es draußen fürchterlich taute, und dass er heftige Kopfschmerzen hatte, aber nach und nach wurde durch ein Gefühl von Schmerzhaftigkeit in seinen Rippen und durch eine in ihm entstehende Überzeugung, dass seine Nase für sein Gesicht zu groß geworden wäre, die Erinnerungen an jenen merkwürdigen Kampf in dem Tempel der Harmonie in ihm wieder wach gerufen —— Zacks Gedächtnis fing richtig, wenn auch verworren, wieder an, sich die Umstände zu vergegenwärtigen, welche bei seiner Rückkehr nach Hause und der unglücklichen Fahrt nach seinem Bette obgewaltet hatten. Zu diesen Erinnerungen gesellten sich andere, wie die des Lichtes, das in sein Zimmer gedrungen war, nachdem das seinige erloschen; sowie der Stimme, welche ihn als »entartetes Vieh« bezeichnet hatte, und des Knallens der Tür, welches darauf folgte. Es konnte wohl kein Zweifel darüber herrschen, dass es sein Vater gewesen, der in sein Zimmer getreten war und ihn auf die kurze, ausdrucksvolle Weise angeredet hatte, welche er sich jetzt zurückrief. Niemals hätte sich Herr Thorpe früher bei irgendeiner Gelegenheit Schimpfnamen bedient oder mit den Türen geworfen. Es war ganz klar, dass er alles entdeckt hatte und gegen seinen Sohn in einem solchen Grade aufgebracht war, wie dies niemals früher bei ihm gegen irgendein anderes menschliches Wesen stattgefunden hatte.

Gerade als Zack zu diesem Entschluss gekommen war, hörte er auf der Treppe ein Rascheln, das seiner Mutter Kleid verursachte, und Frau Thorpe erschien, ihr Taschentuch vor ihre Augen haltend und jammernd an seinem Bette. In seinem Elende von tiefer Reue ergriffen, versuchte er seiner Mutter Vergebung zu gewinnen, bevor er seines Vaters Wut entgegentrat. Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, schämte er sich dermaßen, dass er sie nicht anzusehen wagte, und wandte sein Gesicht der Wand zu. —— In dieser Stellung bekannte er alles, gelobte Besserung für die Zukunft und für immer, erklärte seine Bereitwilligkeit, jede Buße zu tun, die von ihm verlangt werden könnte, mit einem Worte, er wandte sich an das Mitleid seiner Mutter in den rührendsten Ausdrücken und mit den heftigsten Beteuerungen, die er jemals gegen sie ausgestoßen hatte.

Aber die einzige Wirkung, die er auf Frau Thorpe hervorbrachte, war die, dass sie in heftiger Aufregung, mütterlich schluchzend, im Zimmer auf und ab ging. Dann und wann entschlüpften kläglich und unzusammenhängend ihren Lippen einige Worte. Sie waren gerade soweit verständlich für ihn, dass er sich aus ihnen zusammenreimen konnte, dass sein Vater alles entdeckt hätte, dass er in Folge dessen einen Anfall von Herzklopfen gehabt und sich beim Aufstehen heute Morgen zu schwach an Geist und Körper gefühlt hätte, um das ungeheure Verbrechen seines Sohnes allein richten zu können, dass er deshalb jetzt ausgegangen wäre, um sich Herrn Yollops Rath darüber zu erbitten, was er in dieser schrecklichen und schimpflichen Lage, in die er jetzt gekommen wäre, als Christ und Vater am besten tun könnte.

Bei dieser Entdeckung verwandelte sich Zacks Reue sogleich in eine merkwürdige Mischung von Zorn und Unruhe. Er drehte sich schnell nach seiner Mutter um, aber ehe er seine Lippen öffnen konnte, sagte sie ihm, indem sie mit einer schnellen und ungewöhnlichen Strenge der Stimme sprach, dass er durchaus nicht daran denken sollte, wie gewöhnlich nach dem Laden zu gehen, sondern seines Vaters Rückkehr zu Hause abzuwarten, und dann stürzte sie aus dem Zimmer.

Frau Thorpe misstraute ihrer eigenen Unerschütterlichkeit, wenn sie zu lange bei ihrem reuigen Sohne verweilen würde, aber Zack konnte unglücklicherweise dieses nicht wissen. Er konnte nur sehen, dass sie ihn schnell verließ, nachdem sie eine unheilvolle Botschaft überbracht hatte, und konnte ihr Benehmen nur auf das traurigste und entmutigendste auslegen.

»Wenn die Mutter sich von mir abwendet, dann habe ich meine letzte Hoffnung verloren, und es bleibt mir nichts weiter übrig, als zu ——« er hielt inne, ehe er weiter sprach, richtete sich im Bette auf und ging ein oder zwei Minuten mit sich selbst zu Rate. »Ich könnte mich entschließen, alles von meinem Vater zu ertragen, weil er ein Recht hat, mich für mein Betragen zu züchtigen, aber wenn ich das vom alten Yollop wieder ertrage, so will ich ——« hier verlor sich alles, was Zack auch immer sagte, in dem Widerhalle eines Schlages voll von Wut und Verzweiflung, den er seiner Matratze beibrachte, auf welcher er saß. Nachdem er sich auf diese Weise erleichtert hatte, sprang er aus dem Bette, indem er zuletzt in wirklichem Ernste jene wenigen Worte eines verhängnisvollen Gaunerdialekts aussprach, welche oft an andern Tagen als eine leere Drohung seinen Lippen entschlüpft waren:

»Es ist alles vorbei mit mir; ich muss der Heimat entlaufen.«

Er wusch sich tüchtig und erfrischte dadurch sowohl Geist als Körper; aber dennoch wankte sein Entschluss nicht. Schnell zog er seine Kleider an, sah aus dem Fenster, lauschte an der Tür, und während dieser ganzen Zeit schwankte er niemals in seinem Vorhaben. Er konnte sich nur zu gut der Strafen erinnern, welche er schon von Herrn Yollop erlitten hatte, und war jetzt überzeugt, dass dieselben jetzt mit wenigstens vierfacher Strenge wiederholt werden würden! Und dieser Gedanke reichte hin, um ihn in seiner verzweifelten Absicht fest und unerschütterlich zu erhalten, ohne dass es noch nötig gewesen wäre, sich noch alles das vor die Seele zu rufen, was er von seines Vaters Zorn auszustehen haben würde; ja dieser Gedanke hätte hingereicht, den Vorsatz der Flucht in seiner Brust wach zu rufen, wenn er nicht schon vorher von seiner Befreiung aus der einförmigen Sklaverei des Lebens im Teeladen geschwärmt hätte.

»Dies wird mir helfen, dass ich es eine Zeitlang aushalten kann, bis ich weiß, was ich anfangen soll«, dachte er, indem er eine goldene Uhr und Kette, welche ihm einst von seinem Großvater geschenkt worden waren, einsteckte. »Der arme alte Goodworth! Wie wenig dachte er damals, dass er dem Pfandleiher ein Geschenk gemacht hätte. Aber ich will sie einlösen sobald ich kann ——« hier wandten sich auf einmal bei dem Anblicke seines Notizbuches seine Gedanken seinem sonderbaren Gefährten der vergangenen Nacht zu, und als er an die verabredete Zusammenkunft zum Donnerstagmorgen dachte, erglänzten seine Augen und er sagte, während er sich entschlossen der Tür zuwandte, laut zu sich selbst: »Jener sonderbare Kerl sprach davon, nach Amerika zurückzugehen, und wenn ich weiter nichts tun kann, will ich mit ihm gehen.«

In dem Augenblicke, wo seine Hand nach dem Türschloss fasste, wurde er durch ein Klopfen an der Tür erschreckt. Er öffnete sie und fand das Hausmädchen am Treppenabsatz mit einem Briefe für ihn. Sich wieder nach dem Fenster umdrehend, riss er hastig das Couvert ab. Mehrere bunt gedruckte Einladungskarten mit vergoldeten Rändern fielen heraus. Unter ihnen war ein Brief von Herrn Blyth geschrieben, der also lautete:

Mittwoch.

Mein lieber Zack! Beifolgend erhalten Sie die Einlasskarten zu meiner Gemäldeausstellung, von der ich gestern Abend mit Ihnen sprach. Ich schicke Ihnen dieselben auf Lavinias Anraten jetzt schon, anstatt sie Ihnen erst heute Abend selbst zu geben. Sie denkt, dass eine Ankündigung von nur drei Tagen, von heute bis Sonnabend fast zu kurz wäre, und sie hält es für ratsam, sogar einige Stunden zu erübrigen, um Sie in den Stand zu setzen, Ihren Freunden so viel Zeit als möglich zu gewähren und um am bequemsten Ihre Anordnungen treffen zu können, nach meinem Atelier zu kommen. Adressieren Sie deshalb sogleich gefälligst alle diese Einladungskarten, welche Sie an Ihre Bekannten schicken wollen, wie ich es mit den meinigen mache, und Sie werden dadurch einen Tag erübrigen, was schon viel ist. Martha muss heute Morgen wegen eines Ganges, der sie nach dieser Gegend führt, bei Ihrem Hause vorbeigehen, und deshalb schicke ich meinen Brief mit ihr. Wie bequem sich die Dinge zuweilen arrangieren lassen, nicht wahr?

Bringen Sie Jedermann her, wen Sie wollen, aber ich würde gebildete Leute vorziehen, da mein Figurengemälde des »Columbus«, der in dem Anblicke der neuen Welt versunken ist, mystisch behandelt ist und sich dazu eignet, einen gewöhnlichen Geist auf das äußerste in Anspruch zu nehmen, da es ein Werk der hohen Kunst ist, das Niemand hoffen kann, ohne langes Verweilen zu verstehen.

Ich fange an das Atelier für die Besucher aufzuräumen. Bei der Ausschmückung hilft mir die Madonna, wie es eben die Madonna auch nur kann. Sie findet alles und tut alles und läuft hinauf und hinunter, um Lavinia mitzuteilen, wie wir damit fertig werden, während ich bloß darüber nachdenke. Da ich ein so herrliches, gutes, liebliches Geschöpf habe, um mein Atelier auszuschmücken, so sieht das dumpfe, alte Zimmer schon jetzt wie ein verzauberter Palast aus, und ich bin der glücklichste Künstler, der jemals einen Malstock gehandhabt.

Ich verbleibe, mein lieber Zack,

Ihr getreuer

V. Blyth.

Die Durchlesung dieses Briefes erinnerte Zack an gewisse, neuere Bestrebungen in Rücksicht auf die schönen Künste, welche seinem schlechten Gedächtnisse entschwunden waren, während er über seine Aussichten in die Zukunft nachdachte. »Ich will an meiner ersten Idee festhalten«, dachte er, »und ein Künstler werden, wenn Blyth es nach den Vorfällen dieser Nacht gestatten will. Wenn er nicht will, so bleibt mir noch Mat, und ich will mich so frei in Amerika herumtreiben, als er es jemals tat.«

Also reflektierend stieg Zack leise nach dem hinteren Wohnzimmer hinunter, welches die Bibliothek genannt wurde. Die offene Tür zeigte ihm, dass Niemand im Zimmer war. Er ging hinein und schrieb in großer Eile die folgende Antwort auf Herrn Blyths Brief.

Mein lieber Blyth!

Ich danke Ihnen für die Einladungskarten. Ich bin in eine schreckliche Kalamität hineingeraten. Es ist entdeckt worden, dass ich um vier Uhr des Morgens berauscht nach Hause gekommen bin, was ich nur durch Entwendung des Hausschlüssels möglich gemacht habe. Die Strafe, welche ich deshalb zu erwarten habe, stelle ich mir so fürchterlich vor, dass ich lieber davonlaufen will. Ich schreibe diese Zeilen in einer schrecklichen Eile und einer tödlichen Angst, aus Furcht, mein Vater möchte nach Hause kommen, ehe ich damit fertig bin —— er ist zu Yollop gegangen, um den Pfarrer schlimmer als je auf mich zu hetzen.

Ich kann heute Abend nicht zu Ihnen kommen, weil Ihr Haus das erste wäre, in dem man mich suchen würde, und ich möchte nicht, dass Sie mit dieser unangenehmen Angelegenheit etwas zu tun hätten. Aber ich gedenke ein Künstler zu werden, wenn Sie mich nicht verlassen wollen. Tun Sie das nicht, alter Bursche! Ich weiß, dass ich ein niederträchtiger Taugenichts bin, aber ich will mich zu bessern suchen, wenn Sie mich nur nicht verlassen wollen. Wenn Sie morgen spazieren gehen, werde ich um drei Uhr an der Chaussee im Laburnumwege auf Sie warten. Wenn Sie nicht dorthin kommen oder nicht mit mir sprechen wollen, wenn Sie dahin kommen, werde ich England verlassen und etwas Verzweifeltes beginnen.

Ich habe einen neuen Freund —— er ist der beste und interessanteste Kerl auf der Welt, der während der Hälfte seines Lebens in den Wildnissen Amerikas gewesen ist; wenn Sie mir also nicht den Laufpass geben, werde ich ihn morgen zu Ihnen bringen, um Ihr Bild des Columbus zu sehen.

Ich fühle mich so elend und habe solche fürchterliche Kopfschmerzen, dass ich nicht weiter schreiben kann.

Stets der Ihrige Z. Thorpe junior.

Nachdem er auf diesen Brief die Adresse geschrieben und ihn in die Tasche gesteckt hatte, um ihn selbst nach der Post zu tragen, sah Zack nach der Tür und zögerte, dann machte er ein oder zwei Schritte vorwärts, um hinauszugehen, dann überlegte er gedankenvoll —— und kehrte endlich zum Schreibtisch zurück und nahm einen leeren Bogen Papier aus der Mappe.

»Ich kann die alte, gute Frau nicht verlassen, obgleich sie mir nicht vergeben will, ohne ihr eine Zeile zu schreiben, um ihren Mut aufrecht zu halten, und ohne ihr Lebewohl zu sagen«, dachte er, wie er die Feder in das Tintenfass tauchte und anfing, in seiner gewöhnlichen, schnellen, schmierenden Weise zu schreiben. Aber er konnte nicht über »meine liebe Mutter« hinauskommen. Das Schreiben dieser drei Worte schien ihn plötzlich gelähmt zu haben. Die starke Hand, die so kräftig im Kampfe um sich geschlagen hatte, zitterte jetzt bei der bloßen Berührung eines Bogen Papiers. Dennoch versuchte er in seiner Verzweiflung wenigstens etwas zu schreiben; wenn es auch nur das einzige Wort, »Lebewohl« wäre,-—-er versuchte es, bis die Tränen aus seinen Augen stürzten, wodurch jede weitere Anstrengung zunichte wurde.

Er knitterte das Papier zusammen, stand hastig auf und wischte die Tränen mit seiner Hand weg. Als er dies tat, fühlte er eine sonderbare Furcht und ein Misstrauen gegen sich selbst. Es war selten, sehr selten, dass seine Augen so feucht waren, wie jetzt. Wenige menschliche Wesen waren zwanzig Jahre alt geworden, ohne mehr Tränen vergossen zu haben, als Zack je vergossen hatte.

»Ich kann nicht an sie schreiben, so lange ich noch zu Hause bin und weiß, dass sie sich im nächsten Zimmer befindet. Ich will ihr einen Brief schicken, wenn ich aus dem Hause bin, und will sagen, dass es nur auf eine kurze Zeit ist und dass ich zurückkommen will, sobald der Zorn über diese höllische Angelegenheit sich gelegt hat.« Dies war sein Entschluss, als er das zusammengeknitterte Papier zerriss und schnell in den Gang trat.

Er nahm seinen Hut vom Tische. Seinen Hut? Nein, er erinnerte sich, dass es der Hut war, der dem Manne von dem Vergnügungsorte abgenommen worden war. In dem wichtigsten Augenblicke seines Lebens —— als sein Herz sich vor dem Gedanken an seine Mutter beugte —— als er die Heimat heimlich, vielleicht auf immer verließ —— konnte der Strom seiner Gedanken in seinem Laufe durch den geringen Einfluss einer solchen Kleinigkeit, wie diese, unbegreiflicher Weise gehemmt und abgeändert werden.

So war es bei ihm, so ist es mit uns allen. Unser Geist ist niemals vollständiger den kleinsten Interessen unseres Wesens preisgegeben, als wenn er von den mächtigsten am meisten in Anspruch genommen zu sein scheint. Und es ist oft gut für uns, dass diese scheinende Unvollkommenheit in unserer Natur vorhanden ist. Die erste Linderung eines Kummers nach der Scheidestunde oder im Trauerhause hat, für uns selbst unmerklich, mit dem ersten Augenblick angefangen, wenn wir veranlasst wurden, an eine Kleinigkeit wie z. B. die tägliche Mahlzeit zu denken.

Der Regen, welcher mit dem Tauwetter kam, wurde immer heftiger; im Hause herrschte eine Totenstille und draußen eine neblige Öde, als Zack die Straßentür öffnete und, ohne einen Augenblick zu zögern, sich verzweifelt über Kot und Nässe rasch hinausstürzte um sich vogelfrei in die voll gedrängte Welt Londons als ein Flüchtling vor seiner eigenen Heimat zu verlieren.

Sein erster Gedanke, der sonderbaren Richtung gehorchend, welche ihm der Zufall gegeben hatte, war ganz damit beschäftigt, das beste Mittel zu ersinnen, wie er den Hut dem Manne zurückschicken könnte, dem er abgenommen worden war. Ein Plan hierzu wurde bald von ihm ersonnen, und dann kehrte sein Geist noch einmal von selbst zu den Gedanken zurück, welche ihn erfüllt hatten, als er vergebens an seine Mutter einen Abschiedsbrief zu schreiben versuchte. Ehe er Baregrove-Square verließ, blickte er noch einmal nach dem väterlichen Hause zurück.

Er hielt an; die Erinnerungen von vergangenen Wochen, Monaten und Jahren wirbelten alle in wenigen Augenblicken durch sein Gedächtnis. Er hielt an, blickte durch die feuchte, neblige Atmosphäre nach der Tür, welche er soeben verlassen hatte, um sie vielleicht niemals wieder zu sehen; dann eilte er davon, knöpfte seinen Rock mit zitterndem ungeduldigen Fingern über seiner Brust zu, sagte zu sich selbst: »Ich habe es getan und nichts kann es jetzt ungeschehen machen«, und wandte entschlossen Baregrove-Square den Rücken.



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel - Mr. Marksmans ländlicher Ausflug

Kirk Street, Wendover Market, ist nicht eben der Platz, den sich reiche Gentleman nach ihrer Rückkehr ins Vaterland zur Wohnung wählen, nachdem sie die Welt durchreist haben. Die ganze Gegend ist dicht bevölkert, aber in keiner Hinsicht respektabel. Die Straße stellt eine vagabundierende Lebendigkeit der verschiedensten Charaktere dar, meistens von der belästigenden Sorte, welche das größte Geräusch macht. Auf der Türschwelle eines Wachholderschnapsladens stehen die lärmenden Männer in Barchentjacken und Seehundsfellkappen.

Hier erschallt ein Gassenlied, dort leiert eine Drehorgel und dazwischen kreischen die Stimmen der Obsthändler, und dies schauderhafte Geräusch beginnt am frühesten Morgen und dauert ununterbrochen bis in die späte Nacht hinein. Dort vor dem Fleischerladen kaut der Metzger einige übrig gebliebene Bissen und zeigt dabei mit triumphierender Miene auf die schönen fetten Fleischstücke, welche um ihn herum hängen, dann schwingt er seine glänzende Stahlklinge und ruft jedem korbtragenden Frauenzimmer zu, in seinen Laden zu treten und nur bei ihm zu kaufen. Jetzt rasselt ein Eselsgeschirr daher, auf dessen Sitze ein Gemüsehändler thront und mit überlauter Stimme den Preiscourant seiner Esswaren proklamiert; dieser Mann ist eine der mächtigsten Handelsstützen seines Vaterlandes. Und unter diesem bunten Gewühl und Wirrwarr hört man sehr oft jene Schmutzausdrücke und unanständigen Worte, welche der Schriftsteller nur durch Gedankenstriche andeutet.

Bei diesen Umständen mussten stets die stärksten Männer zur nächtlichen Polizeiwache beordert werden, welche die ehrbare Bevölkerung zu beschützen und die Trunkenbolde zu bereden vermochten, sich ruhig nach ihrer Schlafkajüte zu verfügen.

Dies war der Platz, auf welchem sich Mr. Matthias Marksman seine Wohnung gewählt, nachdem er zwanzig Jahre unter den Wilden Amerikas herum gewandert war.

Nach seiner Ankunft in London beobachtete er die zivilisierte Gesellschaft, um zu sehen, wie sich das zivilisierte Leben nach seiner langen Abwesenheit gestaltet hatte; aber er fand es in den fashionablen reichen Kreisen ganz ohne Interesse und Charakter, es erschien ihm unausstehlich dumm und langweilig.

Herabsteigend zu den Armen und das Volksleben betrachtend, entdeckte er wenigstens etwas, das ihm der Beobachtung wert schien.

Der Kampf des Lebens mit allen Herrlichkeiten und Nichtswürdigkeiten in täglichem Konflikt manifestierte sich hier in voller Darstellung, —— unverhüllt durch den Schleier der Konventionalität und kaum verdeckt durch etwas Schicklichkeitsgefühl zeigten sich die niedrigsten Lebensakte in ungeschminkter Blässe. Es konnten wohl nur wenige Schaubühnen des Lebens ausgesucht werden, auf denen sich die niedrigen Erdenwirrsale freier darstellen, als in Kirk Street. Demzufolge befand sich auch Mr. Marksman aus Sympathie bewogen, bei seiner vagabundierenden Durchfahrt hier ein wenig zu rasten, denn er hatte wirklich etwas Vagabundierendes in seinem Charakter. Eintretend in das erste Haus, dessen Fenster ihn belehrten, dass ihre Zimmer zu vermieten seien, legte er endlich seinen Wanderstab nieder und nahm das Vorder- und Hinterzimmer der ersten Etage vorläufig für eine Woche in Besitz.

Niemals waren wohl solch merkwürdige Bedingungen gemacht worden, als sie Mr. Marksman mit seinem Hauswirt beim Mieten festgesetzt hatte. Jede häusliche, durch sorgfältige Bedienung erlangte Bequemlichkeit hielt er für überflüssig, und die Domestiken betrachtete er als eine sehr belästigende Spezies, welche er durchaus nicht um sich herum haben wollte. Er stipulierte daher, dass keiner Person erlaubt sein sollte, seine Zimmer zu reinigen, da er dies selbst besorgen werde; niemals solle sich eine Aufwärterin unterstehen, sein Bett zu machen oder auch nur zu überziehen oder ihm Essen zu bringen. Auch behielt er sich vor, zu jeder Zeit ausgehen und Tage und Nächte ausbleiben zu können, ohne dass weder der Hauswirt noch die Hauswirtin berechtigt sein sollten, ihn darüber zu befragen, so lange er seine Miete richtig bezahle. Dabei setzte er fest, dass er den Mietbetrag für jede Woche vorausbezahlen wolle, so lange er das Logis inne habe und versprach zugleich, die Dienerschaft gelegentlich zu belohnen, wenn sie sich feierlich verpflichte, ihn niemals durch Dienste oder auch nur durch Dienstanerbietungen stören zu wollen.

Der Hauseigentümer und Besitzer eines Tabakladens war über diese vorgeschlagenen Bedingungen zuerst ganz erstaunt, ja wahrhaft bestürzt und hegte das größte Misstrauen gegen den Mieter. Da er sich aber in misslichen Geldverhältnissen befand, so imponierte ihn schon der große goldene Ring an der Hand des Mieters, und als dieser gar eine Handvoll glänzender Sovereigns (englische Goldmünze - 6 Thlr. 20 Sgr.) hinwarf, wurden ihm alle seine Sonderbarkeiten verziehen und der Mietscontract abgeschlossen. Mr. Marksman ging nun fort, um sein Gepäck zu holen.

In kurzer Zeit kehrte er wieder zurück mit einem großen Kornsack auf dem Rücken und einer langen Rifle (gezogenes Gewehr) in der Hand. Diese beiden Gegenstände waren sein ganzes Gepäck.

Zuerst stellte er sein Gewehr hinter das Bett im Hinterzimmer, dann räumte er alle kleinen Schmucksachen weg, mit denen das andere Zimmer dekoriert war, schob die drei Stühle in eine Ecke, klappte den runden Tisch auf und postierte ihn in eine andere Ecke. Jetzt knüpfte er den Kornsack auf, nahm ihn auf die Schulter und schüttete den ganzen Inhalt mitten ins Zimmer, als wären es Steinkohlen. Unter den verschiedenen Gegenständen, welche herausfielen, befanden sich einige Kalmuckröcke, eine Pfeife, ein sorgfältig verpacktes schönes Büffelfell, zwei rote Flanellhemden, ein Tabaksbeutel, eine Indianerdecke, ein lederner Sack, ein Pulverhorn, zwei viereckige Stücken gelber Seife, eine Kugelform, eine Nachtmütze, eine Tüte voll Nägel, eine Scheuerbürste, ein Hammer, ein alter Bratrost und sogar eine indianische Streitaxt. Nach Entleerung des Sackes nahm Mister Marksman sein Büffelfell, breitete es über sein Bett aus und lachte dabei recht höhnisch über die geflickte Steppdecke und die schlechten Vorhänge. Dann legte er den leeren Sack in eine Ecke, darauf die Kalmuckröcke und hing die lederne Tasche an zwei in der Wand befindliche Haken. Hierauf nahm er seine Pfeife zur Hand, ließ alle andern Gegenstände mitten in der Stube liegen und setzte sich auf die Kalmuckröcke, mit dem Rücken sich an die hinter ihm hängende Ledertasche anlehnend. Dem eintretenden erstaunten Hauswirt versicherte er, dass er nun ganz bequem und behaglich eingerichtet sei und er ihm sehr danken würde, wenn er sogleich in den Laden eile und ihm ein Pfund Tabak von der stärksten und besten Sorte seines Vorrats herauf sende.

In dieser Art und Weise vollbrachte Mr. Marksman den Rest des Tages, kaufte seinen Mundvorrat ein, kochte seine Diners selbst und legte also bei jeder Gelegenheit die größte Missachtung gegen alle zivilisierten Gebräuche und Anstandsregeln dar, ganz so wie beim Einzug in das Logis. Nachdem er zu Mittag gespeist hatte, hielt er ein Schläfchen auf seinen Kalmuckröcken, fuhr dann plötzlich auf, brummte über die eingeschlossene Luft und das enge Zimmer, schmauchte eine große Zahl Pfeifen Tabak und blickte die übrige Zeit zum Fenster hinaus, anstrengend und scharf beobachtend, was da unten herum vorging.

Endlich vollbrachte er die größte seiner Sonderbarkeiten. Nach Verschluss des Tabakladens, was gewöhnlich beim Schluss des benachbarten Theaters geschah, wanderte er die Treppe hinab, fragte kalt, welches der nächste Weg zu einer Gegend sei, wo er frische Luft atmen und einen nächtlichen Spaziergang machen könne, um seine Beine in etwas anstrengende Tätigkeit zu versetzen und sein Haupt zu klären.

Am nächsten Morgen begann er seine beiden Zimmer mit eigener Hand zu reinigen, ganz so wie er es dem Hauswirt gesagt hatte, und dabei schien er sich über seine Beschäftigung zu freuen, natürlich in seiner etwas ernsten, grimmigen Manier. Sein Dinieren, Mittagsschläfchen, Tabakrauchen und sein vom Fenster aus beobachtendes Studium der Straßen ging dann ganz wieder so von statten wie am vorigen Tage. Aber in der Nacht suchte er seinen gestrigen Promenadenplatz nicht wieder auf, sondern durchwanderte die Straßen und kam im Verlauf seines Spazierganges an den Tempel der Harmonie. Was ihm dort passierte, ist bereits bekannt.

Nachdem er Zack verlassen hatte, wanderte er stracks weiter, immer vorwärts, unbekümmert, wohin er kommen werde, und so ging seine Wanderung bis zum Tagesanbruch. Es war bereits neun Uhr vorbei, als er sich im Tabaksladen präsentierte, seine Kleider waren sehr beschmutzt und vom Tau und Regen ganz durchnässt. Der lange Spaziergang schien die Verdrießlichkeit und Unzufriedenheit seines Gemüts, welche seine plötzliche Trennung von Zack verursachte, nicht besänftigt und beruhigt zu haben. Er redete beständig mit sich selbst in murrender, unzusammenhängender Weise; seine finsteren, schwerfälligen Augenbrauen hatte er stark zusammengezogen und die Narben der alten Wunden in seinem Antlitz waren sehr gerötet, wodurch das zornige Aussehen noch mehr erhöht ward. Die erste Unterredung mit seinem Hauswirt bezog sich auf eine Eisenbahnreise, indem er sich nach einem bestimmten Bahnhofe erkundigte. Da er aber nicht leicht zu belehren war und die Gegend des beschriebenen Bahnhofs nicht zu finden getraute, so ließ der Tabakhändler eine Droschke holen, um ihn zur Eisenbahn zu bringen. Hiermit erklärte er sich einverstanden, aber bevor das Fuhrwerk erschien, wanderte er die ganze Zeit in mürrischer Stimmung auf dem Pflaster vor dem Laden auf und ab.

Als die Droschke erschien, bestand er hartnäckig darauf, sich oben aufs Verdeck zu setzen, weil er hier mehr frische Luft einatmen und die Beine bequem in den Wagen legen könne.

In dieser sonderbaren, verkehrten Position langte er am Bahnhofe an und nahm ein Billett nach Dibbledean, einem kleinen Marktflecken in einer der mittleren Grafschaften.

Als er am Ende der Station angelangt war, blickte er anfangs etwas verwirrt umher; bald aber begann er eine in der Nähe liegende Straße, welche nach dem genannten Flecken führte, zu rekognoszieren; zu ihr richtete er jetzt eilig seine Schritte, alle Anerbietungen der bequemen Omnibusfahrt verschmähend.

Der Tau war hier viel stärker gefallen, als in London, und da eben kein Markttag in Dibbledean war, so erblickte man auf der ganzen großen Straße nur drei Personen, eine Frau in Holzschuhen, ein Kind unter einem großen Regenschirm und einen Mann mit einem Korb auf dem Rücken, alle drei wanderten in den Hofraum des vornehmsten Gasthauses.

Je näher Mr. Marksman dem Landstädtchen kam, desto langsamer wurden seine Schritte, bis er endlich am Ende der Straße vor einer alten Kirche stehen blieb, welche zur Vorstadt von Dibbledean gehörte. Hier wartete er einige Zeit, blickte über die niedrige Mauer, welche den Gottesacker umfasste, und näherte sich dann einer Tür, durch die man auf einen Fußpfad zwischen die Gräber und Leichensteine gelangte. Plötzlich blieb er wieder stehen —— augenscheinlich seine Absicht wechselnd —— drehte sich dann schnell um und wanderte auf der großen Landstraße weiter. Er ruhte nicht eher, bis er vor ein langes niedriges Giebelhaus gelangte; unstreitig eines der ältesten im Dorfe, das, obgleich es bemalt und weiß angestrichen war, doch sehr alt und unmalerisch aussah. Das auf der Erde liegende Stockwerk war in zwei Laden abgeteilt, doch so, dass man ersah, beide gehören jetzt und haben einstmals zu einer und derselben Familie gehört. An dem breiten Laden stand in großen, schönen Buchstaben:

»Bradford and Son (vormals Josua Grice), Leinwandhändler, Strumpfhändler 2C.«

Die Firma über dem schmalen Laden lautete:

»Mrs. Bradford (vormals Johanna Grice), Putzhändlerin und Kleidermacherin.«

Unbekümmert um den Regen, trotzdem dass Hut und Rock triefte, stand Mr. Marksman regungslos vor dem Hause, die Inschriften lesend und immer wieder lesend. Obgleich der ganze Mann vom Kopf bis zu der Zehe die personifizierte Festigkeit zu sein schien, so zitterte und schwankte er dennoch jetzt fast ganz unnatürlich. Er wusste nun, dass er eine Entdeckung zu machen hatte, dass er eine Untersuchung veranstalten musste, konnte sich aber noch nicht bestimmt entschließen, ob in dem vor ihm stehenden Hause oder auf jenem Kirchhof, den er vorhin verlassen hatte. Nach langem Besinnen entschied er sich für den Kirchhof und wendete rasch seine Schritte dahin zurück.

Er trat eilig durch jene Pforte ein, vor der er vorhin zögernd gestanden hatte, und verfolgte den zwischen den Leichensteinen hindurchführenden Pfad eine Weile. Dann betrat er den Rasen, blieb sinnend stehen, wanderte wieder zwischen den Grabhügeln weiter und kam endlich vor einen horizontal liegenden, kaum einen Fuß hohen Leichenstein. Er bog sich hinab und las die darauf befindlichen Schriftzeichen.

Es waren vier verschiedene Inschriften der einfachsten kürzesten Art, weiter nichts enthaltend als Datum und Jahreszahl der Geburt und des Todes der darunter liegenden Personen. Die ersten beiden Inschriften notifizierten den Tod zweier Kinder: »Josua Grice, Sohn von Josua und Johanna Grice, vier Jahr alt« »Susanna Grice, Tochter der obigen, 13 Jahr alt;« die beiden letzten zeigten den Tod des Vaters und der Mutter an, in einem Alter von 62 Jahren. Unter diesen Inschriften folgte ein Spruch aus dem Neuen Testament:

»Kommt her zu mir Alle, die ihr mühselig und schwer beladen seid, ich will euch die ewige Ruhe geben.«

Auf den letzten Zeilen, welche den Tod von Josua Grice, dem Vater, anzeigten, verweilte das Auge des einsamen Wandrers am längsten; hin starrend auf dessen Todesanzeige murmelten seine Lippen mehrmals: —— »Er lebte am Ende als ein alter Mann!«

Unter den erwähnten Zeilen war noch hinreichend Platz für zwei oder drei Inschriften und es schien, als ob Mr. Marksman noch mehr zu lesen erwartet habe. Er blickte aufmerksam und scharf auf den leeren Raum, maß ihn mit den Fingern und verglich ihn mit der von den Inschriften besetzten Stelle. »Nicht da«, sagte er zu sich selbst, »nicht hier!« und verließ den Gottesacker, um wieder in die Stadt zu gehen.

Diesmal ging er ohne Zaudern in das Haus mit dem Doppelladen und zwar in die Abteilung des Strumpfhändlers. Hier war niemand weiter als ein junger Mann, welcher den Ladentisch bediente.

Dieser junge Ladendiener war höchst erfreut, endlich einmal eine fremde Person eintreten zu sehen, um wenigstens mit ihr über das schlechte Regenwetter sprechen zu können, denn er war den ganzen Morgen hindurch allein gewesen.

»Womit kann ich dem Herrn dienen?«

Dieser kam aber nicht um zu kaufen, sondern wünschte nur zu wissen, ob Johanna Grice, welche ehemals den Putzmacherladen besaß, noch am Leben sei?

»Oh ja! ——« Der junge Mann konnte ihm dies und noch mehr sagen, denn er war sehr vergnügt, nach so langer Einsamkeit wieder einmal die Zunge regen zu können.

»Miss Grice (der Mann sprach höflicher von ihr als der Fremde) — Miss Grice, deren Bruder das Geschäft vormals hatte, welches jetzt Bradford und Sohn besitzen, lebt noch; sie lebt noch ganz allein für sich in der Stadt; sie ist eine sehr kuriose alte Person, welche niemals ausgeht und auch keinen Besuch empfängt: Fast alle ihre alten Freunde sind tot und mit den noch lebenden hat sie den Umgang abgebrochen. Sie ist voller Ärger und Zorn, ja man glaubt sogar, sie sei verrückt und unter den Knaben von Dibbledean wird sie als eine »alte Tigerkatze« verabscheut.«

Auch der Ladendiener sprach seine Vermutung dahin aus, dass ihr Verstand durch einen großen Familienskandal vor vielen Jahren wohl etwas gelitten haben möge, durch einen Familienskandal, der sie ganz niedergeschmettert habe, denn sie sei sehr religiös. »Es war ein Skandal«, fuhr der junge Mann fort, »welcher die größte Aufregung verursachte und ringsherum ——«

Hier wurde er von dem Fremden in einer unhöflichen, groben Manier unterbrochen, dieser schien von dem Skandal nichts wissen zu wollen und eine andere Frage auf dem Herzen zu haben, der er aber nicht recht Worte zu leihen vermochte. Zwei oder drei Mal begann er in verschiedenen Wortformen, stockte aber wieder und schwieg. Endlich fragte er so im allgemeinen, ob noch andre Familienglieder der alten Miss Grice am Leben seien.

Für einen Augenblick stockte und schwieg der junge Mann, denn er wusste nicht, welche Familienglieder der Gentleman meine; dann sagte er: »Der alte Mr. Grice starb vor einigen Jahren, zwei Kinder starben jung; ihre Namen liest man auf dem Gottesacker. Meint der Herr vielleicht? —— ah, gewiss! —— ganz sicher —— Sie meinen wohl die zweite Tochter? —— Wie das Volk sagt, wuchs diese auf und blühte in großer Schönheit. Von ihr geht die Sage, dass sie hauptsächlich die Ursache jenes abscheulichen Familienskandals sei. Sie lief in die Welt und starb im Elend, niemand weiß, wo und wie, —— und man glaubt, dass sie irgendwo gleich einer Almosenempfängerin begraben liege, —— niemand kennt den Ort, ausgenommen etwa Miss Grice, alles dies ereignete sich vor vielen Jahren, und gewiss ——«

Der junge Mann stockte hier und blickte sehr verlegen, denn des Gentlemans Antlitz hatte sich plötzlich sehr verändert. Seine dunkelbraunen Wangen waren kalt und fahl geworden und die darauf befindlichen Narben glühten zornig rot wie Feuer. Er lehnte sich einen Augenblick an den Ladentisch und seine Hände zitterten. Wird er krank? O nein, denn dieses Mannes Herz ist stark, sein Wille fest und sein Körper hat schon manche Stöße erlitten und sich abgehärtet, daher erholt er sich auch viel schneller als andere Menschen. Er schwankte ein wenig, ging dann vom Ladentisch zur Tür, drehte sich noch einmal um und fragte, wo Johanna Grice wohne. Der junge Mann erwiderte: »Bei der zweiten Wendung nach rechts gelangt man in eine Straße, welche in eine kleine Gasse mit niedrigen Häusern endet. Miss Grices Haus ist das letzte linker Hand; aber ich kann dem Herrn versichern, dass der Gang erfolglos bleiben wird, denn sie lässt keine Person in ihre Wohnung.« Der Gentleman dankte und schlug dennoch die beschriebene Richtung ein.

»Dachte ich doch nicht, dass es mich so angreifen würde«, sagte er für sich, indem er eilig durch die Straßen schritt; »hat es mich noch nie so berührt, wo ich auch sein und es hören musste. Aber ich bin nicht mehr der Mann, der ich war, seitdem ich hier weile. Meine zwanzigjährige Abhärtung scheint ganz und gar verschwunden und hier nicht wirksam zu sein.«

Nachdem er die ihm bezeichnete Straßenrichtung genau befolgt hatte, gelangte er in dem Gässchen linker Hand vor dem kleinen Häuschen an und untersuchte zuerst die Gartentür. Er fand sie verschlossen und keine Schelle zum klingeln. Da aber die Gartenumhegung nicht hoch und Mr. Marksman nicht skrupulös war, so setzte er über und ging nach der Haustür zu. Sie öffnete sich gleich allen andern Türen durch bloßes Niederdrücken des Griffes am Schloss. Er ging ohne Zaudern hinein und trat ins erste Zimmer, in das ihn die Passage führte. Es war ein kleines Besuchsstübchen, an dessen hinterm Fenster, welches nach dem Garten führt, Miss Grice saß und in einem dicken Buche gleich einer Bibel mit Lesen vertieft war. Dieses alte, dürre und zwerghafte Frauenzimmer starrte von ihrem Buche empor, als sie Schritte hörte, dann sprang sie wütend auf, ihre grauen Augen drehten sich furienhaft im Kopfe, sie erhob ihre knöchernen Hände und drohte dem Eindringlinge damit. Dieser ließ sie ruhig zu sich herankommen, sprach dann sehr vernehmlich und ganz besonders betonend einen Namen zweimal aus.

Plötzlich erstarrt sie, wird leichenblass, der Mund bleibt geöffnet stehen und die Arme hängen starr am Körper herab. Es war, als ob dieser Name oder die Stimme, welche ihn gesprochen, ihr ganzes bisschen Leben in einem Augenblick zu Tode erstarrt habe. Dann wankte sie langsam zurück, suchte mit der Hand wie im Dunkeln und lehnte sich an die Wand des Zimmers. Sprachlos und zitternd an allen Gliedern starrte sie den ihr gegenüberstehenden Mann stier und erschrocken an.

Dieser nahm ungebeten Platz und fragte, ob sie ihn nicht mehr kenne. Sie gab weder eine Antwort noch irgendein als Antwort dienendes Zeichen. Nach einer ziemlich langen Pause wiederholte er diese Frage. Sie nickte mit dem Kopfe, —— starrte ihn aber fortwährend zitternd und sprachlos an.

Er erzählte ihr nun, was er im Laden gehört hatte, und fragte sie, ob es wahr sei, dass die Tochter des alten Mr. Grice, welche die Ursache eines großen Familienskandals gewesen, schon seit Jahren verschwunden und in der Fremde elend und arm gestorben sei.

Ihre Augen blitzten ihn feurig wild an —— schraken aber vor den seinigen zurück. Dann kauerte sie sich in die Ecke und sagte mit schwacher zitternder Stimme, dass sie nicht von dem sprechen werde und sprechen könne, was er als Familienskandal bezeichnet habe.

Er antwortete, dass er nichts über den Skandal zu wissen wünsche, dass er vor vielen Jahren einen Brief empfangen habe, welcher ihm das Ereignis mitteilte, —— einen Brief, den er seit der Zeit stets bewahrt und den er nie verlieren, nie vergessen werde. Was er zu wissen wünsche, ist, ob es wahr sei, dass Marie (er nannte jetzt ihren Namen) im Grabe liege, dass sie tot sei?

Als er diese Worte sprach, lag etwas in seinen Blicken, das die Alte gleichsam gegen ihren Willen zum Antworten zu zwingen schien. Sie stammelte »Ja« und zitterte dabei noch mehr als vorhin.

Er ballte seine Hände zusammen, doch sank das Haupt schwach und matt hernieder und dunkle Schatten schienen über seine niedergebogene Stirn zu ziehen. Die Narben der alten Wunden vertieften und entfärbten sich, sie wurden blau. Er begann zu sprechen, —— stockte plötzlich —— und blieb dann einige Minuten sprachlos.

Aber sein tiefes Schweigen und seine tiefe Betrübnis schienen Johanna Grice rasch mit Zuversicht und Courage zu erfüllen. Sie bewegte sich ein wenig von der Wand und ein Strahl triumphierender Schadenfreude zog über ihr Gesicht, als sie ihr »Ja« noch einmal wiederholte. »Ja! Die Elende, welche den guten Namen der Familie ruinierte, ist tot —— tot, und in weiter Ferne begraben, in ihrem eigenen Grabe —— sie liegt nicht in demselben Grabe, wo ihre ehrbare Verwandtschaft ruht —— nicht dort auf dem Gottesacker, wo ihr Vater und ihre Mutter —— oh, nein, nein! —— Gott sei Dank, —— nicht dort!«

Bei diesen letzten Worten blickte er sogleich zu ihr auf. Dabei lag so etwas gebietender Einfluss in seinen Augen, der sie sogleich wieder in die Ecke scheuchte, wo sie vorhin kauerte. Jetzt fragte er im strengsten Ernst, wo Marie begraben liege. Sie antwortete langsam und träge, jedes Wort musste ihr gleichsam abgezwungen werden, —— sie sei unter Fremden beerdigt, wie sie’s verdiene, —— an einem Orte, genannt Bangbury —— weit weg in der nächsten Grafschaft, wo sie gestorben sei und wo man Geld zu ihrer Beerdigung hingeschickt habe.

Sein Benehmen wurde jetzt weniger rau und befehlend, seine Augen sanfter und seine Stimme sprach nur im Tone schmerzlicher Wehmut und tiefer Traurigkeit. Und als er jetzt wieder eine Frage an Johanna Grice richtete, wurde auch diese im inneren betroffen und ihr Herz schien davon sehr heftig erregt zu werden.

Die Muskeln ihres hässlichen Gesichts zuckten, der Atem ihrer Brust kam stoßweise heraus und ihre ganze Physiognomie wurde noch wilder, als er fragte, ob es nur Verleumdung oder Wahrheit sei, dass Marie mit einem Kind die Heimat verlassen habe.

Als er keine Antwort bekam, wiederholte er seine Frage: »War es Verleumdung oder Wahrheit?« Er bat jetzt dringend um Aufklärung. Sie erwiderte keuchend und wispernd nur das eine Wort »—— Wahrheit. ——«

»Wurde das Kind lebend geboren?«

Nach dieser Frage rang sich ihr Atem in noch schnelleren Stößen aus der Brust, ihre fleischlosen gelben Wangen färbten sich dunkelrot und die Antwort erfolgte in derselben harschen wispernden Art wie vorhin —— »Ja! lebend geboren.«

»Was wurde aus dem Kinde? ——«

»Ich sah es niemals —— fragte niemals nach ihm —— und habe es nie gekannt.« Während sie diese Worte sprach, verwandelte sich ihr Wispern und Zischeln zu einem lauten, bestimmten aber sehr rauhen Tone. Der Fragende murmelte etwas für sich, —— in unverständlichen, nur halbartikulierten Worten fluchte er den mitleidslosen, unbarmherzigen Menschen, welche niemals vergeben können, dann versank er in düsteres Schweigen. Während dieser Pause färbten sich die Wangen der Johanna Grice noch dunkelroter und das Atmen ihrer Brust verwandelte sich in schnelle stoßweise Seufzer. Als er aber noch einmal mit ihr sprechen wollte, da brach ihre unterdrückte Wut in wilde Raserei aus. Indem er sein Haupt erhob und die Lippen öffnete, sprang sie voller Wut an den Tisch, wo er sie vorhin lesend fand, spreizte die Arme auf, legte dann ihre knöchernen Hände auf die offene Bibel und schwor bei dem Worte der Wahrheit in diesem Buche, dass sie ihm niemals mehr antworten werde.

Er erhob sich jetzt ruhig, näherte sich ihr mit verächtlichem Blick und begann zu sprechen, wurde aber von ihr überschrien, indem sie sich wie eine rasende Furie gebärdete. »Nein! Nein! Nein!« rief sie, »nicht ein Wort mehr! Wie kann Er es wagen, mit seinem schamlosen Gesicht und drohender Miene hierher zu kommen und mich zum Sprechen zu zwingen, zum Sprechen über etwas, das nie über meine Lippen kommen sollte, nie! oder nur vor dem Gerichtshof. Wie kann Er etwas wagen, zwischen mich und Gott zu treten und mich mit seinen weltlichen Angelegenheiten zu belästigen, während ich mich für Gott vorbereite? Verwandtschaft! Spreche Er nicht von Verwandtschaft. Meine einzige Verwandtschaft, die ich kenne, liegt gebrochenen Herzens unter dem großen Steine auf dem Gottesacker. Verwandtschaft! Wenn sie alle wieder zum Leben erwachten, was könnte Marie mit ihnen zu tun haben? Ihre einzige Verwandtschaft war nur der Tod. Ja, tot ist Vater, Mutter, Bruder und Schwester für sie! Der Tod nahm sie weg in Gottes guter Zeit. Wie! will Er noch länger hier stehen? mir zum Ärger hier stehen? hier stehen, nachdem ich geschworen habe, Ihm kein Wort mehr zu antworten? ——«

»Ja, mag sie rasen, so viel es ihr beliebt, ich bin fest entschlossen zu bleiben und noch mehr zu erfahren. —— Hinterließ Marie nichts in den bitteren Tagen der Flucht von ihrer Heimath? —— Antwort verlange ich hierüber, ich muss es wissen! Dies und noch mehr muss ich wissen —— bis ich alles weiß.« Die feste Entschlossenheit, mit der er diese Worte sprach, schien ihre furienhafte Aufregung wieder etwas zu dämpfen. Sie streckte ihre Hand schnell aus, ergriff seinen Arm und blickte ihn mit verruchter Schadenfreude ins Gesicht. »Er will alles wissen? will Er? —— dann soll es sein! aber nicht von meinen Lippen! Die ganze schwarze Nichtwürdigkeit soll er wissen —- vom Anfang bis zum Ende. Sein Herz soll brechen und Er vor der Zeit alt werden. Er ist geneigt, alles wissen zu wollen, was die Verdorbene, Elende hinterlassen hat, will Er? —— so folge er mir und er soll es sehen. ——«

In der Bibel der Johanna Grice lag ein Schlüssel, gleichsam als Merkzeichen dienend; diesen nahm sie jetzt zur Hand, hinkte mühsam mit Unterstützung der Hände durch ihr Schlafzimmer und über eine Treppe in das höhere Stockwerk hinauf. Mr. Marksman folgte dicht hinter ihr her und stand an ihrer Seite, als sie eine Tür öffnete und ihn mit den Worten hineinwies, dort zu nehmen, was er finde, und dann zu gehen —— ihr sei es gleich, wohin er gehe.

Hierauf hinkte sie wieder die Treppe hinab und Mr. Marksman trat ins Zimmer: Darin herrschte dumpfe Stickluft und eine Ohnmacht verursachender widerlicher Geruch. Schmutzig braune Spinnweben hingen überall von den Wänden herab und die noch schmutzigeren Fensterscheiben ließen nur ein schwaches getrübtes Licht hindurch scheinen. Er blickte um sich und fand nicht die geringste Ausschmückung, keine Möbel, nichts —— so dass es schien, als sei das Zimmer seit vielen, vielen Jahren nicht bewohnt gewesen. Mit gespannter Besorgnis suchte er hier und da und entdeckte endlich in einer dunklen Ecke ein kleines, mit Schmutz und Staub bedecktes Kästchen.

Er hob es auf und ging ans Fenster, eine Staubwolke fiel herab und ekelhaftes Gewürm kroch darauf herum. Als er es näher bei Licht betrachtete, entdeckte er unter Spinnweben, toten Insekten und Schmutzflecken aller Art den darauf gemalten Namen: »Marie Grice.«

Beim Erblicken dieses Namens versank er in nachdenkliches Schweigen. Als er aber in demselben Moment unten eine Tür zuschließen hörte, nahm er hastig das Kästchen zur Hand und verließ das Zimmer. Das Kästchen war mit einem Strick zugebunden und unter demselben fand er ein Blatt Papier auf den Deckel genagelt. Er betrachtete es näher bei Lichte und entdeckte darauf geschriebene Zeilen. Aber das Papier war grau, die Tinte blass und die Schriftzeichen schwer zu entziffern. Doch gelang es ihm, nach längerer Besichtigung folgende Aufschrift zu lesen: »Rechtfertigung meines Benehmens gegen meine Nichte; nach meinem Tode zu lesen. Johanna Grice. ——«

Als er herunter in die Nähe ihres Wohnzimmers kam, hörte er sie lesen. Er blieb stehen und horchte, die Worte schienen ihm nicht fremd, nicht unbekannt zu sein. Er horchte länger und eine Erinnerung an seine Knabenzeit sagte ihm, dass es die Bibel sei, in der Johanna Grice eben laut las.

Sein Gesicht verfinsterte sich, er eilte schnell in den Garten; bevor er sich aber dessen Umzäunung näherte, ging er noch einmal zum Wohnhaus zurück und blickte durch die Fenster ins Zimmer. Er sah die Alte vor dem Tische sitzen, mit dem Rücken den Fenstern zugekehrt, die Ellenbogen hatte sie auf die Tafel gelegt, während sie mit den Händen in ihren verwirrten grauen Haaren wühlte. Ihre Stimme war noch hörbar, aber die Worte waren nicht mehr zu verstehen. Er weilte noch einige Augenblicke vor dem Fenster, dann verließ er es plötzlich mit den Worten: »Ich wundere mich, dass dieses Buch ihren Tod noch nicht verursacht hat.« Dies waren seine einzigen Abschiedsworte. Mit diesem Gedanken im Herzen eilte er von Johanna Grice und ihrer Wohnung weg.

Welchen Weg wird er nehmen? Zurück in die Stadt oder weiter ins Land hinein? Es treibt ihn weiter in die Ferne! Der Kummer über sein Verwaistsein, der Schmerz —— ohne ein mitfühlendes Menschenherz leben zu müssen, hat ihn wieder überwältigt und zur Melancholie gestimmt.

Er wandert mit seinem Kästchen trotz des Regens weiter und blickt sich dann nach einem Obdach um, wo er es öffnen kann. —— Nachdem er eine Meile weit gegangen war, erblickte er nicht weit vom Wege einen alten zerfallenen Viehschuppen, der aber noch etwas Schutz gegen den Regen zu gewähren vermochte, und nahm darunter Platz.

In einem trockenen Winkel fand er Gelegenheit, seine Absicht zu vollführen. Er ließ sich nieder, knüpfte den Strick ab, zauderte aber noch, das Kästchen zu öffnen. Er riss daher den aufgenagelten Brief von der Außenseite ab.

Dieser war ziemlich lang, eng und sehr unleserlich geschrieben. Seine Augen schweiften ungeduldig darüber hin, bis er auf der Mitte der Seite einige deutlicher geschriebene Zeilen fand. Vor Jahren, in seiner Knabenzeit las er jede Handschrift, aber gegenwärtig fand er es schwierig die vor ihm liegende zu entziffern. Doch vermochte er die deutlicher geschriebenen Worte zu buchstabieren und fand folgenden Sinn. ——

»Ich habe nur noch hinzuzufügen, bevor ich zu dem grauenhaften Bekenntnis unserer Familienschande übergehe, dass ich nachher niemals wieder etwas sah und hörte von dem Manne, der meine Nichte zu jener Todsünde verführte, welche ihr Ruin in dieser Welt war und auch im Jenseits sein wird.«

Nach diesen Worten machte er keine Anstrengung, weiter zu lesen. Sie waren hinreichend, ihn mit höchst unwillkommenen Erinnerungen und beunruhigenden Gedanken zu erfüllen, von denen er sich aber entschlossen zu befreien suchte. Er zerknitterte den Brief und steckte ihn in die Tasche; er war wieder Herr seiner Stimmung geworden und wendete sich jetzt noch einmal zum Kästchen.

Es war mit Bändern versiegelt aber nicht verschlossen.

Als er den Deckel aufbrach, fand er einige abgetragene Gegenstände weiblicher Kleidung darin, eine Arbeitsschachtel, ein Halsband, Nähnadeln nebst Zwirn, ein Paket Briefe und viele zerstreut herumliegende Briefe, ein glänzend gebundenes Album, eine Quantität trockener Blumen und Blätter, ein Stück grobes Tuch mit darauf gestickten Pantoffelmustern, ein schwarzes Leibchen mit noch unbeendigter Stickerei am Kragen und noch verschiedene andere Gegenstände. Beim ersten Blick war es ihm klar, dass alle diese Dinge irgendeinmal in den Kasten geworfen und darin liegen geblieben waren. Einige Augenblicke weilte sein Auge auf dieser seltsamen traurigen Konfusion, dann wendete er sein Haupt und flüsterte mit gebrochener, seufzender Stimme: »Marie! —— Marie. ——« Nach einiger Zeit blickte er wieder in den Kasten, nahm rein mechanisch die zerstreut liegenden Briefe heraus, betrachtete teilnahmslos die gebrochenen Siegel und Adressen und legte sie ebenso mechanisch wieder in den Kasten zurück, ohne sie zu entfalten. Nur ein einziger schien seine Aufmerksamkeit zu erregen, er nahm ihn heraus und entfaltete das Couvert.

Beim Auseinanderlegen des Umschlags fand er eine Haarlocke, welche er aber im Moment sogleich wieder zusammenpackte, als könne er sie nicht sehen. Den Brief betrachtete er aufmerksamer, es war eine Frauenhandschrift und an Miss Marie Grice, Dibbledean adressiert und aus London, Bond-Street, datiert. Die Poststempel zeigten, dass er schon vor vielen Jahren geschrieben war. Er setzte sich nieder und las das nicht sehr lange Schreiben:

Meine teuerste Marie!

Ich habe Ihnen soeben Ihr schönes Haarbracelet, vom Juwelier gut verpackt und versiegelt, durch die Post gesandt und es direkt an Sie adressiert, weil Sie mir sagten, Ihr Vater betrachte es als einen Ehrenpunkt, Ihre Briefe und Pakete nicht zu erbrechen, und verbiete dies auch Ihrer hässlichen Muhme Johanna. Ich hoffe, Sie werden diese Zeilen und das kleine Paket zu gleicher Zeit empfangen.

Jetzt will ich Ihre ausgesprochene Ansicht beantworten, dass die neue Facon Ihres Bracelets viel schöner sei, seitdem die neuen Haare mit den alten darin vereinigt sind. Sie werden beim Anblick desselben freudig errötend in Ihr Zimmer laufen, um es ungesehen betrachten zu können. Vielleicht werden Sie aber auch überrascht sein, noch eine kleine Goldeinfassung hinzugefügt zu finden; aber dies war eine sehr große Notwendigkeit, wie mir der Juwelier versicherte. Das Haar Ihrer armen Schwester war das einzige Material Ihres Bracelets und sehr verschieden von den Haaren Ihres Geliebten, die Sie mir später zur Einfassung übersandten. Diese waren kaum halb so lang als Susannas Haare, mit denen sie doch von End zu End eingeflochten werden sollten; demzufolge hat sie der Juwelier durch Hinzufügung einer goldenen Klammer befestigt, wie Sie sehen werden. Aber dennoch sind sie recht hübsch rund und mit den alten Haaren verbunden. Kein Juwelier Ihrer Gegend konnte es auch nur halb so schön verfertigen, daher taten Sie wohl, es nach London zu senden. Ich darf mir wohl ein Urteil hierüber zutrauen und sage Ihnen ganz gewiss, dass ich noch kein schöneres Bracelet gesehen habe, als das Ihrige.

Sehen Sie ihn noch so oft wie früher? Er muss Ihnen mit inniger Liebe und Treue ergeben sein, wenn Sie ihm zeigen, wie sehr Sie ihn lieben, indem Sie seine Haare mit denen Ihrer armen Schwester Susanna vereinigen ließen; auch waren Sie ihm stets sehr ergeben und in Liebe zugetan. Ich sage, er muss; und Sie können mit Sicherheit sagen, er wird. —— Ich bin also ganz bereit zu glauben, meine Liebe, dass Sie sich nicht täuschen.

Ich würde gern mehr schreiben, aber es fehlt mir an Zeit. Es ist eben jetzt die große Londoner Saison und wir müssen für unsern Lebensunterhalt arbeiten. Ich beneide euch Putzmacherinnen in den Landstädten und wünsche mich beinah wieder nach Dibbledean zurück, um von morgens bis in die Nacht hinein von Miss Johanna tyrannisiert zu werden. Ich weiß, meine Teure, sie ist Ihre Tante; aber ich kann mir nicht helfen und muss gestehen, dass ich sie sehr hasse.

Ewig Ihre zärtliche Freundin

Johanna Holdsworth.

P. S. Der Juwelier sandte diese Haare wieder zurück, weil er deren nicht bedurfte, und ich schicke Ihnen dieselben hierbei pflichtschuldig wieder zu, da Sie deren rechtmäßige Eigentümerin sind.

Die Narben Mr. Marksman’s Antlitz begannen beim Durchlesen dieses Briefes feuerrot zu brennen; sie zeigten stets sicherer als jeder andere Körperteil seine heftigen Gemütsbewegungen an. Er zerknitterte schnell Brief und Couvert in seiner Hand zusammen und wollte beides voll Zorn in den Kasten werfen, —— aber ein Blick auf die darin liegenden halb abgetragenen Kleider und unvollendeten Arbeiten schien seinen Arm zu lähmen; er nahm Brief und Couvert, glättete beide sehr sorgfältig, faltete sie wieder zusammen und legte sie dann sanft zu den andern Briefen; dann griff er in die Tasche, holte den ersten Brief heraus und legte ihn ebenso zu den übrigen, hierauf verschloss er den Kasten wieder.

»Ich kann nichts mehr berühren von diesen Gegenständen«, sagte er zu sich selbst. »Ich kann sie nicht sehen, ohne dass ich ——« er stockte, nahm den Strick und band ihn sehr fest um den Kasten, gleichsam, als wäre diese physische Anstrengung eine Erleichterung für ihn in seiner Gemütserregung. »Ich werde ihn in ein paar Tagen wieder öffnen, wenn ich weit weg von diesem Orte bin ——« er schürzte hierbei den letzten Knoten so fest als möglich, —— »wenn ich von diesem alten Orte entfernt bin und meine Geistesstärke wieder erlangt habe.«

Er verließ den Schuppen, gewann die Straße wieder, blickte aber unentschlossen vorwärts, rückwärts und nach allen Seiten hin. Wo soll er jetzt seine Schritte hinwenden? Ein Gedanke durchkreist seinen Geist, den Ort aufzusuchen, wo Marie gestorben und begraben liegt, um ihr Grab aufzufinden und zu erfahren, wie sie gestorben ist. Doch verwarf er diese Absicht wieder, indem er glaubt, dass es besser sei, zuvor erst sämtliche Briefe zu lesen und alle Gegenstände des Koffers in Augenschein zu nehmen, bevor er diese Reise antritt. Daher glaubt er nichts Angemesseneres tun zu können, als mit dem nächsten Eisenbahnzuge wieder zurück nach London zu fahren.

Im Tabakladen zu Kirk Street waren schon seit einigen Stunden die Gaslichter angezündet und der Eigentümer schmauchte bereits beim Auf- und Abgehen in der Tür seine zweite Abendpfeife, als er seinen fremden Mietsmann sich mit Etwas nähren sah, das doch wenigstens einem anständigen Reisekoffer glich. Der Tabakhändler glaubte, weil er diesen Morgen ein kleines Gespräch mit ihm vor seiner Abreise gehabt habe, diesen Abend eine längere Unterredung anknüpfen zu können. Aber nie war wohl eine Erwartung mehr getäuscht worden als jetzt. Mr. Marksman ging mit einem ganz seltsam veränderten Blick und Aussehen an seinem Hauswirt schnell vorüber, brummte: »gut’ Nacht ——« und ließ ihn in der Haustür stehen.

Der Tabakhändler trat zu seiner Frau hinter den Ladentisch und sprach die Vermutung aus, dass es dem neuen Mieter auf seiner Tour nicht nach Wunsch gegangen sein müsse, worauf sie erwiderte: »Wir wollen ihn doch behorchen.«

Mr. Marksmans Zimmer über dem Tabakladen befindet sich in einem gewöhnlich gebauten Londoner Hause, d. h. mit andern Worten, —— Haus und Zimmer sind leicht und dünn von leichtem Material gebaut. Demzufolge hört man unten alles, was oben geschieht; sein schwaches Niesen im Wohnzimmer schallt als Echo durch das ganze Haus.

Beide lauschten, und als Mr. Marksman seinen Koffer oben niederwarf, rasselten alle Tonpfeifen und Zinnbüchsen im Laden. Zunächst hörten sie, wie sich Mr. Marksman in seiner gewöhnlichen kuriosen Manier niederließ d. h, wie er sich in die Ecke auf seine Kalmuckröcke setzte.

Jetzt ward es lange Zeit still, da sagte die Frau des Tabakhändlers zu ihrem Manne, sie habe kein Zündhölzchen zum Licht anzünden streichen hören, folglich müsse der neue Mieter im Dunkeln sitzen.

Betroffen schon durch diesen Umstand, aber mehr noch betroffen durch die anhaltende Ruhe, welche nun bei dem sonst so lebhaften Mr. Marksman stattfindet, lauschen sie noch aufmerksamer, hören aber weiter nichts als den tiefen dumpfen Klang seiner Stimme als ein Zeichen, dass er noch am Leben ist und mit sich selbst redet. Der Laden wird endlich verschlossen, ohne dass er das Zimmer verlässt und seine nächtliche Herumstreicherei unternimmt; es war dies das erste Mal, so lange er da wohnte. Der Tabakhändler wanderte die Treppen hinauf zum Erker, um sich schlafen zu legen; seine Frau folgte ihm mit ehelichem Gehorsam. Als sie aber in die erste Etage kam, kniete sie vor Mr. Marksmans Tür leise nieder, hielt den Atem an sich und blickte durchs Schlüsselloch.

Bei der Ankunft im Schlafzimmer jedoch konnte sie ihrem Manne nicht viel berichten. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, dass kein Licht weiter in des Mieters Zimmer ist, als das, was von den Gaslichtern der Straße hineinscheint.

Auch hatte sie genau bemerkt, dass er in seiner gewöhnlichen Ecke am Fenster liege, die Hände auf dem Koffer und das Haupt auf der Brust liegend. Sie glaubt, dass er in einen unruhigen Schlaf gefallen und seine Gemütsunruhe von einem Frauenzimmer verursacht sei. Denn sie habe mehrere wehklagende Seufzer in seinem Schlafe gehört; ebenso kann sie fest versichern, dass sie den Namen »Marie« zwei- oder dreimal habe sehr schmerzlich rufen hören, als sie vor dem Schlüsselloch kniete. ——



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel - Losgebunden von der Welt

Es war ein Viertel auf zwei Uhr, als Zack mit eiligen Schritten die Nachbarschaft von Baregrove-Square verließ und mit vagabundierender Unabhängigkeit fortschlenderte, frank und frei von der Welt. Er hatte ein seidenes Taschentuch und sechs Silbergroschen sechs Pfennige in der Tasche, —— aber sein bedeutendster Aktivbestand war eine sehr schöne goldene Uhr nebst goldener Kette, sein ganzes Gepäck bestand in einem Schwarzdornstock und sein Anker der Hoffnung war der Pfandverleiher.

Seine erste Handlung, jetzt, nachdem er sein eigener Herr geworden war, zeigte aber dennoch, dass ihn noch ein festes Band an seine Heimat knüpfte und einen mächtigen Einfluss auf ihn ausübte. Er wendete sich direkt zum nächsten Papierhändlerladen und schrieb dort einen Brief an seine Mutter, den er vergebens bemüht gewesen war, in der Bibliothek von Baregrove-Square aufzusetzen.

Er bat sie um Verzeihung, bat sie, nicht ängstlich über ihn zu sein, und erklärte feierlich, dass er nur deshalb weggegangen sei, weil Mr. Yollop mit samt seinem Vater ihn toll gemacht und zu irgendeiner ungerechten Handlung getrieben haben würden, wenn er geblieben wäre. Zugleich beteuerte er, dass er seinen Charakter gebessert habe, und versprach, in seinem nächsten Briefe über seine Pläne für die Zukunft zu schreiben, sobald sich diese gestaltet hätten. Es war einer der unzusammenhängendsten, tölpelhaftesten Briefe, die jemals geschrieben wurden. So fehlerhaft er auch war, Zack fühlte sich dennoch nach dessen Vollendung sehr beruhigt und erleichtert; und noch angenehmer ward die Beruhigung, als er ihn mit dem andern Briefe an Mr. Valentin Blyth in den Briefkasten geworfen hatte.

Die nächste Pflicht, welche ihn in Anspruch nahm, war die große Pflicht der zivilisierten Menschheit —— seine leere Börse zu füllen.

Die meisten jungen Gentlemen seiner Lebensstellung würden den Gang am hellen Tage ins Pfandhaus als sehr kompromittierend betrachtet haben. Aber Zack war eben nicht mit sehr feinem Zartgefühl geboren. Er marschierte in das erste beste Pfandhaus mit einem gewissen Ansehen von Geschäftstätigkeit und eilte mit freudiger Genugtuung wieder heraus, als habe er soeben einen schönen Gehalt bezogen oder ein Depositum in die Hände seines Bankiers gelegt.

Einmal versehen mit einer pekuniären Hilfsquelle, fühlte sich Zack in seiner Freiheit bewogen, als freier Brite einen schönen Tag zu verleben. Nachdem er gefrühstückt und in einer Taverne seine Kleider getrocknet hatte, ging er mit sich selbst zu Rate, was er nun zunächst tun wollte. Nach vielen Reflexionen und aufmerksamen Beobachtungen über das schlechte Wetter kam er auf den Gedanken, dass eine Spazierfahrt in einer Droschke nebst einer Bouteille Ale (Weizenbier) und einem Packen Zigarren ein angenehmes, gesundes und nobles Vergnügen wäre, das ihm gewiss gut bekommen würde. Entschlossen, durch jene Stadtviertel Londons zu fahren, die er noch nicht hinreichend kannte, gibt er dem Kutscher die Weisung, zuerst übers Wasser und dann beständig bis auf weitere Ordre ostwärts zu fahren. Diese vagabundierende Route führte ihn von Waterloo Road durch Borongh und Bermondsey nach Rotherhithe. Selten war wohl an einem regnerischen Tage jener Stadtteil der Metropolis so gründlich durchzogen worden, als eben jetzt; aber Zack befand sich dabei wohl. Er trank, schmauchte Zigarren und schwelgte luxuriös in dem Gefühle der Freiheit, tun und lassen zu können, was ihm beliebte. Seine aufgeregten Lebensgeister achteten weder Regen, Kot noch erstickenden Nebel, als er bei Rotherhithe ausstieg; daher befahl er, wieder westwärts nach Borongh zu fahren und schon hatte er abermals eine neue Vergnügungsreise ausgesonnen, als der Wagen wieder bei Borongh anlangte.

Am Markt gewahrte Zack ein Weinhaus und an einem der Fenster die Anzeige, dass um drei Uhr ein gewöhnliches britisches table d’hote für Jedermann darin stattfände. Der Kutscher musste halten, denn er hatte schon vor einigen Minuten drei Uhr schlagen hören. Da er in seinem Leben noch kein table d’hote gesehen hatte, so beschloss er, ins Weinhaus zu gehen und darin zu dinieren. Als er eintrat, hatte das Diner soeben begonnen und die Gesellschaft war allgemein sehr vergnügt. Wie gewöhnlich kam er nach einigen Minuten mit seinen Tischgenossen in Unterhaltung und wurde bald mit seinen vier nächsten Tischnachbarn —— einem Fleischermeister, einem Kaldaunenhändler und zwei Obsthändlern sehr familiär vertraut. Die ersten beiden kommerziellen Gentlemen machten sich einen Feiertag, und Zack feierte ja auch einen Festtag. Alle drei wurden gar bald sehr offenherzig durch den begeisternden Einfluss des Desserts, welches in Grogtrinken und Tabakrauchen bestand —— und das Endresultat ihres Gedankenaustausches war —— nach einem in der Weinstube fröhlich verlebten Nachmittage ins Victoriatheater zu gehen. Der Metzgermeister war trotz seiner blutgierigen Natur und todbringenden Beschäftigung seht gutmütig und fast bis zum Fehler wohltätig; er bestand darauf, die Billetts für alle drei zu bezahlen. Zack, nicht minder generös, nahm Revanche abends beim Souper und bestellte auf seine Kosten Austern. Was sich aber nach dem Souper ereignet hat, —— dessen vermag er sich nicht mehr genau zu erinnern. Nur dunkel dämmert es in ihm auf, dass er mit dem Kaldaunenhändler gegangen und in seiner Fröhlichkeit die Tenorpartie in Mynherr Van Dunk gesungen habe. Was aber dann geschehen —— ist ihm unbekannt. Am nächsten Morgen erwachte er in demselben Weinhaus, wo er gestern seinen fröhlichen Tag gefeiert hatte. Der Kellner berichtete ihm, dass der redliche Kaldaunenhändler ihn hier gelassen habe, damit er in einem anständigen Hause respektabel übernachten könne.

Dieser neue Morgen war aber der Anfang eines sehr wichtigen Tages in seinem Leben. Er fand sich bewogen, Mr. Marksman in Kirk Street und Mr. Blyth in Laburnum Road aufzusuchen. Als er seine Rechnung bezahlt hatte, stutzte er über die frühe Stunde, in der er noch keine Besuche in Wendover Market machen konnte. Auch war sein Gewissen nicht ganz leicht, wenn er nachdachte, wie er den letzten Abend verlebt hatte. Ach! und wenn er gar an jene Briefstelle dachte, wo er seiner Mutter versichert hatte, dass er sich gebessert und seinen Charakter reformiert habe! —— Da ward es ihm sehr schwer und bange ums Herz. »Ich werde mir bei Blyth ein leichtes Gewissen holen und alles tun, was er mir sagt.« Mit diesem guten Vorsatze verließ er die Weinstube und wanderte neu gestärkt nach Kirk Street; dort angekommen, klopfte er an die Tür des Tabakhändlers.

Mr. Marksman hatte ihn aber schon vom Fenster aus erblickt und rief ihm zu, heraufzukommen, sobald die Tür geöffnet sei. Als sich beide die Hände schüttelten, bemerkte Zack sogleich, dass sein neuer Freund plötzlich sehr gealtert sei. Seine ganze Physiognomie sah sehr niedergeschlagen und traurig aus, die Augen müde und hohl; kurz seine ganze Gestalt hatte sich seit ihrem letzten Begegnen wesentlich verändert.

»Aber, Mat, was ist Euch passiert?« fragte Zack. »Ihr seid auf dem Lande gewesen, nicht wahr? —— Und was habt Ihr Neues mitgebracht, alter Junge? —— Hoffentlich doch was Gutes.«

»So schlecht als es nur sein kann«, erwiderte Marksman mürrisch. »Sprecht kein Wort mehr davon. Tut Ihrs aber dennoch, so scheiden wir. Sprecht von irgendetwas anderem, —— von was Euch beliebt, nur nicht hiervon!«

Zack befolgte das Verbot seines Freundes, nicht mehr von dessen ländlicher Affaire zu reden, und begann über seine eigenen Angelegenheiten zu diskutieren. Zuerst gab er einen summarischen Überblick über das Elend zu Hause, erzählte dann jede Kleinigkeit, die ihm passiert war, seitdem er Baregrove-Square verlassen hatte, sprach über seine Annäherung mit Mr. Blyth und erging sich dann in losen Erklärungen über seine Hoffnungen für die Zukunft.

Ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen, und ohne das geringste äußere Zeichen von Erstaunen oder Sympathie kundzugeben, hörte Mr. Marksman ruhig und ernsthaft Zacks Rede an, bis er ganz geendigt hatte. Dann ging er in die Ecke, wo der runde Tisch aufgeklappt stand, stellte die Tischplatte wieder aufs Fußgestell, griff in die Brusttasche seines Rocks und holte ein zusammengerolltes Biberfell heraus, wickelte es langsam auf und breitete eine ziemlich große Anzahl Banknoten auf dem Tische aus, sagte dann zu Zack, —— indem er mit der Hand darauf zeigte »—— nehmt, was Ihr braucht«.

Es war nicht leicht, dem Zack eine Überraschung zu bereiten, aber dieser Fall versetzte ihn in ein solches Erstaunen, dass er die Banknoten einige Minuten sprachlos anstarrte.

Mr. Marksman nahm seine Pfeife von einem Nagel der Wand, stopfte den Kopf voll Tabak, zeigte dann wieder mit der Pfeifenspitze auf die Banknoten und sagte noch einmal: »Nehmt, was Ihr braucht.«

Unterdessen hatte sich Zack von seinem Erstaunen erholt und fand endlich Worte, seine Gefühle auszusprechen und Mats beispiellose Großmut zu preisen; zugleich erklärte er, eine Kleinigkeit davon nehmen zu wollen.

Mr. Marksman vollendete ganz bedächtig das Stopfen und Anzünden seiner Pfeife, ohne Zacks freudigen Worten die geringste Aufmerksamkeit zu widmen, dann unterbrach er ihn sehr rauh:

»Mögt Ihr diese Schwätzerei vor Jemand anders halten, mir ist sie Kauderwelsch. Geniert Euch nicht und nehmt, was Ihr braucht. Geld ists, dessen Ihr bedürft, obgleich Ihrs nicht wollt. —— Geld ists. —— Wenn es mir ausgegangen ist, dann gehe ich nach Kalifornien zurück und hole mir mehr. Was ist da auszusinnen? —— Als Ihr in jener Nacht das für mich tatet, sagte ich Euch, ich will Dein Bruder sein. Nun wohl an! Ich bin jetzt Euer Bruder. Geht! und holt Eure Uhr aus dem Pfandhaus und dann könnt Ihr der Welt einen Kratzfuß machen. Wollt Ihr nehmen, was Ihr braucht? —— Wenn Ihr’s getan, dann bindet den Rest zusammen und steckt ihn hierher.«

Mit diesen Worten setzte sich Mr. Marksman mürrisch auf seine Kalmuckröcke und umhüllte sich mit Wolken von Tabaksrauch.

Zack suchte vergeblich ihm begreiflich zu machen, dass in unserer zivilisierten Welt kein wahrer Gentleman von einem andern Geld geschenkt nehmen darf, ausgenommen die Geistlichen; doch aber wegen Marksmans Feindschaft besorgt und wohl wissend, dass etwas Geld eine sehr angenehme Bequemlichkeit unter bewandten Umständen gewähre, erklärte er, zwei zehn Pfundnoten als Anleihe nehmen zu wollen. Bei diesem Vorbehalt spottete Mr. Marksman recht hochmütig, aber Freund Zack blieb dabei, holte ein Blatt Papier aus seiner Brieftasche und schrieb einen Schuldschein über die geborgte Summe. Marksman verweigerte fest entschlossen die Annahme des Scheins und ward sogar grob, aber Zack wickelte ihn unter die Banknoten, diese in das Biberfell und gab das Paket dem Eigentümer zurück.

»Braucht Ihr ein Bett?« fragte Mr. Marksman. »Sagt ja oder nein! Ich will Euer Kauderwelsch nicht mehr hören. Ich bin kein Gentleman und kann nicht mit Euch gehen; es ist kein Nutzen, dies mit mir zu versuchen. Ich bin nicht viel mehr als ein Kreuz zwischen einem Wilden und einem Christen. Ach! ich bin ein alter, einsamer, geschlagener und skalpierter Vagabund —— das ists, was ich bin. Aber wir sind Brüder!! Was mein ist, gehört auch Dir. Brauchst Du ein Bett? —— Bruder, brauchst Du ein Bett zum Schlafen? —— Ja? oder Nein?«

»Ja!« erwiderte Zack, »ich brauche ein Bett, aber -«

»Dort steht eins für Dich«, sagte Mr. Marksman, indem er durch die Flügeltür ins Hinterzimmer zeigte. »Ich bedarf es nicht! Ich habe seit zwanzig Jahren nicht im Bette geschlafen und kann demzufolge jetzt auch nicht mehr in einem solchen schlafen. Meine Schlafstelle ist diese Ecke hier. Ich liebe es nicht, zu viel zu schlafen, ich habe nicht viel Schlaf nötig. Geh hin und versuch das Bett, ob es lang genug für Dich ist.«

Zack begann wieder dagegen zu demonstrieren, aber Mat unterbrach ihn sehr heftig:

»Ich glaube ganz gewiss, Du kannst nicht so an der ersten, besten Tür schlafen, wie ich, und würdest Dich nicht mit einem Stückchen meiner Flanelldecke begnügen können, wenn wir draußen einsam übernachteten! Niemals! Ich frage daher nochmals, brauchst Dus Bett? —— Nimm es oder lass es, ganz wie Du willst.«

Der leichtsinnige Zack, welcher stets bereit war, binnen fünf Minuten Freundschaft zu schließen und sogar unter freiem Himmel, —— der in voriger Nacht mit dem Fleischermeister und Kaldaunenhändler Compagnie machte —— der in den Tagen der Landstreicherei mit Kesselflickern, Wilddieben und jeder andern Spezies von Vagabunden fraternisierte —— dieser Windbeutel hatte sich geweigert. Mr. Marksmans Anerbieten anzunehmen. Jetzt aber erklärte er sich dazu bereit, sagte, dass er die ganze Nacht darin schlafen, dass er sich Mr. Marksmans Beistand und Wohlwollen würdig zu machen suchen würde. Er war eben in Begriff, hinzuzufügen, dass er sich nur deshalb geweigert habe, weil er nicht sein Teil Miete beitragen könnte, unterdrückte aber diesen Gedanken und beschloss, bei nächster Gelegenheit darauf zu bestehen, den Mietbetrag für das Bett mit zahlen zu dürfen.

Nachdem Zack angenommen hatte, war Mr. Marksman sehr erfreut und rief mit großer Erleichterung: »jetzt sind wir Brüder! —— Streck Dich auf das Büffelfell und rauch ein Pfeifchen; ich tue dasselbe. Hollah! bringt eine hübsche Pfeife herauf!! ——« rief Mr. Marksman durch die Tür in den Laden hinunter.

Als die Pfeife gebracht ward, ließ sich Zack auf das Büffelfell nieder und befragte seinen seltsamen Freund über dessen Lebensschicksale unter den Wilden Nord- und Südamerikas. Mr. Marksman wurde allmählich redseliger und teilte verschiedene Abenteuer mit. Es waren Geschichten von wilden, barbarischen Situationen, von einer düsteren Phantasie zu Nachtgemälden gestaltet; tödliche Gefahren und glänzende Siege, großes Elend durch Hunger, Durst und Kälte, dann wieder überreiche Jagdschmausereien in großartigen Wäldern, glückliches Auffinden vieler Goldklumpen an öden Felsen, galoppierende Flucht vor den Präriebränden, blutige Gefechte mit wilden Tieren und noch wildern Menschen, wochenlange schauerliche Einsamkeit in öden, unabsehbaren Wüsten, gefahrvolle Tage und Nächte bei Saufgelagen betrunkener Wilder, merkwürdige Meteore und andere großartige Himmelserscheinungen, furchtbare Orkane nebst Erdbeben, blendende Eisberge an dem Polarmeer. —— Diese und noch viele andre Szenen erzählte Mr. Marksman in sehr spannender und unterhaltender Manier. Und der junge Thorpe hörte alles mit fieberhafter Aufmerksamkeit an. Das war das wilde, gefahrvolle, umherschweifende Leben, von dem er geträumt. Dergleichen Geschichten hätte er viele Tage lang mit angehört, und er sehnte sich bereits danach, ähnliche zu erleben. Mat bemerkte dies gar bald, daher endigte er mitten in einer Erzählung über die wilden Pferde der Pampas, indem er erklärte, er sei müde, fortwährend nur seine eigene Zunge wackeln zu hören, ja er sei so angegriffen, dass er seinen Mund den ganzen Tag über nicht wieder öffnen werde, ausgenommen zu einem Rinderbraten und einer Pfeife Tabak.

Zack fand es unmöglich, den Entschluss seines Freundes zu ändern, dachte daher an seine Verbindlichkeit gegen Mr. Blyth und fragte, wie viel Uhr es sei. Mr. Marksman, der nicht im Besitz einer Uhr war, rief diese Frage durch die Dielenspalte seines Fußbodens in den Laden hinunter. Die erhaltene Antwort überzeugte Zack, dass es die höchste Zeit zum Aufbruch sei, um in der verabredeten Stunde mit Valentin zusammenzutreffen.

»Ich muss zu meinem Freunde Blyth«, sagte er sich erhebend und seinen Hut aufsetzend, »aber ich werde in ein paar Stunden wieder zurück sein. Ich frage Euch aber, Mat, habt Ihr wirklich im Ernste daran gedacht, wieder nach Amerika zu gehen?« Bei dieser Frage glänzten seine Augen sehr lebhaft und gespannt.

»Darüber habe ich noch nicht nötig zu denken«, erwiderte Mr. Marksman. »Ich denke zurückzugeben, habe aber den Tag noch nicht festgesetzt. Auch weiß ich noch nicht, wann ich ihn bestimmen kann. Vorläufig habe ich etwas zu tun bekommen.« Hierbei verfinsterte sich sein Antlitz, indem er einen Seitenblick auf den von Dibbledean mitgebrachten Koffer warf, welchen er mit einem Kalmuckrock bedeckt hatte. »Was es ist, kümmert Dich nicht; ich habe zu tun —— und das ist genug. Frag ja nicht etwa wieder, was ich Neues vom Lande mitgebracht? oder was ich zu tun habe? — Tust Du das, so sind wir zeitlebens geschiedene Freunde. Ich habe Dich gern Zack, aber —— Nun! wenn Du gehen musst, warum zauderst Du noch? —— Warum reinigst Du Dich nicht wenigstens einmal?« Lachend verabschiedete sich Zack und ging.

Es war ein schöner, heller Tag, aber der klare Himmel trug auch Zeichen wiederkehrenden Frostes an sich. Zack, beständig an Mr. Marksmans Abenteuer denkend, war in großer Extase. Was war das Leben des glücklichen Malers mit dem verglichen, was Mat durchlebt hatte!

Der junge Thorpe war kaum in Laburnum Road angelangt, als er auch schon zu zweifeln begann, ob er auch wirklich auf Mr. Blyths Rat seine Geisteskräfte den schönen Künsten widmen könne.

Mit diesen Zweifeln kam er vor Turnpike an und erblickte einen Gentleman, welcher in ein Notizbuch skizzierte. Dies konnte kein anderer als Valentin sein —— und er war es auch wirklich.

Mr. Blyth blickte ungewöhnlich ernsthaft, als er Thorpes Hand schüttelte. »Fangt nicht etwa an, Euch zu rechtfertigen, Zack«, sagte er; »ich bin jetzt nicht im Begriff, Euch zu tadeln. Lasst uns ein wenig weiter gehen, ich habe etwas Neues aus Baregrove-Square zu erzählen.«

Aus der Erzählung, welche Valentin jetzt begann, schien hervorzugehen, dass er sich sogleich nach Empfang von Zacks Briefe Mr. Thorpe genähert habe, mit der freundlichen Absicht, Friede und Versöhnung zwischen Vater und Sohne zu stiften. Seine Mission sei aber gänzlich fehlgeschlagen, Mr. Thorpe sei bei seiner Zusammenkunft mit ihm viel reizbarer und heftiger geworden, und als er ihn zur Verzeihung und Versöhnung gegen den weggelaufenen Sohn geraten und dazu zu bereden versucht, habe Mr. Thorpe ihn als zudringlichen und unberechtigten Einmischer angeklagt. Und als Mr. Yollop später im Zimmer erschien und den Gegenstand des Gesprächs vernahm, bediente er sich solcher Worte, dass Valentin genötigt war, das Haus zu verlassen. Der Hinweis auf Gnade und Barmherzigkeit war von Mr. Yollop und Mr. Thorpe, welche alles glauben, was ihre klerikalen Alliierten sagen, als laxe Prinzipien der Künstler betrachtet worden, die nicht den gehörigen Begriff für die Sünde des Lasters hätten. Im Eifer der Diskussion bemerkte Mr. Yollop mit affektierter Höflichkeit, dass Mr. Blyths Profession nicht die Befähigung besitze, moralische Fehler und Konsequenzen solcher Fehltritte zu ermessen. Währenddessen sprach Mr. Thorpe gerade und offen von den skandalösen Gerüchten über die Abkunft und Verwandtschaft Madonnas, welche vor Jahren in mehreren Stadtvierteln verbreitet gewesen wären. Diese Schmähungen brachten auch Valentin in Hitze, er erklärte sie als schändliche Verleumdungen und verließ das Haus mit dem Entschluss, nie wieder eine Verbindung weder mit Mr. Yollop, noch mit Mr. Thorpe zu unterhalten und den Umgang mit ihnen gänzlich abzubrechen.

Nachdem er kaum seit einer Stunde wieder in seiner Wohnung war, erhielt er ein Schreiben von Mrs. Thorpe, worin sie ihre tiefe Besorgnis über die heutige Begegnung und den daraus entstandenen Zwist aussprach und Mr. Blyth um Verzeihung bat, indem sie bemerkte, er möchte den Gesundheitszustand Mr. Thorpes berücksichtigen, welcher derart sei, dass der Familienarzt streng verboten habe, auf seinen abwesenden Sohn bezüglichen Visiten anzunehmen oder Untersuchungen anzustellen. Wenn diese Regeln nicht viele Tage hindurch befolgt würden, so träte wieder gesteigertes Herzklopfen ein, was dann eine vollständige Krankheit zur Folge hätte. Bei regelmäßiger Sorgfalt und Vermeidung aller Aufregungen würde der Zustand nicht gefährlich werden.

Nach diesem Referat über ihren Gatten begann sie über sich selbst zu sprechen, erwähnte den Empfang von Zacks Schreiben und bemerkte, dass ihre Besorgnis und Unruhe dadurch nur noch vermehrt worden sei. Wahrscheinlich werde Zack zu Mr. Blyth als seinem ersten Freunde eilen, und daher bat sie, er möchte seinen ganzen Einfluss anwenden, um ihn von desperaten Schritten oder vom Verlassen des Landes, was sie ganz besonders befürchtete, gütigst abhalten. Könnte Mr. Blyth ihr dies verbürgten, so vermöchte sie ihren Gatten zu beruhigen, indem sie ihm die Versicherung geben könnte, dass Zack sich gegenwärtig unter Schutz und guter Führung befinde, ohne deshalb in die einzelnen Details eingehen zu müssen. Hierdurch würde sie von der großen Angst, von der sie schon so viel gelitten, gänzlich befreit werden.

Damit endete der Brief plötzlich, aber als Postscript befand sich die Bitte um recht baldige Antwort Nachdem Mr. Blyth dies alles treu an Zack berichtet hatte, fügte er hinzu: »Nun, lieber Thorpe, was sich auch zwischen Ihnen und Ihrem Vater ereignet haben mag, es vermindert durchaus die Achtung nicht, welche ich stets für Ihre Mutter gefühlt habe, und es ist mein erster Wunsch, ihr mit allen Kräften dienen zu können. Ich sage Ihnen, als meinem jungen Freunde, treu und wahr, dass Sie wirklich den schärfsten Tadel verdienen und —— Jedoch ich will das letzte Wort nicht aussprechen, setze aber mein volles Vertrauen in Sie und lebe der Hoffnung, dass Sie jede Tat unterlassen, welche Ihnen das Ehrgefühl und die Liebe zu Ihrer Mutter verbietet.«

Diese Berufung und das erzählte Faktum brachten eine tiefe Wirkung auf Zack hervor. Sein heißes Verlangen nach einem Wanderleben voller Reize und Gefahren ward durch die sanfte Temperatur des freundschaftlichen Einflusses sehr abgekühlt und gemäßigt. »Ihr seid nachsichtig mit meinen Fehlern, Mr. Blyth, ich verdiene Eure gute Meinung und Euer Vertrauen nicht«, sagte er gerührt. »Ich weiß, ich habe schlecht gehandelt und mein Betragen verdient strenge Bestrafung. Aber man muss das Vergangene nicht wieder neu auftischen. Sagt mir einzig nur, was ich tun soll, gebt mir Euren Rat —— ich will alles tun, ich will ihn befolgen um meiner Mutter Willen —— auf mein Ehrenwort!«

»Das ist recht, das ist männlich gesprochen«, rief Valentin, indem er ihn auf die Schulter schlug. »Hört nun, was ich Euch zu sagen habe. Vorläufig wird es nicht gut sein, nach Hause zu geben, selbst wenn Ihr das wolltet —— was ich aber auch nicht glaube. Denn der Zustand Eures Vaters würde durch Eure Ankunft nur noch bedeutend verschlimmert werden; also tut Ihr nicht gut daran, hinzugehen. Aber Beschäftigung müsst Ihr haben während Eurer Abwesenheit vom Hause! Ich weiß nicht, ob Ihr dazu Lust habt. —— Ihr habt großen Anteil an der Malerei genommen und wolltet gern selbst ein Maler werden; jetzt ist’s nun Zeit, Euren Entschluss zu prüfen. Wenn ich die Erlaubnis bekomme, Euch ins Britische Museum einführen zu können, um Eure Morgenstunden auszufüllen, und Euch dann in irgendeine Privat-Akademie unterbringe, denn meine ist nicht streng genug für Euch, wo Ihr Eure Abendstunden nützlich verwerten könnt, —— werdet Ihr dann auch Stand halten? — Dort lässt sich aber kein Unsinn treiben und kann man keine gerösteten Teekuchen essen. Wirklicher Ernst, Beständigkeit und harte Arbeit stehen Euch bevor, aber ich werde Euch gern hilfreich sein, wenn Ihr Euch selbst beherrscht und tätig seid! Ich kann Euch gegenwärtig keinen bessern Plan vorschlagen. Wollt Ihr Euch verpflichten, alles zu befolgen? ——«

»Ja ja! bis auf den Buchstaben«, erwiderte Zack, welcher jetzt fest entschlossen seine romantische Wanderlust aufgab. »Ich kenne nichts Besseres, Mr. Blyth, als Euren Rat und Plan für die Zukunft zu befolgen.«

»Bravo!!« rief Valentin in seiner alten herzlichen Manier. »Die schwerste Last und Besorgnis, welche die ganze Zeit auf meiner Brust gelegen, ist jetzt verschwunden. Lass Dich umarmen, lieber Zack! Ich nenne Dich von jetzt ab Du und will sogleich einen tröstenden Brief an Deine Mutter schreiben. ——«

»Gebt ihr die Versicherung meiner beständigsten Liebe«, sagte Zack.

»Ja, das will ich, in dem Glauben, dass Du auf dem Wege der Besserung bist und Dich einer solchen Botschaft würdig machst«, ergänzte Mr. Blyth. »Lass uns umkehren, denn je früher ich ihr schreibe, desto leichter wird mein Herz. Aber nebenbei gesagt, es gibt noch eine andere wichtige Frage, an die ich vorhin nicht dachte und welche auch Deine Mutter in ihrer Angst vergessen zu haben scheint. Wie stehts mit Deinen Geldverhältnissen? —— Hast Du gegenwärtig eine Wohnung? —— Kann ich Dir in irgendeiner Weise helfen? ——«

Diese Fragen beantwortete Zack sogleich mit seiner natürlichen Offenherzigkeit, indem er sein erstes Zusammentreffen mit Mr. Marksman und den heutigen Besuch in Kirk Street erzählte.

Obgleich Mr. Blyth nicht mit einer übergroßen ängstlichen Vorsicht begabt war und auch nicht viel Welt- und Menschenkenntnis besaß, so runzelte er dennoch die Stirn und schüttelte das Haupt, als er die kuriose Geschichte mit anhörte. Dann sprach er seine große Missbilligung über Zacks leichtsinnige Bereitwilligkeit aus, mit einem solchen fremden Menschen gleich so intim zu werden, und erinnerte ihn daran, dass das erste Begegnen mit seinem neuen Bekannten in einem verrufenen, gemeinen Hause erfolgt sei; auch habe er doch, wie er selbst zugestehe, nicht die geringste Kenntnis von dessen Vergangenheit. Daher rate er ihm ernsthaft und dringend, sobald als möglich alle Verbindungen mit diesem gefährlichen Unbekannten abzubrechen, und zwar bei der ersten Gelegenheit.

Zack dagegen war nicht träge, um hinreichende Gründe aufzufinden, sein Benehmen in dieser Hinsicht zu rechtfertigen. Zuerst konstatierte er, dass Mr. Marksman als Fremder ganz unschuldigerweise in den Tempel der Harmonie gelangt sei, ohne dieses berüchtigte Haus näher zu kennen, und dass er dann sehr schändlich beschimpft worden und erst nach dieser Beschimpfung die Ursache jenes Tumultes geworden sei. Was seine Familienereignisse und seinen wirklichen Namen beträfe, darüber möge er wohl gute und vernünftige Gründe zur Verheimlichung haben. Im Übrigen erzählte er seine anderweitigen Lebensschicksale sehr offen; auch sei sein ganzes Benehmen offenherzig und stets ginge er den geradesten Weg vorwärts. Wohl möge er exzentrisch sein und ein abenteuerliches Leben geführt haben, aber deswegen dürfe man ihn noch nicht als einen schlechten Charakter verdammen. Und das Darlehen, das er von ihm erhalten, gäbe den sichersten Beweis, dass er kein Schwindler, kein schlechter Mensch sei. Seine genaue Kenntnis der Lokalitäten, Sitten und Gebräuche in Kalifornien, welche er diesen Morgen in seiner Erzählung dargelegt habe, bewiese ganz zuverlässig, dass er dort, wie er selbst sagte, sein Geld durch Goldgraben erworben habe.

Mr. Blyth gab zu, dass diese Argumente zu berücksichtigen seien, aber nichts desto weniger halte er an seiner ersten Meinung fest; dann bot er ihm Geld aus seiner eigenen Börse an, damit er sich seiner heute früh eingegangenen Verpflichtung wieder entledigen könne.

Zack erwiderte, wenn er diesen Rat befolgen und seinem neuen Freunde ein solch offenbares Zeichen des Misstrauens gäbe, so hege er nicht den geringsten Zweifel, dass er ihn sogleich niederschlagen würde, und fügte hinzu, »lasst Euch sagen, Mr. Blyth, Mr. Marksman ist einer jener Männer, welcher es wirklich tut.«

Valentin schüttelte den Kopf und meinte, dies sei nur Spaß.

Aber Zack erklärte, es sei voller Ernst und schilderte die sonderbaren Eigenheiten von Mr. Marksman’s Charakter; auch erzählte er einige seiner wildesten Abenteuer und die kuriose Art, wie er seine Banknoten platziert, ihm dann sein Bett zur Verfügung gestellt habe und wie aufgebracht er über seine Weigerung gewesen sei. »Auch wollte er keine Schuldverschreibung annehmen«, fuhr Thorpe fort, »aber ich versteckte sie heimlich unter die Banknoten; doch will ich mit Euch wetten, dass er sie, wenn er sie dort findet, entweder zerreißt oder ins Feuer wirft.«

Mr. Blyth blickte verwirrt und wusste nicht, was er sagen sollte. Das sonderbare Benehmen des verdächtigen Fremden in Hinsicht seiner Banknoten war, gelind gesagt, zu rätselhaft für ihn.

»Lasst mich ihn zu Eurer Gemäldeausstellung mitbringen«, bemerkte Zack. »Lernt ihn erst selbst kennen, bevor Ihr ihn verdammt. Er ist der wunderlichste, aber beste Kerl auf der Welt. Seht ihn, hört ihn sprechen, und wenn Ihr dann zu mir sagt, ich soll mit ihm brechen, so will ichs tun. Sicherlich kann ich nicht anders handeln. Darf ich ihn zur Gemäldeschau bringen? —— Erbat ich es nicht schon in meinem Briefe? ——«

»Bevor ich antworte«, sagte Valentin , denke ich, »ob es wohl doch nicht besser sei, dieses Mannes Beleidigung zu riskieren und meinen Rat zu befolgen.«

»Ich würde mich schämen, ihn zu beleidigen«, antwortete Zack. »Auf meine Ehre, nachdem was zwischen uns vorgegangen ist, würde ich mich schämen, ihn zu beleidigen und so zu handeln, wie Ihr mir sagt.«

»Dann, Zack, ist es durchaus notwendig —— weil ich soeben an Deine Mutter schreiben will —— dass ich Deinen neuen Gesellschafter sobald als möglich selbst kennen lerne.«

»Wollt Ihr mit nach Kirk Street gehen, wo er wohnt?«

»Ich muss erst einen Brief an Deine Mutter schreiben, bevor ich irgendetwas anderes tue. Und dann erwarte ich Lavinchens Vater zum Tee. Ich möchte wohl wegschlüpfen, das ist sicher, aber der arme alte Gentleman würde es als eine Vernachlässigung aufnehmen.«

»Wie steht es morgen? — Morgen ist Freitag, wie Ihr wisst.«

»Der Freitag ist unglücklicherweise schon versagt. Ich muss auf dem Lande ein altes Gemälde retouchieren, mit neuen Farben auffrischen. Es geschieht in eines Freundes Hause, wo ich diniere und erst mit dem Nachtzuge wieder nach London zurückreise. Also morgen kann es auch wiederum nicht geschehen.«

»Und am nächsten Tage findet Eure Gemäldeausstellung statt?«

»Zack, Zack, Du tust besser, ihn dahin mitzubringen, aber erinnere Dich, welchen Unterschied ich stets zwischen meinem öffentlichen Studien- und meinem Privathaus mache. Ich betrachte die glorreiche Mission der Kunst als ein Gemeingut für alle Menschen und bin stolz, meinen Gemäldesaal allen ehrbaren Personen öffnen zu können, aber meine andern Zimmer gehören nur meinen nächsten Freunden. Darin kann und will ich keine Fremden sehen. Merke Dir’s.«

»Versteht sich! Ich werde nicht anders handeln, mein alter teurer Freund. Nur sehen und hören sollt Ihr den alten, ehrbaren Mat. Dann will ich Euch Rede stehen.«

»Zack! Zack! Ich wünsche, Du wärst nicht gar so schrecklich sorglos in Hinsicht Deiner neuen Bekanntschaft. Ich habe Dich schon oft gewarnt, Dich und Deine Freunde durch Leichtsinn ins Unglück zu bringen. Wo gedenkst Du jetzt hinzugehen? ——«

»Zurück nach Kirk Street. Dies ist mein nächster Weg. Ich versprach Mat ——«

»Bedenke, was Du mir versprochen hast und was ich eben im Begriff stehe, Deiner Mutter zu versprechen. Weile noch einen Augenblick, ich hab Dir noch mehr zu sagen. Was tust Du morgen? Es nicht möglich, bis dahin die Ordre für den Eintritt ins Museum zu erlangen. Wie gedenkst Du Deine Zeit morgen anzuwenden?«

»Zu einem schönen, guten, langen und gesunden Streifzug aufs Land mit Freund Mat, welcher so gern wie jeder andere auf Sohlleder wandernde Mann einen Spaziergang macht. Lebt wohl, alter teurer Knabe, herzlichen Dank für alles Gute, was Ihr an mir tun wollt. Ich denke an alle meine Versprechungen, die ich Euch gemacht, und werde sie erfüllen, auf meine Ehre! Ich lebe der Hoffnung, dass wir uns künftigen Sonnabend wieder treffen und Ihr meinen neuen Freund sehen und alles gut finden werdet.«

»Ich hoffe, dass ich nicht alles schlecht finden werde«, sagte Mr. Blyth und ging nach seiner Wohnung.



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel - Die Gemäldeschau

Der größte Tag des Jahres in Valentins Hause war stets der Tag seiner Gemäldeausstellung in seinen Zimmern. Es wurden hier alle seine für die Ausstellung der Königlichen Akademie gemalten Bilde den Freunden und sonstigen Bewunderern zur Schau gestellt. Vermöge seiner liberalen Prinzipien, dass Jedermann in seinem Gemäldesaal willkommen sei, welcher sich für Kunst interessiere oder sich durch eine Einladung hierzu geehrt fühle, sandte er zahlreiche Einladungen nach links und rechts in alle Richtungen der Gesellschaft, ganz ohne Unterschied des Standes. Diese Aufmerksamkeit widmete er jedes Jahr dem Publikum, trotz seiner bescheidenen Stellung, die er in der Kunst repräsentierte. Daher bekam er Besucher aus allen Rangstellungen und Klassen der Gesellschaft; die soziale Skala derselben vermehrte sich je nach dem Herabsteigen von der höheren zur niederen Klasse. Die hohe Aristokratie ward gewöhnlich repräsentiert durch die verwitwete Countess of Brambledown, die Aristokratie der Kunst durch zwei oder drei Königliche Akademiker und die Geldaristokratie durch acht bis zehn reiche Familien, welche in der Absicht kamen, sowohl die verwitwete Countess (Gräfin) als die Gemälde zu sehen.

Dies war die auserlesene Gesellschaft, Nach ihr flutete die große allgemeine Masse der Besucher hinein, eine unwissende obskure Menge, der blind verehrende Mob der Gesellschaft, die verschiedenartigsten Mischungen der Personen von kleiner Wichtigkeit, zweifelhafter Wichtigkeit und solcher von gar keiner Wichtigkeit. Den Beschluss machte Mr. Blyths alte Hausdienerschaft, also sein Gärtner, seines Weibes alte Amme, der Bruder seiner Hausmagd und der Vater seiner Köchin. Einige seiner respektablen Freunde klagten über die nivellierenden Tendenzen und gleichmachenden Prinzipien, welche ihn bewegten, eine solche bunte Mischung aller Gesellschaftsklassen zu seiner Gemäldeausstellung einzulassen. Aber Valentin beharrte nichts desto weniger dabei, Jahr für Jahr seine Besucher aus den hohen und niederen Regionen einzuladen, und war ganz außerordentlich erfreut, dieses Verhalten von keiner geringeren Person als Lady Brambledown selbst gebilligt zu sehen. Diese Dame gehörte einstmals zu den eifrigsten Torys (reaktionäre Aristokratie) war aber jetzt zur extremen radikalen Partei übergegangen, schnupfte Tabak, schimpfte auf die Pairs, erzählte skandalöse Hofgeschichten und zeigte sich stets als glühende Verehrerin von Oliver Cromwell.

An jenem ereignisvollen Sonnabend, wo Mr. Blyths Werke einem Beifall spendenden Publikum zur Schau gestellt wurden, hatte er sich schon sehr früh in ein glänzendes Morgenkostüm gekleidet und seinen Gemäldesaal eine Stunde vor dem erwarteten Erscheinen des Volks geöffnet.

Dank Madonnas industrieller Aufmerksamkeit war der Studiensaal zu einem glänzenden Zimmer dekoriert und ausgestattet worden. Ein Halbzirkel hübscher Stühle stand symmetrisch in Front der Gemälde. Das sinnreiche klassische Landschaftsgemälde, »das goldne Zeitalter« ruhte großartig auf seiner eigenen Staffel, während sein umfangreichstes Bild, das er jemals gearbeitet, das den größten Raum einnimmt und in den glänzendsten Rahmen gespannt war, nämlich: »Columbus, im Anschauen der neuen Welt versunken« — an der Wand im Hintergrund hing; es war zu groß und schwer, als dass es auf ein Postament hätte gestellt werden können.

Außer Mr. Blyths Schreibbureau waren alle andern Gegenstände aus dem Gemäldesaal entfernt oder in Ecken gestellt worden. Das Zimmer war, wie schon gesagt, von allen alten unnützen Möbeln gesäubert und glänzend ausstaffiert. Mr. Blyth ging mit elastisch hüpfenden Schritten und voller Erwartung auf das erscheinende Publikum im Saale auf und ab, blickte zur Tür hinaus, ging wieder singend und pfeifend an seinen Gemälden vorüber, schaute sie entzückt an und blickte dann geheimnisvoll in ein kleines, schön gebundenes Manuskript, das er in der Hand trug; hierauf verfolgte er mit seinem Malerstabe die Linien in der Komposition des Columbus von Kopf bis zu Fuß, bewegte den Stab mit träumerischer Künstlergrazie und blickte aber stets zur Tür zurück, um den ersten enthusiastischen Besucher mit offenen Armen empfangen zu können.

Eine Treppe höher, in Lavinias Zimmer war die Szene ganz andrer Art. Hier war die Ankunft der Besucher auch eine hochwichtige Begebenheit, aber sie wurden mit vollkommener Ruhe und Schweigen erwartet. Mrs. Blyth lag in ihrer gewöhnlichen Position auf ihrem Bett und blickte in ein kleines Portefeuille mit Kupferstichen und Madonna stand vor einem Fenster, von dem sie eine volle Aussicht auf das Gartenthor hatte, um die Annäherung der Besucher bemerken zu können. Dies war an den Tagen der Gemäldeausstellung stets ihr Platz, von wo aus sie ihrer Adoptivmutter, welche zu weit vom Fenster entfernt lag, die Ankunft der verschiedenen Personen anzeigen konnte. An allen andern Tagen des Jahres hatte sich Mrs. Blyth ganz dem Dienste Madonnas gewidmet, indem sie ihr den Inhalt der Gespräche, welchen sie nicht hören konnte, näher zu erklären und verständlich zu machen suchte. Aber an diesem Tage war es Madonna, welche ihre Dienste Mrs. Blyth widmete, dadurch dass sie ihr das Ankommen der Kunstfreunde meldete, denn Mrs. Blyth konnte ihr Bett nicht verlassen.

Keine andere Begünstigung, welche das Mädchen in Valentins Hause genoss, hatte mehr Wert für sie als diese, denn sie war dabei der Gegenstand zärtlicher Aufmerksamkeit. Mrs. Blyth bat sie stets dringend, die Ankunft jedes einzelnen Gastes durch ihre bestimmten Zeichen kund zu tun. Es waren dies bestimmte Gesten und andere eigentümliche Besonderheiten, welche die betreffenden Personen als Gewohnheitsfehler besaßen und die man denselben bei ihren wiederholten Besuchen abgelauscht hatte und sie nun getreu nachahmte. Mit dieser Mimik wurden also die bezüglichen Personen angemeldet. Und ihr Gedächtnis in jahrelanger Bewahrung dieser Zeichen war wirklich ganz außerordentlich groß. Hatte Mrs. Blyth den Namen irgendeiner selten erscheinenden Person wieder vergessen, was sehr oft geschah, und es wurde ihr dann das Gewohnheitszeichen angegeben, so wusste sie sich nach Jahren wieder auf denselben zu besinnen und ins Gedächtnis zurückzurufen.

Auf den Einladungskarten war die Zeit der Gemäldeschau von elf bis drei Uhr angegeben. Schon war zehn Uhr längst vorbei. Madonna stand geduldig harrend vor dem Fenster, häkelte an einer Börse für Valentin und blickte sehr oft voller Spannung die Straße entlang. Mrs. Blyth summte einen Ton für sich hin, wendete ein Blatt nach dem andern um und hatte beim Anschauen der Kupferstiche die Zeit ganz und gar vergessen, so dass sie erstaunt war, als Madonna mit der Hand plötzlich ans Fenster klopfte, denn dies war das Signal, dass der erste pünktliche Besucher am Gartentor erschienen sei.

Als Mrs. Blyth ihre Augen erhob, musste sie über das Mädchen lächeln, denn dieses zog ihr jugendliches, rotwangiges Gesicht in Falten, machte eine große Zahl steifer ernster Verbeugungen und warf mehrere zärtliche Kusshände. Hierdurch ward die Ankunft des alten Kupferstechers angezeigt, welcher in seiner altmodischen Kleidung die Damen durch zahlreiche zitternde Verbeugungen und Kusshändchen begrüßte und ihnen damit seine Huldigung darbrachte.

»Ah!« rief Mrs. Blyth und nickte, um zu zeigen, dass sie das Signal verstanden habe. »Ah! Das ist der Vater. Ich wusste ganz sicher, dass er der Erste sein würde, und ich weiß genau, was er tun wird, sobald er eintritt. Er wird die Gemälde bewundern und eine bessere Ansicht darüber aussprechen als irgendjemand. Aber bevor er noch ein vernünftiges Wort darüber zu Valentin gesagt haben wird, ist gewiss schon der Zudrang der Besucher so groß geworden, dass er plötzlich nervenschwach wird und zu mir herauf kommt.«

Während Mrs. Blyth sich in solchen Vorstellungen über ihren Vater erging, signalisierte Madonna die Ankunft zweier anderer Besucher. Zuerst erhob sie ihre Hand rasch und strich ihre glatte Wange, dann stellte sie sich streng aufrecht und faltete majestätisch ihre Arme über ihren Busen. Mrs. Blyth erriet sogleich die Originale jener beiden pantomimischen Portraitskizzen. Die eine repräsentierte Mr. Hemlock, den kleinen Kritiker eines noch kleineren Blattes, welcher die prinzipielle Gewohnheit hatte, seinen Schnurrbart nicht fünf Minuten lang in Ruhe zu lassen. Die andere zeigte Mr. Bullivant an, den emporstrebenden, schön haarigen Bildhauer, welcher auch Gedichte schrieb und fortwährend so eifrig die verschiedenen Attituden studierte, dass er selbst oft wie seine eigene Statue vor einem Ladenfenster stand. Nach einigen Minuten hörte Mrs. Blyth Pferdegetrappel, ein starkes Knirschen von Wagenrädern und die Annäherung einer Chaise. Madonna trug sogleich eine Fußbank zum nächsten Stuhl, rollte den Saum ihres Kleides empor und in den Schoß, stemmte die Hände in die Seite, tat dann, als ob sie schnupfte, und schaute vergnügt zu Mrs. Blyth, gleichsam um zu sagen: »Ich denke, Sie können mich nicht missverstehen!« »Unmöglich! —— Die Alte Lady Brambledown mit Muff und Schlupftabaksdose.«

Dicht hinter der verwitweten Countess folgte ein Besucher niederen Standes. Madonna blickte, als wäre sie ein wenig erschrocken über die Kühnheit ihrer Nachahmung, begann zu kauen, als hätte sie ein Primchen Tabak im Munde, tat dann so, als ob sie es herausnähme und hinter sich würfe, und dies alles geschah in einem Moment. Er erschien, um sich zu vervollkommnen, Mangels, der Gärtner. Obgleich ein alter Gewohnheits-Tabakkauer, warf er doch sein Primchen weg, sobald er in bessere Gesellschaft trat. Er betrachtete dies als eine Pflicht, die er seiner eignen Respektabilität schuldig zu sein glaubte.

Ein anderer Wagen. Madonna setzte sich pantomimisch eine Brille auf, nahm sie wieder ab, um sie zu putzen und setzte sie abermals auf; dann trat sie ein wenig vom Fenster zurück und spreizte ihr Kleid recht prahlerisch zur weitesten Dimension aus. Die neuen Ankömmlinge waren der Doktor, —— dessen Brillengläser ihm nie rein und klar genug sind, —— und dessen Frau, eine abgemagerte feine Lady, welche nur noch die Spuren verschwundener Reize zeigte, aber unter ihren Kleidern einen ungemeinen großen Ballon trug, den man Krinoline nennt.

Jetzt trat eine kleine Pause in der Prozession der Besucher ein. Mrs. Blyth winkte der Madonna, ergriff sie beider Hand und fragte durch die Fingersprache: »Noch keine Zeichen von Zack —— meine Liebe?«

Das Mädchen blickte bekümmert nach dem Fenster und schüttelte das Haupt.

»Wenn er heraufzukommen wagt, dürfen wir nicht so artig gegen ihn sein, wie gewöhnlich. Er hat sich sehr schlecht betragen und wir müssen versuchen, ihn zu beschämen.«

Madonnas Antlitz errötete bei diesen Worten. Sie blickte erstaunt, sorgenvoll, verwirrt und ungläubig. Zacks Benehmen schlecht? —— sie konnte es nimmer glauben!

»Ich werde versuchen, ihn tüchtig zu beschämen«, wiederholte Mrs. Blyth.

»Und ich werde versuchen, ihn nachher zu trösten«, dachte Madonna, indem sie ihr Haupt weg wandte, um nicht von ihrem Antlitz erraten zu werden.

Jetzt erschallte die Torklingel wieder. »Vielleicht ist er‘s«, fuhr Mrs. Blyth fort und nickte mit dem Kopfe nach dem Fenster.

Madonna ging, um zu sehen; drehte sich aber gleich mit einer komischen Miene von Täuschung wieder um, krümmte ihre Daumen in die Achselgrube, so als ob sie eine Weste an habe. Nur Mr. Gimble, der Gemäldehändler welcher den Wert der Kunstwerke mit den Händen abmisst.

In diesem Augenblick ertönte ein sanfter Schlag an Mrs. Blyths Tür und herein trat ihr Vater mit seinem beständigen Schnupfen, den nichts zu kurieren vermochte; verbeugend und Hände küssend klagte er über anstrengendes Treppensteigen, ganz so, wie es seine Tochter vorher gesagt hatte.

»Oh, Lavinia! Die verwitwete Countess befindet sich im Gemäldesaal und ihre Ladyship lieben die Gemälde sehr«, rief der alte Mann aus und lächelte dabei mit schwacher und zitternder nervöser Freude.

»Komm und setz’ Dich nieder, Vater, und sieh, wie Madonna die Besucher anzeigt Es ist amüsanter als irgendeine Komödie.«

»Und ihre Ladyship lieben die Gemälde«, wiederholte der alte Kupferstecher, während seine alten wässerigen Augen freudefunkelnd umherblickten, dann nahm er an der Bettseite seines Lieblingskindes Platz.

Schon wieder erschallte die Torklingel —— neues Interesse. Madonna vermochte die große Zahl der Besucher nicht auf einmal zu signalisieren. Im Gemäldesaal wurden binnen kurzer Zeit alle Plätze besetzt und sogar der Hintergrund mit Zuschauern gefüllt.

Lady Brambledown, deren Beschauung und Studium den ganzen Morgen in Anspruch nahm, saß auf dem Ehrenplatz im Zentrum, schnupfte sehr häufig, warf mit liberalen Redensarten in kreischender Stimme um sich und war ganz außerordentlich vergnügt, sich von all den respektablen Familien so ehrfurchtsvoll angestaunt zu sehen. —— Da waren zwei Königliche Akademiker, —— der eine, ein finsterer mürrischer Akademiker hatte sich in einen wahrhaft losschnallen Mantel gehüllt und starrte beständig in sprachloser Hartnäckigkeit die Bilder an, indem er sie ganz und gar annihilierte und gar nicht als Kunstwerke gelten lassen wollte; der andere, ein wohlwollender Akademiker mit einem großen Regenschirm war in beständigem Zweifel und wusste nicht, ob er den »Columbus« oder das »goldene Zeitalter« loben und preisen sollte. Da er Mr. Blyth in Liebe und Freundschaft zugetan war, so fuhr er immer mit der Hand vor den Gemälden hin und her, gleichsam vergleichend und rief von Zeit zu Zeit:

»Ja, ja; ah! ja, ja, ja.«

Da waren der Doktor nebst Gemahlin, welche beständig den außerordentlich großen massiven Rahmen des »Columbus« bewunderten, aber über das Gemälde selbst nicht ein Wort sagten. Ferner waren anwesend Mr. Bullivant, der Bildhauer, und Mr. Hemlock, der Journalist; beide wechselten sehr oft und feierlich mit den kritischen Wörtern als »ästhetisch«, »sensuös«, »subjektiv«, »objektiv«, aber niemand wusste daraus eine Idee abzuleiten. Da war Mr. Gimble, beständig lobend und pfeifend durchs ganze Alphabet des Kunstjargons, aber nicht mit der geringsten Spur eines Begriffs vom Subjekt weder in Theorie noch Praxis. Da waren mehrere respektable Familien, welche ebenfalls den Geist der Kunstwerke zu begreifen suchten, es aber nicht vermochten. Dann waren noch andere respektable Familien vorhanden, welche dies gar nicht versuchten, aber in beständiger Nähe der Countess verharrten. Und was die große allgemeine Masse der Besucher betraf, so zeigte diese mehr Enthusiasmus als Beurteilungskraft. Aber draußen vor der Tür standen noch einige bescheidene Zuschauer, welche sich in ehrfurchtsvoller Bewunderung zuflüsterten, das »goldene Zeitalter« sei ein geschmackvolles Ding und der »Columbus« eine wundervolle Piece; diese still bewundernden Verehrer waren Mr. Blyths Gärtner, der Vater seiner Köchin u. a.

Valentins rastlose Tätigkeit vor der Ankunft der Besucher war nichts im Vergleich mit seiner jetzigen rapiden Hastigkeit. Seit dem Erscheinen des ersten Zuschauers hat er nicht einen Augenblick still gestanden, nicht eine Sekunde gerastet. Und wahrscheinlich würde er seinen Beinen und seiner Zunge nicht die geringste Ruhe gegönnt haben, bevor nicht der letzte Gast seinen Saal verlassen, wenn nicht Lady Brambledown zufällig auf einen Gegenstand gestoßen wäre und Blyths Aufmerksamkeit darauf fixiert hätte.

»Ich sage, Blyth«, schrie ihre Gnaden (sie setzte niemals das »Mister« vor den Namen ihrer Freunde) »ich sage, Blyth, ich kann Euer Gemälde, den Columbus, nicht verstehen. Nehmt Euch etwas Zeit und erklärt es im Detail. Wann wollt Ihr beginnen?«

»Sogleich, meine teure Madame, sogleich; ich wollte nur warten, bis der Saal gefüllt sei«, erwiderte Valentin, indem er sein Malerstöckchen nahm und sein schön gebundenes Manuskript präsentierte. »Das Faktum ist —— ich weiß nicht, ob Sie es bemerken —— ich habe hier einige Gedanken über Kunst, welche als Erklärung meines Columbus dienen sollen, kurz zusammengestellt; denn dieses Werk bedarf mehr als meine andern Gemälde einer speziellen Erklärung. Diese Gedanken sind in diesem Heftchen niedergeschrieben. Würde wohl jemand so gütig sein, sie vorzulesen, während ich hier am Gemälde die Fingerzeige gebe? —— Ich frage nur deshalb, weil es sonst egoistisch erscheinen könnte, meine eigenen Gedanken über mein eigenes Werk zu lesen. Will irgendjemand so gütig sein?« wiederholte Mr. Blyth, indem er den Halbzirkel entlang ging und sein Manuskript überall hin präsentierte.

Aber nicht eine einzige Hand griff zu. Schüchternheit ist ansteckend, und dies schien auch hier der Fall sein.

»Unsinn, Blyth!!« rief Lady Brambledown; »lest es selbst!! Egoistisch? —— Stoff! Jedermann ist egoistisch. Ich hasse die bescheidenen Menschen; sie sind alle Lumpenkerls. Lest es selbst und behauptet Eure eigene Autorität. Ihr seid dazu am ersten und mehr berechtigt als irgendeiner von Euren Freunden; Ihr gehört zur Aristokratie des Talents, —— nach meiner Ansicht die einzige Aristokratie, welche Beachtung verdient.« Hierbei nahm Ihre Gnaden eine Prise und blickte fragend unter den respektablen Familien herum, gleichsam als wollte sie sagen: »Was meint ihr, was denkt ihr über die verwitwete Countess?«

Valentin, durch ihre Worte ermutigt, stellte sich jetzt vor den Columbus und entfaltete sein schön gebundenes Manuskript.

»Was für ein eigentümlicher Mann dieser Mr. Blyth ist«, flüsterte eine Lady ihrer Nachbarin zu.

»Und was für eine ganz ungewöhnliche Mischung des Volks er eingelassen hat,« erwiderte die andere, indem sie an der Tür die niedere Demokratie im Sonntagsstaat erblickte.

»Die Gemälde, welche ich die Ehre habe auszustellen«, begann Valentin vom Manuskript, »sind gemalt nach einem Prinzip ——«

»Ich bitte um Verzeihung, Blyth«, unterbrach hier Lady Brambledown, deren scharfes Gehör die Bemerkung über Valentin und dessen »gemischtes Volk« vernommen hatte, und deren Prinzipien, welche sie stets öffentlich zur Schau trug, dadurch sehr verletzt worden waren. »Ich bitte um Verzeihung; wo ist mein alter Alliierter, der Gärtner, welcher das vorige Mal hier war? —— Draußen vor der Tür steht er? Was denkt der? Warum kommt er nicht herein? Hierher Gärtner! Komm hinter meinen Stuhl.« Der Gärtner näherte sich ihr, zitternd über die große Ehre der öffentlichen Aufmerksamkeit und voller Verwirrung über das große Geräusch, das seine plumpen Stiefel verursachten. »Wie befindest Du Dich? und wie gehts Deiner Familie? —— Warum bliebst Du vor der Tür stehen? Du bist einer von Blyths Gästen und hast dasselbe Recht, im Saale zu stehen als irgendein anderer. Bleib hier stehen, höre, schau und belehre Deinen Geist. Dies ist das Zeitalter des Fortschritts, Gärtner; Deine Gesellschaftsklasse ist zur Herrschaft gelangt, und es ist endlich Zeit, dass es so geschieht. Fahrt fort, Blyth!!« Wiederum nahm die gnädige Countess einige Prisen Schnupftabak und blickte sich sehr verächtlich nach jener Lady um, welche von »gemischtem Volk« gesprochen hatte.

»—— Sind nach einem Prinzip gemalt«, las Valentin weiter, »welches hier kurz erklärt werden soll: Ich nehme mir die Freiheit, die Kunstwerke in zwei große Klassen zu teilen, in die mit landschaftlichen Sujets und mit Figuren-Sujets; und ich wage diese beiden Klassen in ihrer höchsten Entwickelung unter den respektive Titeln zu beschreiben als die Pastoral-Kunst und die Kunst der Mystik. Das »goldene Zeitalter« ist ein Versuch, die Pastoral-Kunst zu exemplifizieren, und »Columbus im Anschauen der Neuen Welt« repräsentiert meine Art der Mystik. In der landschaftlichen oder Pastoral-Kunst ist nur dann das Höchste zu erreichen, denke ich, wenn man die reine Natur als Grundlage annimmt und ein lustiges Ideal darauf bildet, welches den Geist erhöht und erhabene Poesie und Philosophie über die mühevolle Wirklichkeit ausbreitet. Z. B. auf dem Gemälde, das Ihre Aufmerksamkeit jetzt begünstigt (Mr. Blyth bewegte sein Malerstäbchen an das »goldene Zeitalter«), haben Sie im Vordergrunde Gebüsche, in der Mitte Bäume, im Hintergrunde Berge und darüber liegend den Himmel, und ich wünsche, dass es Ihnen als eine treue Kopie der reinen Natur erscheinen möge. Aber in der Bildergruppe rechts (hier berührte der Rohrstab die Stadt mit ihren Äckern und Wäldern), »in den tanzenden Nymphen und dem denkenden Philosophen« (er berührte sein weisheitsvolles Haupt) haben Sie das Ideal, —— den erhöhenden Gesichtspunkt über ordinäre Dinge, als da sind Städte, Bauern u. s. w. Auf diese Art ist die Natur veredelt.« Hier am Ende eines Paragraphen pausierte Mr. Blyth ein wenig, und der Gärtner machte eine unzeitige Bewegung, um wieder auf seinen vorigen Platz an der Tür zu gelangen.

»Kapital, Blyth!” schrie Lady Brambledown. «Liberal, comprehensiv, progressiv, und gründliche Tiefe. Gärtner, werde nicht unruhig!«

»Die wahre Philosophie der Kunst —— die wahre Philosophie der Kunst, meine Lady«, fügte Mr. Gimble, der Gemäldehändler hinzu.

»Unverdaulich!« sagte Mr. Hemlock, der Kritiker vertraulich zu Mr. Bullivant, dem Bildhauer.

»Was?« fragte dieser Gentleman.

»Blyths kritische Prinzipien«, antwortete Mr. Hemlock. »Oh, ja! ganz extrem«, erwiderte Mr. Bullivant.

»Nachdem ich einen Überblick über die Pastoral-Kunst gegeben und den Versuch darin, »das goldene Zeitalter« besprochen habe«, fuhr Mr. Blyth fort, indem er ein Blatt umwendete, »will ich jetzt, mit Ihrer Erlaubnis, zur Kunst der Mystik und des »Columbus« fortschreiten. Die Kunst der Mystik werde ich mit kurzen Worten designieren, als das Streben, die Facta nach den höchsten Prinzipien der Phantasie zu illustrieren. Sie nimmt z. B. eine Szene aus der Geschichte —— kirchlich oder weltlich —— und stellt sie exakt mit der treuesten Naturwahrheit dar. Aber hierüber möchte wohl der ordinäre Denker geneigt sein zu sagen, die mystische Kunst hat genug getan.«

»Wenn sie es hat«, murmelte Mr. Hemlock.

»Im Gegenteil, die Kunst der Mystik hat erst begonnen. Hierbei muss außer dem Factum selbst, der Geist des Zeitalters ——«

»Ach! ganz recht«, sagte Lady Brambledown, »ja, ja, der Geist des Zeitalters ——«

»Der Geist des Zeitalters, welcher das Faktum erzeugte und die prophetische Andeutung der zukünftigen Perioden —— ich bitte um Pardon, ich meine, ganz kurz angedeutet, —— und die prophetische Andeutung der zukünftigen Perioden ebenso treu dargestellt werden; in der Einleitung mystisch, durch geflügelte Engel und Dämonen, Cherubs und lustige Genien; gute und böse Geister, die Drachen der Finsternis, welche uns so viele vortreffliche Künstler als Personifikationen des guten und bösen Einflusses, als Tugend und Laster, Ehre und Schande, Vergangenheit und Zukunft, Himmel und Erde und so weiter —— und alles dies auf einem Bilde dargestellt haben. ——« Hier stockte Mr. Blyth wieder; dieser Passus hatte ihm Anstrengung gekostet und er war stolz darauf.

»Glorios!« schrie enthusiastisch Mr. Gimble.

»Schwülstig«, murrte Mr. Hemlock kritisch.

»Wahr«, pflichtete Mr. Bullivant willfährig bei.

»Vorwärts —— geht zum Gemälde über —— stockt nicht so oft«, rief Lady Brambledown. »Segne meine Seele, wie der Mann unruhig wird!« Dies war aber nicht an Valentin gerichtet, welcher es, wie schon gesagt, ebenfalls verdiente, sondern an den unglücklichen Gärtner, welcher einen zweiten Fluchtversuch gemacht, zum Dunkel des schützenden Torwegs zu gelangen, aber durch seine lärmenden Stiefel verraten worden war.

»Jetzt zur Exemplifizierung meiner Bemerkung an dem vorstehenden Gemälde«, fuhr Mr. Blyth fort. »Der gesuchte Moment, welcher hier repräsentiert wird, ist der Sonnenaufgang am 12. Oktober 1492, als der große Columbus zuerst deutlich und klar Land erblickte und hiermit das Ziel seiner berühmten Reise erreicht hatte. Beobachten Sie genau, wie in den oberen Teilen der Komposition durch die mystische Illustration der Geist des Zeitalters und durch Symbolik prophetisch die zukünftigen Begebenheiten des neuen Weltteils enthüllt werden. Von den zwei geflügelten weiblichen Figuren, welche in Morgenwolken über Columbus Schiffe schweben, stellt die eine den Geist der Entdeckung dar, sie hält in der linken Hand die Weltkugel und in der rechten einen Lorbeerkranz, um Columbus zu krönen. Die andere Figur symbolisiert die Königliche Gönnerschaft, personifiziert durch ein Portrait der Königin Isabella, Columbus warmer Freundin und Patronin, welche ihre Juwelen darbot, um dessen Reisekosten zu decken, und auf seiner gefahrvollen Reise stets im Geiste bei ihm war, wie hier dargestellt ist. Die lohbraune Figur mit gefiedertem Kopf, fliegendem Haar und wild ausgebreiteten Flügeln, aufschwebend zum westlichen Horizont und dem Entdecker entgegeneilend, repräsentiert den Genius von Amerika. Die Schattenumrisse, durch den Morgennebel trübe hindurchblickend, sind die Porträttypen von Washington und Franklin, die patriotischen Erhalter Amerikas, welche niemals dort erstanden wären, wenn der Kontinent nicht entdeckt worden wäre, und welche hier prophetisch mit dem ersten Entdecker vereinigt sind.«

Während Mr. Blyth noch einmal pausierte, fuhr er mit seinem erklärenden Rohrstöckchen über die verschiedenen Personen, als da sind der Geist der Entdeckung, der Geist Königlicher Patronage, der Genius von Amerika; und bei den embryonischen Physiognomien Washingtons und Franklins klopfte er sogar auf. Aller Augen folgten dem Prozesse des Stocks, und jedermanns Meinung war, diese Mystik der Kunst, personifiziert auf Mr. Blyths Leinwand, müsse eine intellektuelle Fronarbeit sein. Nur Mr. Hemlock blickte finster und wisperte zu Mr. Bullivant: »Quark!« dieser lächelte und flüsterte »—— ganz so, Quatsch! ——«

»Lassen Sie mich nun Ihre Aufmerksamkeit zu demselben mystischen Stil der Behandlung führen und Himmel und See betrachten«, fuhr Mr. Blyth weiter fort. »Die sich windenden und stoßenden Wellen des atlantischen Meeres um Columbus Schiff geben uns einen schattenhaften Typus von den riesigen Schwierigkeiten, welche der unermüdliche Schiffer zu bekämpfen hatte. Zermalmt sinkt zuerst der Geist der Abgötterei kopfüber ins Meer, gezeichnet durch Mönchsröcke, —— denn das Collegium der Mönche hat sich am ersten gegen Columbus Fahrt erklärt. Hinter dem Geist des Aberglaubens, um dessen Haupt purpurrote Trauben gewunden sind, folgt der Genius von Portugal, —— die Portugiesen haben Columbus zurückgestoßen und verräterischerweise Fregatten ausgesandt, um ihn gefangen zu nehmen. Die sich windenden schuppigen Gestalten repräsentieren Neid, Hass, Malice, Unwissenheit und Verbrechen im Allgemeinen. So das mystische Element. ——« Eine andere Pause. Jedermann scheint seltsam beruhigt zu sein über das Ende und den Schluss dieses mystischen Elements.

»Das, was jetzt noch zu erklären bleibt«, bemerkte Mr. Blyth weitergehend, »ist das Zentrum der Komposition, welches Columbus Schiff enthält und also die Hauptszene darstellt. Hier erhalten wir wahre Realität und diejenige Art streng nachahmender Kunst, welche einfach und klar sich selbst erklärt. Als einen Beweis hierfür lassen Sie mich Ihre Aufmerksamkeit auf das Verdeck des Schiffes, auf Columbus selbst und auf die Tätigkeit der Matrosen richten. Er steht mit ausgebreiteten Armen am Stern seines Fahrzeugs, sein Mantel ist von der Schulter gefallen und zeigt uns den straffen, in ein knapp anliegendes Gemsenleder-Wams gekleideten Körper. Durch das Schäbige seiner alten Kleidung habe ich seine damaligen ärmlichen Verhältnisse angedeutet. Es mag vielleicht nicht sogleich offenbar erscheinen, dass zur Personifikation dieser Figur viele wochenlange Studien des angestrengtesten Nachdenkens und Befragens der größten Autoritäten nötig waren. Aber so hat sich’s verhalten; denn nur hierdurch kann jene treue und wahrhafte Repräsentation der individuellen Charaktere erreicht werden, welche ich mit dem höheren oder mystischen Element vereinigt habe. Ein Beispiel dieser treuen Naturwahrheit wird mir erlaubt sein, an Columbus zu zeigen. Zuerst muss ich Sie erinnern, dass dieser große Mann schon im vierzehnten Jahre zur See ging und alle Beschwerden und Mühseligkeiten des Seemannes standhaft ertrug. Zweitens muss ich Sie bitten, in meinen Gedankengang einzugehen und diese Mühseligkeiten des Seelebens zu betrachten, die in starkem Ziehen an den dicken Seilen, mannhaften Kämpfen an den großen Rudern und in noch anderen Dingen bestehen. Endlich lassen Sie mich Ihre Aufmerksamkeit auf die Art und Weise richten, in welcher das Muskelsystem des berühmten Entdeckers in anatomischer Harmonie mit dieser Idee entwickelt ist. Folgen Sie meinem Stabe genau und betrachten Sie die volle, athletische Kraft, ausgedrückt in Columbus’ Bizeps Flexor Cubiti ——«

»Barmherzigkeit über uns! Was ist ein Bizeps?« schrie Ladv Brambledown.

»Der Bizeps Flexor Cubiti, Ihro Gnaden, ——« begann der Doktor, vergnügt, etwas professionelle Belehrung in den Geist einer verwitweten Countess zu bringen, »—— mag buchstäblich erklärt werden als der Zwei-Haupt-Spanner des Ellenbogens und ist ein Muskel, welcher liegt auf dem Ob ——«

»Folgen Sie meinem Stabe, meine teure Madame, bitte, folgen Sie meinem Stabe! Dies ist der Biceps«, unterbrach Valentin den Doktor, indem er mit dem Stabe auf den oberen Teil von Columbus Arm schlug, dass die Leinwand zitterte. »Diese Arme schienen unter ihrem Gemsenleder-Wams sich in einem traurig geschwollenen Zustande zu befinden. Der Bizeps, Lady Brambledowm ist ein furchtbar starker Muskel ——«

»Welcher sich in dem menschlichen Körper erhebt, Ihro Gnaden«, unterbrach der Doktor, »durch zwei Haup ——«

»Welcher gebraucht wird«, ergänzte Valentin, dem Doktor das Wort abschneidend, »—— ich bitte um Verzeihung, Doktor, aber dies ist wichtig —— welcher gebraucht wird ——»

»Ich bitte um Verzeihung«, erwiderte der Doktor ärgerlich. »Der Ursprung des Muskels oder der Platz, wo er entsteht, muss zuerst vor allem Andern beschrieben werden. Der Gebrauch kommt nachher. Dies ist ein Axiom in der Wissenschaft der Anatomie ——«

»Aber mein teurer Herr!« schrie Valentin ——

»Nein«, sagte der Doktor peremtorisch; »Ihr müsst mich wirklich entschuldigen. Dies ist ein professioneller Punkt. Wenn ich Euch erlaubte, irrtümliche Erklärungen des Muskelsystems in meiner Gegenwart zu geben ——«

»Ich habe nicht nötig, irgendeine zu machen«, schrie Mr. Blyth, heftig gestikulierend. »Ich bedarf nur ——«

»Beschreiben den Gebrauch des Muskels, bevor Ihr den Platz der Entstehung im menschlichen Körper beschrieben habt!« rief der Doktor.

»Wollt Ihr mir gestatten, zwei Worte zu sagen?« fragte Valentin.

»Zweihunderttausend über einen andern Gegenstand, mein guter Herr, ——« sprach der Doktor zustimmend und lächelte sarkastisch »—— aber über diesen Gegenstand ——«

»Über Kunst?« schrie Mr. Blyth noch lauter, indem er so stark auf die Leinwand stieß, dass ein dumpfer Trommelklang erschallte, »—— über Kunst, Doktor! —— Ich brauchte nur zu erzählen, dass Columbus frühzeitig dicke Seile gezogen und starke Ruder geführt und hierdurch sein Muskelsystem ausgebildet habe. Ich habe hierdurch die große Entwicklung seines Bizeps Muskels, welcher bei dieser Tätigkeit vorzugsweise gebraucht wird, dargelegt, dargelegt als einen guten charakteristischen Punkt seiner physikalischen Formation —— Das ist alles! Was den Ursprung ——«

»Die Entstehung des Bizeps Flexor Cubiti, Ihro Gnaden«, referierte der Doktor, »geschieht durch zwei Hauptpunkte. Der erste beginnt, wenn ich mich so ausdrücken darf, sehnig ——«

»Dieser Mann ist ein pedantischer Esel«, flüsterte Mr. Hemlock seinem Freunde zu.

»Und doch hat er keinen schlechten Kopf zu einer Büste!« erwiderte Mr. Bullivant.

»Sehnig, Ihro Gnaden«, setzte der Doktor fort, »—— von der Gelenkpfannenhöhlung des Schulterblattes; das Schulterblatt andeutend ——«

»Bitte, Mr. Blyth«, sagte der höfliche und stets bewundernde Mr. Gimble, »—— bitte, lassen Sie sich im Namen der Gesellschaft ersuchen, in Ihrer interessanten Erklärung über Kunst fortzufahren!«

»Andeutend oder meinend den untern Teil der Schulter, Ihro Gnaden«, fügte der Doktor hinzu, »oder Schulterblatt. Und die Gelenkpfannenhöhlung ist in einem Punkte von wirk ——«

»In der Tat, Mr. Gimble«, sagte Valentin, »ich bin sehr erfreut und Ihnen dankbar für Ihren Beifall; aber ich habe nichts mehr zu erklären. Ich dachte, dass der kleine Punkt über Columbus ein guter Schlusspunkt wäre, und glaubte, dass ich mir unbeschadet erlauben könnte, den Rest des Gemäldes sich selbst erklären zu lassen, —— den intelligenten Zuschauern gegenüber.«

Einige der Zuschauer, wahrscheinlich ihrer Intelligenz nicht trauend, erhoben sich um Abschied zu nehmen; —— neue Besucher kamen an, wurden von Mr. Blyth herzlich empfangen und füllten die leer gewordenen Plätze. Mittlerweile murmelte durch all den Lärm der scheidenden und kommenden Freunde und durch das sehr starke Geräusch, des beharrlichen Doktors Stimme feierlich von capsular ligaments, adjacent tendons und corracuid processes zu Lady Brambledown, welche mit satirischer Kuriosität ihm zuhörte und sich freute, die Bekanntschaft dieses höflichen medizinischen Narren zu machen, dessen Geschwätz sie amüsierte.

Unter den Gästen, welche Valentin jetzt in seinem Gemäldesaal empfing, waren zwei, die er schon viel früher zu sehen erwartet hatte —— Mr. Marksman und Zack.

»Wie spät kommt Ihr!« sagte er, als er dem jungen Thorpe die Hand schüttelte.

»Ich wünschte, ich hätte früher kommen können, mein teurer Genosse«, erwiderte Zack etwas wichtig; »aber ich hatte erst einige Geschäfte abzumachen, (er hatte seine Uhr ans dem Pfandhaus geholt;) und mein Freund hier war ebenfalls beschäftigt (Mr. Marksman hatte Heringe zu einem frühen Diner geröstet). Deshalb konnten wir nicht eher hier sein. Mat, ich muss Euch bekannt machen. Dies ist mein alter Freund, Mr. Blyth, von dem ich Euch erzählt habe.«

Valentin hatte kaum Zeit, Mr. Marksmans dargereichte Hand zu fassen und ihm eine Höflichkeit zu sagen, als seine Aufmerksamkeit schon wieder von andern Besuchern in Anspruch genommen ward. Der junge Thorpe machte die Honneurs des Hauses und führte seinen neuen Freund in den Gemäldesaal. »Anteil des Volks, wie ich Euch sagte. Mein Freund ist ein großer Künstler«, flüsterte Zack und war voller Erwartung, ob die eigentümliche Szene zivilisierten Lebens, welche vor Mr. Marksman ausgebreitet lag, ihn bewegen würde, seine barbarischen Gewohnheiten aufzugeben.

Nein! Nicht im geringsten. Da stand Mat ebenso ernst, kalt und beobachtete ruhig Menschen und Dinge um sich her. Weder die Gemälde, noch die Gesellschaft, noch die vielen starren Augen, welche seine schwarze Gehirnschalenkappe und sein genarbtes dunkelbraunes Gesicht anblickten, waren fähig, die olympische Ruhe dieses Hinterwäldlers zu erschüttern.

»Schaut dort«, sagte Zack, indem er triumphierend auf den Columbus zeigte, »was denkt Ihr darüber? Könnt Ihr vermuten, was ein Gemälde ist, Mat?«

Mr. Marksman blickte aufmerksam und bedächtig nach der Figur des Columbus, auf das Schiff, betrachtete die Flügel der weiblichen Geister, welche hoch in den Morgenwolken schwebten ——- dachte ein klein wenig nach —— dann antwortete er mit ernster, tiefer Stimme:

»Peter Wilkins auf der Reise mit seinem fliegenden Weibe.«

Zack holte sein Taschentuch aus der Tasche und erstickte sein Gelächter, so gut er konnte.

Mat nahm nicht die geringste Notiz davon, blickte starr nach dem Gemälde und fügte hinzu:

»Peter Wilkins war das einzige Buch, was ich hatte, als ich am Bord des Schiffes war. Ich las es immer und immer wieder, sobald ich einige Minuten Zeit hatte und bekam es dadurch ganz ins Gedächtnis. Das war vor vielen Jahren; jetzt weiß ich nicht viel mehr davon. Aber ich glaube, Peter Wilkins war etwas von einem Matrosen.«

»Richtig!« wisperte Zack, ihm nachgebend in seinem Scherz; »gesetzt, er war es, was dann?«

»Denkst Du, ein Mann, der Matrose war, würde Tor genug sein und mit einer solchen Barke in See gehen? ——« fragte Mr. Marksman, indem er verächtlich auf Columbus Schiff zeigte.

»Still! Alter rauer Eisbär. Das Gemälde hat nichts zu tun mit Peter Wiikins«, sagte Zack.

»Haltet Euch ruhig und wartet hier eine Minute auf mich. Dort sind einige meiner Freunde am andern Ende des Zimmers, mit denen ich einige Worte wechseln muss. Und ich sage Euch, Mat, wenn Blyth kommt und fragt Euch über das Gemälde, so sagt, es ist Columbus und lobt es teuflisch. ——«

Mr. Marksman war sich jetzt allein überlassen, sah sich nach einem bessern Platze um, gewahrte einen vakanten Raum zwischen der Türpfoste und Mr. Blyths Bureau und retirierte dahin. Die Hände in die Tasche steckend, lehnte er sich an die Wand und überblickte jedes Ding im Saale mit seiner gewöhnlichen kalten Ruhe. Nicht lange verharrte er so, als er gestört wurde. Einer seiner Nachbarn bemerkte, dass er seinen Rücken gegen eine an die Wand genagelte Zeichnung lehne, und sagte ihm recht grob, dass er Beschädigung verursache, und nötigte ihn, den Platz zu verlassen. Er bewegte sich näher zur Türpfoste, aber auch da wurde er nicht in Ruhe gelassen. Ein frischer Zug neuer Gäste erschien und zwang ihn, den Weg frei zu machen und ins Zimmer zu treten, was er sehr bequem vollbrachte, indem er sich mit der Tür rund um den Pfosten in das Zimmer drehte.

Als er auf diese Art aus dem Wege verschwand, eilte Mr. Blyth geräuschvoll dahin und empfing die ankommenden Gäste mit großer Kordialität, aber mit einem Anflug von vollständiger Geistesverwirrung. Die Ursache war, dass Lady Brambledown, welche die Gewohnheit hatte, sich gerade um die Zeit zu erinnern, dass ihr etwas mangele, wenn es am meisten unbequem und unpässlich war, ihre Wünsche zu erfüllen, eben bemerkt hatte, dass sie Valentins Werke noch nicht durch eines jener artistischen Rohre gesehen habe, welche wirklich die Lichtstrahlen vor dem Gemälde konzentrieren. Sie wusste aus früherer Erfahrung, dass das Gemäldestudium mit einem jener Instrumente vollbracht wurde und so drückte nun Ihre Ladyship den feurigen Wunsch aus, es sogleich beim Columbus anwenden zu wollen. Valentin versprach in seiner gewöhnlichen Höflichkeit, das Rohr zu holen, hatte aber nicht die geringste Ahnung, wo es liege. Unter den verschiedenen kleinen Dingen, welche er aus dem Wege räumte, als er den Saal in Ordnung brachte, waren auch einige, die er ins Bureau getan hatte. So glaubte er auch das Rohr mit hineingelegt zu haben, denn er wusste durchaus nicht, an welchem andern Platze er es suchen sollte, wenn es daselbst nicht zu finden sei.

Nachdem er die neuen Besucher gebeten hatte, einzutreten, öffnete er das Bureau mit einem kleinen glänzenden Schlüssel, den er an der Uhrkette trug. Es war ein sehr großes, altmodisches Bureau, vollgestopft mit vielerlei Sachen, unter denen er mit angestrengter Aufmerksamkeit nach dem Rohre suchte. Aber alles Suchen war vergeblich, es fand sich nicht. Nach einer kleinen Pause öffnete er ein verborgenes Schubfach —— da lag das Haarbracelet von Madonnas Mutter auf dem weißen Taschentuch, das man aus der Tasche der toten Frau genommen hatte, jedoch das gesuchte Instrument war auch hier nicht zu finden. Just als er die Sachen wieder einkramte und das Bureau zuschließen wollte, hörte er zur rechten Hand Schritte und erblickte dann den höflichen Mr. Gimble, welcher sich erkundigte, was Mr. Blyth suche und ob er ihm behilflich sein könne. Valentin erwähnte den Verlust des Rohrs, sogleich erbot sich Mr. Gimble, eins aus Pappe zu machen. »Zehntausendmal Dank«, rief Mr. Blyth, als er seinen Bureauschlüssel wieder an die Uhrkette hing und sich mit seinem Freunde Lady Brambledown wieder näherte. »Zehntausendmal Dank, aber das schlimmste von Allem ist, dass ich gegenwärtig keinen Pappdeckel aufzufinden weiß.«

Hätte Valentin statt rechts zu Mr. Gimble sich links gewandt, so würde er bemerkt haben, dass Mr. Marksman sich eben wieder in den Saal gedreht hatte, als das Bureau geöffnet war, und dass Mat mit seinen scharfen Falkenaugen denen nichts entging, seitwärts in das Bureau blickte, als Mr. Blyth darin alles umkramte. Beim Weggehen dachte er nicht im geringsten daran, dass Zacks fremder Freund etwas davon gesehen haben möchte, so wenig als er ihn bemerkt hatte; er hing also sorgfältig den Schlüssel an den Ring seiner Uhrkette und ging.

»Er verschloss seinen Kasten ungewöhnlich heftig, als der kleine Lächelnde näher kam«, dachte Mr. Marksman. »Und doch schien nichts darin zu sein, was Fremde nicht sehen könnten. Geld war nicht darin, nicht die kleinste Kleinigkeit habe ich bemerkt. Nun ich muss noch einen Blick auf die Gemälde tun.«

Die wichtigsten Entdeckungen in der Kunst und im gewöhnlichen Leben und so viele große Begebenheiten sind zuweilen aus ganz unscheinbaren Veranlassungen, ja mitunter sogar aus unedlen Motiven und Vermittlungen hervorgegangen. Mat ist kläglich unwissend in der Malerei und zu ungebildet, um ein solches Sujet, wie den Columbus gehörig verstehen zu können, und unmöglich hätte er sich mit dieser Kunst-Mystik oder Mystischen Kunst und ihrem beschützenden Genius einverstanden erklären können. Und dennoch hatte ihn das Schicksal hierbei zu einer großen, wahrhaft stolzen Mission erwählt. In kurzen Worten —— Mr. Blyths größtes historisches Werk —— sein wundervoller Columbus —— war einige Zeit in Gefahr, von der Wand zu fallen und dadurch unstreitig stark verletzt zu werden. Und Mats Blick nach ihm war der hochwichtige Blick, der ihn befähigte, die erste Person im Saale zu sein, welche die große Gefahr des erhabenen Kunstwerkes bemerkte.

Das Auge, womit Mr. Marksman zuerst das Gemälde ansah, war sicherlich nur der unwissende Blick eines Barbaren, aber das Auge, womit er darauf die Stütze prüfte, an welcher es aufgehängt war, war der Blick eines Matrosen und Zimmermanns, welcher die Gefahr zu verhüten wusste. Er sah sogleich, dass eine der zwei Eisenklammern, durch welche der Rahmen des Columbus an der Wand befestigt war, ganz sorglos in einem Teile dieser Wand eingeschlagen war, der nicht hinreichende Festigkeit besaß, um der großen Schwere des Gemäldes widerstehen zu können. Kleine warnende Stückchen Gips waren schon heruntergefallen, aber niemand hörte es in dem allgemeinen Geplauder und niemand bemerkte die Spalte oberhalb der Klammer, welche sich von Minute zu Minute immer mehr vergrößerte.

»Lasst mich schnell durch, werdet Ihr?« sagte Mr. Marksman zu seinen Nachbarn. »Ich muss die fliegenden Frauen und den Mann im schwankenden Schiff stützen, dass sie nicht durch ihre lange Fahrt herunterfallen.«

Dutzende von lärmenden Ladys und Gentleman fuhren sogleich von ihren Stühlen empor. Mat drängte sich ohne Zeremonien und Komplimente hindurch, um noch rechtzeitig das Gemälde zu schützen. Ein großer Krach erschallte, Massen von Gips und Mörtel fielen zur Erde, und in den Augenblick, als Mr. Marksman dicht vors Gemälde trat, fiel auch die Klammer aus der Wand; seine starken Hände griffen sogleich nach der losgegangenen Seite des Rahmens und verhinderten dadurch den grässlichen Sturz des erhabenen Werkes, welcher natürlich einige Beschädigungen zur Folge gehabt haben würde, denn es wäre auf die davor stehenden Stühle gefallen.

Ein schreckliches Geräusch, großer Lärm von Stimmen und eine allgemeine Konfusion trat ein. Mr. Blyth war ganz außer sich vor Schreck, er tobte wild und überlaut, vermochte aber bei diesem Ereignis nicht die geringste nützliche Tätigkeit zu entfalten. Mat, kaltblütig wie immer, hielt ruhig und fest das Gemälde in seiner Hand, unbekümmert um das Geräusch und die konfusen Ratschläge, noch die lästigen Hilfsanerbieten beachtend. Er rief Zack, eine Leiter zu holen, fehle diese, so solle man einige Stühle hersetzen, um den Strick von der andern, noch befestigten Klammer abschneiden zu können. Der junge Thorpe wusste, dass beständig einige Staffeln im Malerzimmer gehalten wurden; wo aber mochten sie jetzt hingestellt worden sein? Mr. Blyths Gedächtnis war durch den Schreck ganz verschwunden, er wusste nicht zu reden, noch zu helfen. Zack machte einen Stoß gegen die blumige Draperie, welche das alte Hausgerät und den Plunder in einer Ecke verbergen mussten und entdeckte die Leiter, die er nun triumphierend Mr. Marksman überbrachte. »Recht so, junger Freund, greif jetzt rasch in meine linke Hosentasche, da steckt ein Messer«, sagte Mat. »Und dann schneide das Stückchen Seil durch und halte recht fest, während dem will ich es langsam zu Boden lassen. Festgehalten! —— Laß langsam los! ——« Mit diesen Worten ließ Mr. Marksman das große Kunstwerk allmählich auf den Fußboden gleiten und schüttelte dann den Kalk und Staub von seinem Rocke.

»Mein teuerster Herr! Sie haben mir das schönste Gemälde gerettet, das ich jemals gemalt habe«, rief Valentin, als er Mr. Marksmans Hände feurig schüttelte. »Ich kann nicht Worte genug finden, um Ihnen meine außerordentlich große Dankbarkeit und Bewunderung auszuspr ——«

»Quält Euch nicht damit«, antwortete Mr. Marksman, »ich verstehe sie nicht, wenn Ihr sie auch finden könnt. Wollt Ihr das Gemälde wieder aufgehängt haben, so will ich’s tun und auch die dabei nötige Zimmermannsarbeit verrichten«, fügte er hinzu, indem er gleich einem Handwerker von Profession die aufgerissene Wandspalte ärgerlich betrachtete.

Eine neue Bewegung an der Tür verhinderte Mr. Blyth, eine Antwort auf dieses freundliche Anerbieten zu geben.

Beim ersten Alarm der Gefahr hatten sich sämtliche Damen, in denen der Trieb der Selbsterhaltung stark entwickelt war, weit weg zur Tür hinaus geflüchtet, die verwitwete Countess voran; sie wagten im ersten Schrecken nicht zurückzublicken und sahen auch nicht, wie das Gemälde ruhig und unbeschädigt zur Erde gelassen wurde. Just als sich dies ereignete, erblickte Lady Brambledown —— welche sich in den Türweg geflüchtet —— das Erscheinen Madonnas. Mrs. Blyth, welche das starke Geräusch oben gehört und schon einigemal vergeblich nach der Bedienung geklingelt hatte, auch ihren noch nervöser gewordenen Vater nicht allein herunterzuschicken vermochte, hatte Madonna mit ihm herunter gesandt, um Aufklärung über den Vorfall im Studienzimmer zu erlangen.

Beim Herabsteigen mit ihrem alten Kompagnon dachte sie daran, wie sie es vermeiden könnte, gesehen zu werden, denn das war ihr sehr misslich, und doch musste sie einmal in den Saal blicken. Aber alle Vorsicht, dem Gottesurteil des Gemäldezimmers zu entkommen, war vergeblich, als Lady Brambledown sie erblickte. Die verwitwete Countess war eine der wärmsten Verehrerinnen Madonnas gewesen; jetzt nun drückte sie ihre Verehrung mit großer Zärtlichkeit und wahrhaft enthusiastisch aus. Auch dem andern großen Publikum war dies taubstumme Mädchen ein viel interessanteres Gesicht als »Columbus« und das »Goldene Zeitalter«; und Jedes versuchte mit vieler Zärtlichkeit, aber geringer Intelligenz ihr zu erklären, was sich im Saale ereignet habe, ohne dass sie diese Zeichen zu verstehen vermochte. Zum Glück für Madonna hatte sie Zack erblickt. Dieser war seit seiner Durchschneidung des Strickes am Gemälde von zahlreichen Gentleman wahrhaft inquisitorisch mit Fragen über Mr. Marksman bestürmt worden. Jetzt eilte er zu Madonna und gab ihr durch für sie verständliche Zeichen zu verstehen, in welcher großen Gefahr der »Columbus« geschwebt habe. Sogleich versuchte sie fort zu eilen, um Mrs. Blyth diese Nachricht zu bringen, aber Lady Brambledown konnte in ihrer Zärtlichkeit das junge Mädchen sobald noch nicht von sich lassen; sie trat ihr in den Weg und schickte den alten, nervös zitternden Kupferstecher hinauf, um seiner Tochter die Nachricht zu bringen.

Diese Bewegung war es, welche Mr. Blyth bewog, Zacks Freund zu verlassen um zu sehen, was vor der Tür vorging. Er erblickte Madonna, umringt von zahlreichen sympathisierenden und sie bewundernden Ladys. Die ersten erklärenden Worte, die er auf seine stummfragenden Blicke von Lady Brambledown vernahm, belehrten ihn, dass seine Frau den Lärm gehört habe und in großer Angst sei. Mit dem Versprechen, in ein paar Minuten wieder da zu sein, eilte er die Treppe hinauf.

Mr. Marksman folgte Valentin sorglos bis zum Torweg, —— sorglos blickte er über einige Ladys hinweg und sah —— Madonna gerade in dem Moment, als sie der Countess ihre Schiefertafel überreichte.

Dieses süße, liebliche, wundervoll schöne Gesicht mit den edlen, sanften Zügen der Güte, dieses liebevolle Engelsantlitz blickte mit unaussprechlicher Sanftmut auf die sie betrachtenden Personen und ward endlich bestürzt, als sie mit wahren Adleraugen fortwährend angestarrt wurde. Ihre Kleidung erhöhte den Zauber ihrer Anziehungskraft noch mächtiger und die liebenswürdige Unschuld und Bescheidenheit ihres ganzen Wesens war wirklich ganz unbeschreiblich. Diesem entsprach ihr einfaches graues Merinokleid mit einer vorgebundenen schwarz seidenen Schürze, den größten Kontrast gegen den sie umgebenden Luxus bildend.

Ward der raue Mr. Marksman selbst beim ersten Anblick von ihren himmlischen Reizen gefesselt? Musste auch er unwillkürlich den Zauber ihres Einflusses anerkennen? —— Höchst wahrscheinlich, denn seine Manieren und sein ganzes Wesen schienen sich sehr zu verändern.

Beinah in demselben Moment, als seine Augen sie erblickten, färbten sich seine narbigen, dunkelbraunen Wangen mit jener eiskalten erdfahlen Blässe, ganz so wie in Dibbledean bei der alten Johanna Grice. Der erste erstaunte Blick, den er auf sie warf, versenkte ihn allmählich in ein düsteres gedankenvolles Starren mit wahrhaft abergläubischer Furcht. Regungslos stand er da und schien kaum zu atmen; nur der Kopf einer vor ihm stehenden Person brachte ihn aus diesem düsteren Hinstarren, indem er ihn durch Zwischentreten am Sehen verhinderte. Er trat einige Schritte zurück, blickte dann äußerst wild über ihn hinweg, als hätte er ganz und gar vergessen, wo er sei. Dann rang sich ein tief schmerzlicher Seufzer aus seiner Brust hervor und flüsterte den Namen »Marie!« ähnlich, wie ihn des Tabakhändlers Frau gehört, als er in jenem schweren düsteren Schlafe lag. Plötzlich wandte er sich schnell zur Tür, als hätte er sich fest entschlossen, den Saal sogleich zu verlassen.

Aber es war ein unerklärlicher Zug in seinem Herzen, der ihn zwang ganz gegen seinen Willen umzukehren. Er ging wieder zurück zur Gruppe, welche Madonna umringte, schaute noch einmal in ihr himmlisch seliges Antlitz, scharrte ununterbrochen fort, verfolgte jede ihrer Bewegungen, bis sie verschwand und zur Treppe hinaufeilte. Denn als Mr. Blyth zurückkehrte, bat sie ihn, sie aus der Versammlung zu befreien, was Mat über des Malers Schulter sehen konnte. Der junge Thorpe bot ihr seine Dienste an, sie aus dem Saale zu führen, und nickte ihr freundlich zu, als sie das Zimmer verließ. Alles dies beobachtete Mr. Marksman, denn er stand dicht hinter Zack.



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Siebentes Kapitel - Das Auffinden eines Richtungspunktes

Als die anziehende Zentralsonne verschwunden war, zerstreuten sich auch Mr. Blyths Freunde im Saale umher und ein Teil derselben näherte sich der Ausgangstür. Nachdem Zack das Fräulein aus dem Zimmer geleitet, drehte er sich rasch und stieß sogleich wieder auf seinen alten finsteren Freund, welcher wieder regungslos dastand, während sich alle andern Personen um ihn her recht eilig hin und herbewegten.

»Ei, Mat, ist denn der Teufel in Euch gefahren? Seid Ihr krank? Habt Ihr Euch beim Gemäldeheben verletzt?« fragte Zack, erschrocken über den unbegreiflichen Wechsel, den er in Mr. Marksmans Gesicht und Manieren erblickte.

»Komm heraus«, sagte Mat. Der junge Thorpe war noch erstaunter, als er auch eine totale Veränderung seiner Stimme vernahm.

»Könnt Ihr noch zwei Minuten warten, alter Junge? Ich will nur zu Mrs. Blyth hinaufgehen und sagen, wie Ihr Euch befindet? Aber wenn Ihr wirklich außer Fassung seid und ——«

»Komm heraus«, wiederholte Mat, ergriff ihn heim Arm und zog ihn fast gewaltsam aus dem Zimmer.

»Was ist denn Unglückliches passiert?« fragte Zack. Keine Antwort. Sie gingen stillschweigend des Weges entlang zur Gartentür. Als sie auf einem einsamen Nebenweg der Vorstadt gelangten, stand Mr. Marksman plötzlich still, blickte seinen Gesellschafter scharf an und fragte:

»Wer ist sie?« Die plötzliche Heftigkeit, mit der er sprach, so ganz verschieden und befremdlich von seiner gewöhnlichen Sprechweise in Ton und Stimme, riefen einen wahren Schrecken in Zack hervor.

»Sie? —— Wen meint Ihr?« fragte der junge Thorpe, noch erstarrt über die drei schrecklichen Worte.

»Das junge Frauenzimmer, über das sie Alle starr waren.«

Einen Augenblick betrachtete Zack die sichtbare Angst in seines Freundes Antlitz mit einer gewissen Bestürzung, dann brach er in ein lautes und sehr langes Gelächter aus, das nicht enden zu wollen schien. »Oh, beim Jupiter, ich würde diesen Spaß nicht für fünfzig Pfund missen! Jetzt ist der alte raue Eisbär von einer zärtlichen Passion gefangen, gleich allen Übrigen. Schämt Euch, alter unverschämter Bettler, schämt Euch! Ihr habt Euch sogleich beim ersten Anblick in Madonna verliebt.«

»Der Teufel hole Dein Gelächter. Sage mir, wer sie ist.«

»Oh. Gott! er hat seinen Verstand verloren. Sagen wer sie ist, das kann ich durchaus nicht.«

»Warum nicht? —— Was meinst Du? Gehört sie dem Manne?«

»Oh, pfui, Mat! Ihr müsst nicht von einer jungen Lady so reden, als ob sie einem Manne wie ein Stück Möbel gehöre, oder wie ein Kapital zu drei Prozent. Verwirrt und erschreckt mich nicht, Mat! —— Ihr werdet mir wohl noch den Arm ausziehen!! Lasst mich los und ich will Euch alles sagen.«

»Erzähle! Aber schnell.«

»Wohlan, zuerst, sie ist nicht Blyths Tochter —— obgleich einige gern Skandale erzählende Leute erzählt haben, sie sei es.«

»Auch nicht sein Weib?«

»Auch nicht sein Weib. Welche Frage! Er adoptierte sie, wie man es nennt, schon vor vielen Jahren, als sie noch ein Kind war. Aber wer sie ist, oder wo er sie auffand, oder wie ihr wahrer Name heißt, das hat er noch niemandem erzählt und wird er auch niemandem erzählen. Sie ist die beste, liebevollste kleine Seele von der Welt, und das ist alles, was ich von ihr weiß. Ist’s nicht eine kurze Geschichte, alter Knabe? —— aber verteufelt romantisch —— ist’s nicht so?«

Mr. Marksman antwortete nicht sogleich. Atemlos horchte er auf die wenigen Worte, womit ihm Zack Aufschluss gab, wiederholte sie einige mal für sich selbst, versank in Nachdenken und sagte dann:

»Warum will er niemanden sagen, wer sie ist?«

»Wie soll ich’s wissen? —— Es ist eine Grille von ihm. Und ich will Euch was sagen, Mat, ich will Euch einen ernsten Rat geben. Wenn Ihr etwa hingehen wollt, um ihre Bekanntschaft machen, so fragt Blyth nicht, wer sie ist, oder lasst Euch nur gar nicht merken, dass Ihr’s wissen wollt. Er ist in diesem Punkte sehr empfindlich —— ich kann nicht sagen, warum —— Aber er ist es. Jedermann hat irgendwo eine wunde Stelle, und dies ist Blyths empfindliche Seite. Wenn Ihr sie irgendeinmal berührt, so dürft Ihr sein Haus gewiss nicht wieder betreten; das sage ich Euch.«

Still und ruhig hörte Mr. Marksman mit gespannter, wahrhaft gieriger Aufmerksamkeit auf jedes Wort —— er fixierte seine eigenen Augen streng auf seines Informators Gesicht —— dann wiederholte er still murmelnd für sich, was Zack ihm gesagt hatte.

»Nebenbei gesagt: Ich setze voraus, Ihr habt bemerkt, dass die arme, teure Seele taubstumm ist«, ergänzte Zack. »Sie ist es von Kindheit auf gewesen. Irgendein Unfall, ich glaube ein Sturz, verursachte es. Aber es hat ihren Geist nicht berührt. Sie ist heiter und glücklich, so lange der Tag graut —— und das ist ein großer Trost.«

»Arme Creatur! —— und dabei doch so liebenswürdig. Es war mir beinah schauerlich —— war es doch, als wäre der bleiche Tod wieder zum blühend schönen Leben erwacht! —— Sie hat ganz Maria’s Kopfbildung, —— armes Wesen! —— arme Kreatur! ——« Diese Worte rangen sich unter tief schmerzlichen Seufzern aus seiner Brust. Er drehte sich um, blickte auf die Erde, der Atem stockte ihm fast und eine unaussprechliche Seelenangst schien sein ganzes Wesen gewaltig erfasst zu haben.

»Oh, zum Henker! Lasst Euch nicht vom Schmerz übermannen«, rief Zack und begann Von Neuem zu lachen; dabei gab er seinem Freunde scherzhaft eine Ohrfeige. »Eure verzweiflungsvolle Liebe darf Euren Charakter nicht verändern, alter Knabe. Mut gefasst! Wir alle sind in sie verliebt; Ihr rudert in demselben Nachen mit Bullivant, Gimble und mir, Glück auf! Auch Ihr werdet behandelt werden, wie wir alle. Ich werde als großmütiger Rival gegen Euch handeln, Bruder Mat.« Hierbei nahm er eine stolze Haltung an. »Ich werde Euch den Vorteil meiner Erfahrung und meinen Rat gratis geben. Wie gedenkt Ihr Eure Liebeserklärung anzubringen? Habt Ihr Euch jemals um eine Indianerin beworben? Oh, Gott! Es wird mein Tod sein, wenn er hingeht und sie sentimental anblickt.« So spottete der leichtsinnige Zack weiter.

»Sie ist nicht sein Weib und nicht seine Tochter, er wird nicht sagen, wer sie ist und wo er sie aufgefunden hat.« Diese Worte flüsterte Mr. Marksman einige mal schnell für sich hin und wurde noch weit gedankenvoller als jemals. Er blickte weg von Thorpe und schien nicht ein einziges seiner Worte zu vernehmen. Sein Geist brütete über einer der Johanna Grice abgepressten Antwort in Dibbledean —— Maries Kind sei lebend zur Welt gekommen!

»Wacht auf, Mat! Ihr sollt den schönsten Erfolg mit der Lady haben und dann auch mit uns. Ich werde es unternehmen, Euch zum zivilisierten Liebhaber zu qualifizieren«, fuhr Zack in seinen unbarmherzigen Spöttereien weiter fort. »Erstens dürft Ihr niemals über eine leidenschaftliche Bewunderung in ehrfurchtsvoller Entfernung hinausgehen, das merkt Euch stets. Zweitens dürft Ihr nur in geschlossenen Zimmern verliebte Gesichter machen und durch die Augen etwas Unaussprechliches sagen. Drittens müsst Ihr dann so kühn werden und sie durch ein kleines Präsent zu gewinnen suchen. Dies haben schon viele vor Euch getan. Gimble versuchte es und Bullivant wollte es ebenfalls, aber Blyth verhinderte es. Und ich meine, ihr zu geben —— oh, beim Jupiter! Ich muss Euch noch eine andere wichtige Vorsicht anraten. Hier platzte er wieder in ein berstendes Gelächter aus, indem er sich an sein Zusammentreffen mit Mrs. Peckover in Blyths Hausflur erinnerte. Bedenkt, dass die Auswahl der Geschenke sehr groß ist, und dass Ihr ihr alles schenken dürft, mit Ausnahme eines einzigen Gegenstandes, und zwar —— eines Haarbracelets. Denkt also nicht daran, ihr ein solches zu geben. —— Hallo! Wie ist Euch? Was fehlt Euch? ——«

Zacks Gelächter brach plötzlich ab. Mat hatte schnell seinen Kopf erhoben und starrte ihm wieder ins Gesicht, aber diesmal mit einem durchdringenden scharfen Blicke, in dem argwöhnisches Erstaunen mit zweifelhafter Neugierde befremdend gemischt war.

»Ihr müsst wegen eines kleinen respektablen Scherzes nicht ärgerlich über mich werden. Seid Ihr erzürnt gegen mich?« fragte Zack. »Zum Henker damit! Ich habe nicht ein einziges Wort gesagt —— halt! Doch, ich habe es, aber ich meinte es nicht böse damit. Ihr blicktet mich mürrisch an, als ich sagte, Ihr solltet ihr kein Haarbracelet geben. Und ich wette fünf gegen eins, Ihr dachtet, ich triebe Spott, weil Ihr kein einziges Haar auf dem Kopfe habt, um es an irgendjemand verschenken zu können. Verhält sich’s nicht so? —— Ist es nicht so, alter Kumpan!? Ich bin nicht so ein elender Wicht, um über Euer Unglück zu spotten. Ich dachte wahrhaftig nicht an Euren Kopf, noch an das höllische Skalpieren, als ich jene scherzhaften Worte sprach. Wahrlich! ’s ist wahr —— es fuhr mir nur so unbedacht heraus. Mat! Blickt mich nicht so an, wie ein alter Wilder. Ich will Euch die Sache erzählen. Hört an! Ich selbst wollte ihr ein Haarbracelet von meinen und Blyths Haaren schenken. Aber ein altes mürrisches Weib, das sowohl Madonna (diesen Namen gaben wir ihr) als Mr. Blyth zu kennen scheint, fiel darüber ganz unerwartet bösartig über mich her. Sie erging sich in losem Geschwätz und sagte, ein Haarbracelet würde für Madonna Unglück bedeuten. Auch habe sie schon eins, jedoch wollte sie mir nicht gestatten, Blyth zu fragen, ob es wahr sei, und fügte noch hinzu, dass sie in schrecklichen Zorn gegen mich geraten würde, wenn ich mit ihm ein Wort darüber spräche. Sie schwatzte noch manches andre Zeug, was Euch nicht weiter interessieren wird. —— Nun habe ich genug gesagt —— habe ich nicht? —— Ich wollte Euch überzeugen, dass ich an gar nichts dachte, als ich die Worte so in Spaß heraus polterte. Kommt, gebt mir die Hand, alter Junge. Ihr werdet Euch nun nicht mehr hierdurch beleidigt fühlen können, da ich Euch die Sache erklärt habe.«

Mat reichte ihm langsam die Hand, aber gleich einem Manne, der im Dunkeln tappt. Er dachte aber an das das Haarbracelet betreffenden Brief, welchen er im Koffer der Johanna Grice gefunden hatte.

»Ein Haarbracelet?« sagte er gedankenlos.

»Seid nicht wunderlich!« rief Zack, indem er ihn auf die Schulter schlug.

»Ein Haarbracelet —— unglücklich für das junge Frauenzimmer —— und sie hat schon eins bekommen, ——« so wog er in schmerzlicher Betrachtung jedes leichte Wort ab, das Zack zu ihm gesprochen hatte. »Wie sieht es aus?« rief er laut, gegen Thorpe gewendet.

»Wie es aussieht? ——«

»Ein Haarbracelet.«

»Ungeachtet meiner Erklärung klebt er immer noch daran. Wie es aussieht? — Man flechtet das Haar rund, um das Armgelenk zu umfassen; beide Ende werden in Gold gefasst und dann zusammengeheftet. Was der Teufel habt Ihr denn schon wieder? —— Ich will Euch was sagen, Mat, ich habe für einen Mann in Eurer verliebten Situation jede Nachsicht —— aber wüsste ich nicht, wie Ihr den Morgen zugebracht habt, so würde ich Euch für betrunken halten.«

Sie waren schnell weiter gewandert, während Mr. Marksman fragte, wie ein Haarbracelet aussehe. Nachdem es ihm Zack beschrieben, stutzte er, —— blieb gedankenvoll stehen und wechselte die Gesichtsfarbe, dann öffnete er seine Lippen zum Sprechen, vermochte es aber nicht und verharrte in seinem Stillschweigen weiter. Thorpes Beschreibung hatte ihm einen Gegenstand wieder ins Gedächtnis gerufen, den er in Mr. Blyths Bureau gesehen und der Ähnlichkeit damit hatte. Die Wichtigkeit, welche diese Entdeckung in seinen Augen annahm, in Verbindung mit dem, was er bereits gehört hatte, lässt sich ermessen. Er war nämlich bei seinem wilden Leben ganz unbekannt damit geblieben, dass ein Haarbracelet in England einer der gewöhnlichsten Schmuckgegenstände weiblicher Toilette ist. ——

»Sind wir im Begriff, hier für immer stehen zu bleiben?« fragte Zack. »Oh, ermannt Euch! Während Ihr Euer mürrisches, finsteres Wesen wieder in sanfte Sentimentalität umwandelt, will ich zu Mrs. Blyth zurückgehen, um mit ihr ein wenig zu plaudern und für euch den Weg anzubahnen, alter Knabe.« Mit diesen Worten drehte er sich um und wanderte wieder in der Richtung nach Mr. Blyths Hause fort, sich schon über die vielen Scherze im Geiste freuend, die er dort mit seinen Freunden über Madonnas neueste Eroberung haben werde.

Mat versuchte ihn nicht daran zu hindern und sagte nicht ein Wort der Teilnahme. Er strich seine Hand ermüdet über die Augen, als ihn Zack verließ. »Ich bin nüchtern«, sagte er gedankenlos zu sich selbst. »Ich träume nicht, —— ich bin nicht wahnsinnig, obgleich mir‘s vorkommt, als wäre ich’s. Ich sah das junge Mädchen vor mir, wie ich jetzt die Häuser sehe. Und bei Gott, wenn sie Maries Geist gewesen wäre, sie konnte ihr nicht ähnlicher sehen.«

Er blieb stehen. Seine Hand fiel zur Seite herab, dann hielt er sich mechanisch an dem Geländer eines Hauses. Seine rauen verunstalteten Finger zitterten an den Eisenstangen, die er fortwährend festhielt. Verschwundene Erinnerungen längst vergangener Zeiten tauchten wieder in seinem Geiste empor, Erinnerungen, welche Jahre lang geschlummert hatten, erwachten in schauerlicher Gestalt und begannen mit ihm zu leben und ihn überall hinzubegleiten. Aus der dunklen Vergessenheit und langen Abwesenheit —— aus dem kalten düsteren Grabe trat jetzt eine lebendige Gestalt feierlich in sein Gedächtnis; —— es erschien ihm in jugendlicher Gestalt ein lieblich schönes Frauenbild, —— ach! es war die tote Marie ——

Und das Antlitz der toten Marie, o Wunder war ja nur das Antlitz jenes armen jungen Mädchens, es waren die seinen, lieblich zarten Gesichtszüge der unglücklichen taubstummen Kreatur! ——

Er versuchte sich von diesen schauerlichen Einflüssen, welche in ihm lebten und wirkten, zu befreien. Er machte einige Schritte vorwärts, blickte sich um —— »Zack!« —— Wo aber war Zack?

Weit weg war er, kaum noch am Ende der einsamen Vorstadtstraße sichtbar, schwang er seinen Stock und schlenderte weiter.

Ohne zu wissen, was er tat, drehte sich Mat augenblicklich um, wankte ihm nach und versuchte ihn wieder zurückzurufen. Der dritte Ruf erreichte ihn: er hielt an, schwankte unentschlossen, machte einige komische Gestikulation mit seinem Stocke in der Luft und begann dann seine Schritte wieder zurückzulenken. Die Wirkung des Gehens und Rufens brachte Mats Gedanken wieder in andere Richtung. Jetzt beschäftigten ihn die von Zack gegebenen Winke über die unbegreifliche Verbindung zwischen einem vermuteten Haarbracelet und dem jungen Fräulein, das man Madonna nannte. Mit dieser Erwägung kam ihm auch die Erinnerung an jenen Brief über ein Bracelet und die in demselben eingeschlossenen Haare wieder ins Gedächtnis zurück, an jenen Brief, den er unter dem allein stehenden Viehschuppen bei Dibbledean gelesen und wieder in den kleinen Koffer gelegt hatte, der auf der Außenseite den Namen »Marie Grice« trug und den er nun in seiner Wohnung hatte.

»Holla! Da bin ich!« rief Zack, als er wieder ankam. »Hallo! Alter Cupido, was wünscht Ihr von mir? ——«

Mr. Marksman antwortete nicht sogleich. Seine Gedanken waren noch mit demselben Gegenstande beschäftigt, um alles vorsichtig zu ergründen. Er dachte noch an den kleinen Zirkel geflochtener Haare mit Goldeinfassung, der groß genug gewesen war, einen weiblichen Arm zu umfassen, und den er in der Schublade von Mr. Blyths Burean gesehen hatte! Er glich ganz dem von Zack beschriebenen Gegenstand. Bracelet genannt, und so kam er nach und nach immer mehr zu der Überzeugung, dass dies auch ein Haarbracelet sein müsse.

»Nun Mat, lasst uns hier nicht warten«, fügte Zack lachend hinzu, als er näher kam; »Hand aufs Herz, und gebt mir Eure zärtliche Botschaft an die zukünftige Mrs. Marksman.«

Die Geschwätzigkeit des jungen Thorpe schien auch Mat zur Mitteilsamkeit zu stimmen und dessen Zunge zu lösen. Er begann über das zu reden, was er in Mr. Blyths Bureau gesehen, —— endigte aber sogleich wieder, als einige Worte über seine Lippen gekommen waren. Jedoch verloren seine Augen in diesem Moment den gedankenlosen verwirrten Blick und glänzten wieder mit Intelligenz, List und wachsamer Beobachtungskraft.

»Wie heißt der wahre Name des jungen Frauenzimmers?« frug er sorgenvoll, just als Zack ihn eben zum dritten Mal verspotten wollte.

»Ist das alles, weshalb Ihr mich zurückgerufen habt? Der Teufel hole Eure verliebte Unverschämtheit. —— Wie ihr wirklicher Name heißt? —— Ihr wirklicher Name ist Marie. ——«

Mat hatte diese inquirierende Frage mit dem Aussehen eines Mannes gesprochen, dessen Gedanken weit weg von seinen Worten sind, und der nur spricht, weil er das Bedürfnis fühlt, etwas zu sagen. Zacks Antwort verursachte ihm aber den heftigsten Schrecken und versetzte ihn in die ängstlichste Spannung.

»Marie!« wiederholte er im Tone größter Bestürzung. Dann fügte er schnell hinzu:

»Wie sonst noch, außer Marie? ——«

»Wie soll ich’s wissen? Habe ich nicht vor einer halben Stunde versucht, es in Euren alten Kopf zu bringen, dass Blyth zu niemandem auch nur irgendein Wort über sie sagt?«

Mat wendete sich ein klein wenig zur Seite.

Die Geheimhaltung in welche Mr. Blyth Madonnas Vergangenheit hüllt, und der besondere Platz in der geheimsten Schublade des Bureaus, wo das Haarbracelet lag, begannen sich unbestimmbar miteinander zu verwischen. Ein sonderbares Lächeln umschwebte seine Lippen und aus seinen Augen glänzte die Schlauheit recht listig hervor.

»Der Maler wird nicht das Geringste über sie aussagen, ganz gewiss nicht! Vielleicht wird es das Ding in seiner Schublade.« Diese Worte murmelte er für sich hin, steckte die Hände in die Tasche und stieß mechanisch einen Stein aus dem Wege, der vor seinen Füßen lag.

»Was murmelt Ihr denn noch darüber«, fragte Zack. »Glaubt Ihr, ich soll hier ewig stehen und das Vergnügen haben, Eure Selbstgespräche mit anzuhören? —— Wenn Ihr mich wieder einmal ruft, so könnt Ihr lange Zeit rufen, bevor Ihr mich wieder zurückbekommt, alter Knabe. Mit diesen Worten schlug er seinen Freund recht lebhaft auf die Schulter und lief in der Richtung nach Mr. Blyths Hause davon.

»Es war ein Haarbracelet. Ich weiß es nun, ganz wie Zack sagte, es war ein Haarbracelet,« diese Worte murmelte er für sich hin, die Hände in die Taschen gesteckt und mit dem Fuße wegstoßend, als läge ein Stein im Wege.

»Ich will sehen, ob ich nicht mit Mr. Blyth einen Spaß über Euch haben kann!« dachte der junge Thorpe, als er einen Augenblick stehen blieb, um zu sehen, ob Mat nach Hause ging oder nicht.

»Ich werde sehen, ob ich nicht einen andern Blick auf Deines Freundes Haarbracelet tun kann«, dachte Mr. Marksman, nickte über die Schulter nach Zack und eilte dann in der Richtung nach Kirt Street schnell fort.



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Achtes Kapitel - Der Koffer mit Briefen

Als Mr. Marksman in seiner Wohnung ankam, war es seine erste Beschäftigung, die Pfeife zu füllen und anzuzünden. Dann setzte er sich auf seine Kalmuckröcke, zog den aus Dibbledean mitgebrachten Koffer dicht vor sich und fiel sogleich in ein langes, tiefes Nachdenken. Obgleich die Maschinerie von Mats Gemüt aus rohem barbarischen Material konstruiert war, und obgleich es weder Bücherstudium noch die Lehren weiser Männer beseelt und zur Tätigkeit angefeuert hatten, so trieb es ihn dennoch zu fortwährender Aktivität; er musste stets Beschäftigung haben, einmal in düsterer melancholischer Stimmung, ein andermal wild und schlau, oftmals alles radikal umkehrend und in ein Chaos werfend, aber dennoch stets zu einem praktischen Resultat zurückkehrend. Die Wüsten und Gefahren sind strenge Schulmeister für gute und böse Menschen, die Felsen und Wüsten des großen amerikanischen Kontinents waren es demnach auch für Mr. Marksman gewesen.

Manche Pfeife hatte er geleert und wieder gefüllt, manch düsterer Gedanke war über sein finsteres Antlitz gezogen, als er lang und mühsam jedes der Worte erwog, die er mit Zack gewechselt hatte. Aber dennoch konnte man hiervon nicht fünf Minuten im wahren Sinne des Worts als Zeitverschwendung betrachten. Er hatte sich bei seiner ersten Pfeife mit dem Entschluss niedergesetzt, um, soweit es einem Menschen möglich ist, zu erforschen, wie das junge Mädchen, das er in Mr. Blyths Hause gesehen, dorthin gekommen und wer sie eigentlich sei. Als er sich endlich erhob und die Pfeife in die Ecke stellte, hatte er alles vom Anfang bis zum Ende durchdacht, seine Entschlüsse gefasst und seinen Plan für die Zukunft festgestellt.

Sein langes Sinnen und Denken hatte ihn in dem Entschluss bestärkt, seinem ersten Antriebe zu folgen und das vor keinem Menschen aufgeklärte Dunkel über den Ursprung der Adoptivtochter Mr. Blyths dadurch zu lichten, dass er in den Besitz des Haarbracelets komme, welches er in der geheimen Schublade des Bureaus gesehen hatte. Hierfür fand er einen hinreichenden Grund sowohl in Bezug auf das Haarbracelet zu Madonna als durch Zacks Winke hinsichtlich der befremdenden Worte, welche Mrs. Peckover in Mr. Blyths Halle gesprochen hatte; und das Resultat dieser Winke ward noch bestärkt durch die Erinnerung an jenen Brief, Johanna Holdsworth unterzeichnet, den er unter dem Viehschuppen bei Dibbledean gelesen und worin von eingeschlossenen Haaren die Rede war.

Diesem Brief zufolge war ein Haararmband das Eigentum der Marie Grice gewesen, welches, wenn es noch existierte, leicht an den im Briefe eingeschlossenen Haaren erkennbar sein würde. Und nach Zacks Äußerungen lag augenscheinlich ein Vorfall, ein unbegreifliches Misstrauen in Verbindung mit einem Haarbracelet und dem jungen Fräulein, dessen außerordentliche Ähnlichkeit mit Marie Grice in ihrer Jugendzeit ihn zu einem Plan angespornt hatte, den er jetzt verfolgen wollte. Endlich, in Übereinstimmung zu dem was er selbst wusste, lag wirklich ein Haarbracelet in der geheimsten Schublade von Mr. Blyths Bureau. Dieses letzte Fragment der Beweise zu den andern gerechnet, war für ihn von außerordentlich großer Wichtigkeit. So unbestimmt dies alles auch noch sein mochte, die Übereinstimmung in einigen Punkten war hinreichend, ihn mit der größten Neugierde und Spannung zu erfüllen und zu einem wahrhaft desperaten Unternehmen anzutreiben. Wie er, ohne Mr. Blyths Wissen und ohne in der Familie des Malers den leisesten Verdacht zu erregen, in den Besitz des Haarbracelets gelangen wollte, hatte er noch nicht bestimmt. Aber fest entschlossen war er, es zu erlangen, und in der Wahl seiner Mittel war er durchaus nicht skrupulös —— Auch fühlte er schon zuversichtlich, dass er den ersehnten Gegenstand erlangen werde. Wie und wodurch das Objekt ihm zugeführt werden sollte, darüber machte er sich nicht die geringste Sorge. Das furchterregende Antlitz aus der Jugendblüte jener toten Frau, das durch die lebende Kopie wieder in seinem Gedächtnis erstanden war, schien ihn rastlos in unbekannte Finsternis zu treiben, um daraus endlich Licht zu bekommen. Dieser in ihm arbeitende Einfluss trieb ihn unwillkürlich zur Tat.

Sein Entschluss hinsichtlich des Haarbracelets stand eben so fest als der, seine Gefühle gegen Madonna zu unterdrücken; dem jungen Thorpe, als seinem warmen Freunde, durfte er wohl trauen. Jedes von Zack fallengelassene Wort war für ihn von hoher Wichtigkeit hierin, und jedes fernere Wort, das er noch aus ihm herauslocken konnte, war von gleich großer Bedeutung für sein zukünftiges Unternehmen.

»Er bildet sich ein, ich sei in das Mädchen sehr verliebt, und macht seinen Scherz darüber, ——« sagte Mr. Marksman für sich; »—— mag er‘s denken. Je mehr er darüber denkt, desto mehr wird er sagen. Alles was ich tun muss, ist zurückhaltend und schweigsam zu sein. Wenn ich an mich halte, wird er sich umso sicherer auslassen.«

Während er sich über sein künftiges Benehmen gegen Zack schulte, dachte er auch an eine Person, welche zwar nicht nahe bei der Hand, aber sicher befähigt war, ihm näheren Aufschluss zu geben. Bevor er sich ganz entschieden zu einer Handlung entschloss, debattierte er erst mit sich selbst, ob er wohl nicht das Eigentum wieder nach Dibbledean besorgen und von der alten Johanna Grice ausführlichere Auskunft, als sie ihm gegeben hatte, erforschen sollte.

Nach einigem Nachdenken gab er aber dieses Vorhaben wieder auf und wollte diese Hilfsquelle zu seiner Untersuchung erst später benutzen, wenn ihm das Experiment mit dem Armbande missglückt sei oder ihm doch nicht den vollständigen Erfolg gewährt habe. —— Für jetzt brauchte er nur einen vergleichenden Blick auf das Haar im Bracelet und auf das Überflüssige zu tun, welches der Juwelier nicht gebraucht und welches ihre Freundin ihr im Briefe wieder zurückgesandt hatte. Dies würde vorläufig hinreichende Aufklärung gewähren und das geheimnisvolle Dunkel aufhellen.

Dies war das Hauptresultat, auf das er nach langer, schwerfällig hin und her schwankender Überlegung gekommen war; denn schwer und mühsam ging sein Denkprozess vonstatten. Sein nächstes Geschäft war nun, die vielen Briefe zu lesen, die er in dem von Dibbledean mitgebrachten Koffer vorfand und bisher noch nicht geöffnet hatte. Denn er besaß hierdurch auch die in dem an Marie Grice gerichteten Briefe eingeschlossenen Haare, welche er nun für zunächst eintretende Ereignisse bereit hielt und womit er einen Vergleich an Mr. Blyths Bracelet anstellen wollte.

Bevor er an das Öffnen ging, machte er erst einige schnelle Gänge in seinem kleinen Zimmer ungeduldig auf und ab.

Nicht ein einziges Mal, seitdem er seine Rückreise in sein Vaterland angetreten hatte, um wieder in zivilisierte Gesellschaft zu kommen, von der er vor mehr als zwanzig Jahren ausgestoßen ward, hatte er nach seiner Ausdrucksweise so gefühlt, dass er sein eigener Herr wieder geworden sei, als eben jetzt. Ein Anklang jener alten, atemlosen, wilden Unschlüssigkeit aus den Tagen der tödlichen Gefahren durchzog wieder sein Gemüt, als er an das verbotene Geheimnis dachte, in das er eben eindringen und für dessen Entdeckung er jede Gefahr wagen und jedes Mittel gebrauchen wollte. »Es geht mir durch und durch, gleich wie im Kampfe ums Leben unter den blutgierigen Indianern«, murmelte Mat für sich hin, als er in seinem Käfige von Zimmer rastlos hin und her trabte und die Narben seines Gesichts rieb. Dies war seine Gewohnheit, wenn ein anderer Beweggrund die Oberhand über ihn gewann.

In demselben Augenblicke, als diese Stimmung Mr. Marksmams Gemüt bedeutungsvoll durchzog, erklärte Mr. Blyth abermals vor einem neuen Zuschauerkreise seiner Bewunderer die Kunstmystik und deren Sujets, wovon sein Columbus das malerisch exemplifizierte Beispiel sei. —— Während dem war seine Frau im oberen Zimmer bemüht, der Madonna Zacks wilde Späße über seines Freundes Liebesfesseln zu erklären. Und alle drei mussten über eine schnell gezeichnete Karikatur laut auflachen, welche maliziöserweise den armen alten Mat als skalpierten, kahlköpfigen Cupido der Hinterwälder darstellte.

Jede Gesellschaftssphäre im menschlichen Leben hat gleich dem Globus Antipodenpunkte; glänzt auf einem Teile der kleinen Miniaturwelt heiterer Sonnenschein, so herrscht in demselben Augenblick auf der entgegengesetzten schwarze Finsternis.

Mr. Marksmans Gesicht war plötzlich viel schwärzer geworden als je, während er im Zimmer auf und ab ging und die oben verzeichneten Worte sprach. Aber in einigen Minuten änderte es sich wieder zu jener eiskalten, erdfahlen Masse, die es in Dibbledean annahm; er ließ sich nun auf seine Kalmuckröcke nieder und begann die an Marie Grice gerichteten Briefe aus dem Koffer zu nehmen und zu eröffnen.

Zuerst nahm er den Brief mit den eingeschlossenen Haaren heraus und steckte ihn sorgfältig in die Brusttasche seines Rocks. Dann suchte er einige Augenblicke den überschriebenen und unterzeichneten Brief von Johanna Grice und breitete ihn neben sich auf dem Fußboden aus. Hierauf pausierte er einen Moment, blickte dann mit einer kuriosen mürrischer Traurigkeit in den Koffer, während seine Hand gedankenlos darin herumstöberte und die verschiedenen Gegenstände umherwarf, als da waren: Blumenblätter, ein Halsband, ein schön gebundenes Album und verschiedene andere weibliche Gegenstände, welche ehemals Marie Grice besaß.

Darauf begann er sämtliche Briefe im Koffer zu sammeln, —— einige lagen zerstreut umher und andere waren in ein Paket gebunden, —— dann breitete er sie vor seinen Knien aus, nahm sodann die Schlippe eines Kalmuckrockes auf seine Beine und legte die Briefe konventionell darauf. Jetzt begann er die Adressen zu lesen; sie waren alle in derselben akkuraten, klaren, scharf geformten Handschrift geschrieben und an »Marie Grice« gerichtet. Fast sämtliche Billetts enthielten kaum vier oder fünf Zeilen. Wenigstens fünfzehn bis zwanzig Briefe waren, mit wenigen Veränderungen, etwa in folgender Form abgefasst:

Meine teuerste Marie!

Ich bitte Dich, alles zu versuchen, um morgen Abend an dem bestimmten Platze mit mir zusammen zu treffen. Ich habe mich dieser Tage sehr nach Dir gesehnt, aber vergebens. O, meine Geliebte, wenn Du meiner so gedenkst, wie ich stets an Dich denke, so wirst Du gewiss erscheinen.

Ewig und einzig nur Dein

A. C.

Alle diese Briefchen waren in demselben Stile geschrieben, einige mit Initialbuchstaben. Sie enthielten kein Datum, sondern nur den Wochentag, an dem sie geschrieben. Auch befanden sich keine Poststempel darauf, mussten also durch Privathände befördert worden sein. Mat öffnete einen Brief nach dem andern, blickte hinein und warf ihn dann zur Seite. Dies Geschäft besorgte er ruhig und gleichsam methodisch; doch zuweilen strahlte ein befremdender Blick aus seinen Augen, der denselben einen melancholischen, meist wilden Glanz verlieh und wodurch sein ganzer Gesichtsausdruck ein wesentlich anderes Aussehen erhielt.

Andere, wenn auch etwas längere Briefe, erfuhren eine gleiche Behandlung von seiner Hand. Aus einigen fielen trockne Blätter, als er sie zur Seite warf, und aus andern kleine in Wasserfarben ausgeführte Bilder seltener Blumen. Schwierige botanische Namen, die er nicht buchstabieren, und Beschreibungen von Pflanzen, welche er nicht verstehen konnte, begegneten ihm hier und da in verschiedenen Briefen. Aber alle, ob lang oder kurz, trugen keine andere Unterschrift als die Initialen »A. C.« und in keinem einzigen war Jahr, Datum oder der Ort, an dem sie geschrieben waren, angegeben. Und dennoch warf Mr. Marksman sie alle ruhig und still zur Seite, ohne ein Wort zu sagen, nur jener düstere, blitzende Glanz erschien zuweilen in seinen Augen. Unter der sehr großen Zahl der Briefe waren es nur zwei, welche er mehr als einmal durchlas und dann unruhig darüber nachgrübelte, bevor er sie zu den andern warf.

Der eine lautete:

»Ich werde diesen Abend die getrockneten Farnkräuter und die Passionsblume für Dein Album mitbringen. Du kannst Dir nicht einbilden, meine Teuerste, wie glücklich und wie stolz ich darauf bin, Dich zu einem enthusiastischen Botaniker, wie ich bin, gemacht zu haben. Seitdem Du ein Interesse an meinem Lieblingsstudium genommen hast, ist mir das Leben so höchst schätzenswert, wie es Worte nicht zu sagen vermögen. Ich glaube, dass ich niemals wirklich wusste, wie man zarte Blätter zärtlich berührt, als eben jetzt, wenn ich sie mit dem süßen Gefühl sammle, dass sie Dir alle gezeigt und alle in Deiner Hand platziert werden.

Weißt Du, meine einzige Liebe, dass ich gestern Abend eine Alteration an Dir zu erblicken glaubte. Niemals sah ich Dich so ernsthaft. Deine Aufmerksamkeit schweifte oft irre umher und außerdem blicktest Du mich einige mal sehr befremdend an, Marie —— ich meine befremdend, weil Deine Gesichtsfarbe, wie es schien, durch einen inneren Beweggrund wechselte. Als ich nach Hause ging, bildete ich mir wirklich ein —— und ich glaube es noch —— dass Du mir etwas zu sagen hattest und es nicht wagtest. Sicherlich, meine Liebe, Du kannst kein Geheimnis vor mir haben! —— Aber wir werden uns diesen Abend treffen und dann wirst Du mir alles sagen (wirst Du nicht?) ohne Reserve. Leb wohl, meine Teuerste, bis sieben Uhr.«

Mat las den unteren Satz des Briefes zweimal langsam durch, flocht dann das Papier zwischen die Finger und strich seinen stachligen Bart damit. In den wenigen Zeilen lag ganz sicher etwas verborgen, worüber er grübelte und was ihn halb traurig und halb verwirrt machte. Was hierin auch verborgen sein mochte, er gab seine Nachforschungen auf und wendete sich mürrisch zu dem andern Briefe, welcher den übrigen gegenüber eine Ausnahme bildete, indem er eine Postmarke trug. Dies übersah er ganz, aber beim Lesen des Inhalts fand er, dass er ganz anders datiert war als die vorigen. Unter dem Wochentage befand sich das Wort: London —— diesen Brief las er mit anscheinender Angst und Bangigkeit. Sein Inhalt war folgender:

»Ich schreibe, meine teuerste Geliebte, in der größten Aufregung und Verzweiflung. Alle meine Hoffnungen, welche ich fühlte und zu Dir aussprach, dass meine Abwesenheit nicht länger als einige Tage dauern, und dass ich nicht genötigt sein würde, weiter zu reisen, als von Dibbledean nach London, sind vereitelt worden. Ich bin absolut gezwungen, nach Deutschland zu reisen, und werde wahrscheinlich drei oder vier Monate abwesend sein. Du siehst, ich sage Dir das Schlimmste von Allem, Marie, weil ich Deinen hohen Geist und Deinen Mut kenne, und fühle zuversichtlich, dass Du diese unvorhergesehene Trennung standhaft ertragen wirst. Ich bin sehr erfreut, dass ich Dir mein Haar zu Deinem Bracelet gegeben und das Deinige dafür empfangen habe. Es wird für uns beide ein Trost sein, wenn wir auf unsere Erinnerungszeichen blicken.

Wenn es nur von mir abhinge, zu gehen oder nicht, so würde mich keine irdische Gewalt zu dieser Reise zwingen. Aber die Rechte und Interessen anderer sind betroffen und erfordern meine Abreise; ich muss daher gehen auf Kosten meiner Wünsche und gegen meine eigene Glückseligkeit. Noch an diesem Tage reise ich und kann mir einige Minuten stehlen, um an Dich zu schreiben. Meine Feder fliegt eilig über das Papier, ohne auch nur einen Augenblick zu stocken —— ich hoffe, meine Handschrift ist leserlich; aber ich bin so aufgeregt, dass ich kaum weiß, was ich an Dich schreibe.

Wenn irgendetwas, teuerste Marie, das Gefühl meines Unglückes, Dich verlassen zu müssen, vermehren könnte, so war es die Vermutung, Dich ohne mein Wissen beleidigt zu haben, oder dass sich etwas ereignet hat, was Du mir nicht zu sagen beliebst. Seit ich vor zehn Tagen die Gemütsveränderung an Dir bemerkte, lebte ich stets in der ängstlichen Besorgnis, Du hättest etwas auf dem Herzen, was Du mir nicht anvertrauen wolltest. In der letzten Zeit schien es mir sogar, als hättest Du geweint, und wenn uns unsere Augen begegneten, blicktest Du unruhig seitwärts. Was war die Ursache? Beruhige meine Angst und sage mir in dem ersten Briefe, was sich ereignet hat. Sobald ich jenseits des Canals angekommen bin, werde ich Dir sogleich wieder einen Brief senden. Ich werde Dir öfters schreiben und bitte Dich ebenfalls darum. Liebe mich und behalte mich stets in der Erinnerung, bis ich wieder zurückkehre und, ich hoffe es, Dich nie wieder verlassen werde. ——

A. C.«

Über diesen Brief dachte Mat lange nach, bevor er ihn zu den übrigen warf. Nachdem er ihn weggeschleudert hatte, blieben ihm nur noch drei Billetts, welche aber vor dem letzten geschrieben waren, zu lesen übrig. Als er hastig hineinblickt, suchte er lange im Koffer, fand aber keine Briefe mehr. Der eilig geschriebene mit der plötzlichen Anzeige der Abreise von England war der letzte in der Reihenfolge.

Nachdem er diese Entdeckung gemacht hatte, saß er eine Zeit lang regungslos und starrte gedankenlos zum Fenster hinaus. Das Gefühl eines nutzlosen Resultats nach langem Suchen schien seine Energie halb gelähmt zu haben. Er blickte einige Mal auf das Schreiben der Johanna Grice und las mechanisch die Überschrift: »Rechtfertigung meines Benehmens gegen meine Nichte«; er versuchte aber nicht, den Inhalt kennen zu lernen. Nur nach langem Zaudern und Zögern ermutigte er sich selbst mit den Worten: »Ich muss dies alles noch lesen und dann den Kram aus dem Wege räumen, bevor Zack kommt.« Er nahm den Haufen Briefe vor seinen Füßen und warf ihn mit einem Fluche in den Koffer.

Nachdem er ihn verschlossen hatte und den Strick darum binden wollte, horchte er aufmerksam, ob etwa sein junger wilder Freund kommen werde. Wie kurze Zeit er auch mit Zack verkehrt hatte, so kannte er ihn doch durch und durch, sowohl hinsichtlich seiner guten als bösen Eigenschaften. Er ahnte, dass sein sorglos wilder Stubengenosse sich sogleich als Feind benehmen und ihn ohne Zaudern verlassen würde, sobald er nur einen Wink von seinem Plane bekäme, Mr. Blyths ängstlich gehütetes Geheimnis unter der Hand und nötigenfalls sogar durch verräterische Mittel erforschen zu wollen. Mats Schlauheit hatte sich schon bei mehreren kritischen Ereignissen als eine unfehlbare Hilfsquelle bewiesen; jetzt lehrte sie ihm Vorsicht gegen Zack, um nicht von ihm verraten zu werden.

Für den Augenblick schien die Gefahr einer Störung nicht vorhanden zu sein. Er stellte den Koffer gemächlich an den gewöhnlichen Platz, nahm die Branntweinflasche vom Tische und öffnete Johanna Grices Schreiben —— er horchte —— es war still, man hörte nicht, dass irgendeine Person die Haustür öffnete. Bevor er zu lesen begann, trank er erst etwas Spiritus aus der Flasche. Überkam ihn eine unerklärliche Angst und Furcht schon beim bloßen Anblick des Schreibens, ohne auch nur dessen Inhalt zu kennen? Es schien dies wirklich der Fall zu sein. Seine Finger zitterten, wenn er damit auf den Zeilen des sehr eng bekritzelten Schreibens hinfuhr, das er eben entziffern wollte; er nahm noch einen zweiten Schluck, um sie zur Ruhe zu bringen. Und als er endlich anhaltend zu entziffern begann, las er einige Zeilen langsam, andere schnell und viele übersprang er; manche las er laut, etliche überblickte er nur flüchtig und wendete sich dann zu andern Sätzen der langen Erzählung; —— jetzt grunzte er ärgerliche Bemerkungen über das Gelehrte, dann schlug er das Schreiben ungeduldig auf die Knie, mit wilden Ausbrüchen von Flüchen und Schwüren, welche er sich in der schrecklichen Fluch- und Schwurschule der kalifornischen Goldminen angewöhnt hatte.

Endlich begann er vollkommen regelmäßig oben zu lesen an; er setzte sich näher vors Fenster, breitete das Schreiben vor sich aus, um es nun beim spärlich einfallenden Nachmittagslicht entziffern zu können.



Kapiteltrenner

Neuntes Kapitel - Die Erzählung der Johanna Grice

»Ich wünsche, dass dies Schreiben erst nach meinem Tode gelesen werden mag, und nenne es absichtlich eine Rechtfertigung meines Benehmens gegen meine Nichte. Nicht weil ich dachte, mein Benehmen bedürfte irgendeiner Entschuldigung, —— ausgenommen über einen Punkt, ist mein Gewissen in der Hauptsache ruhig; —— sondern weil andere, unbekannt mit meinen wahren Motiven, denken möchten, meine Handlungen bedürften der Rechtfertigung, und mich gottlos verdammen würden, wenn sie nicht folgende Tatsachen zu meiner Verteidigung erführen. Sollte irgend noch ein Mitglied von meines seligen Bruders Familie leben, so bin ich überzeugt, die Stimme desselben wird sich gegen meine Tat erheben. Ich muss daher sehr wünschen, dass, wenn diese Person noch am Leben, sie einst auch befähigt sein möchte, aufmerksam zu lesen, was ich hier geschrieben habe. Denn es ist sowohl an die heftigen maliziösen Ankläger gerichtet, als an die bedächtigen unparteiischen Untersucher. Die Verwandtschaft, zu der ich —«

Hier wurde Mat, der bis dahin aufmerksam gelesen hatte, sehr ungeduldig und heftig, stieß ein paar ärgerliche Worte heraus und fuhr mit dem Finger einige Zeilen weiter herunter und kam zu folgender Stelle:

»Es war im April 1827, als der Schurke, welcher der Ruin meiner Nichte und der Ehre unserer Familie ward, zuerst nach Dibbledean kam. Er mietete das kleine, vier Zimmer enthaltende Häuschen, genannt Jays Cottage, welches eine Viertelmeile außerhalb der Stadt lag und schön ausgeschmückt ward. Er nannte sich Mr. Carr, und die wenigen Briefe, welche an ihn kamen, waren adressiert »Arthur Carr, Esq.« Er war noch ganz jung, ich glaube, kaum vier- oder fünfundzwanzig Jahr alt, hatte sanfte Manieren und ein zartes, fast weibliches Aussehen. Seine Haare trug er lang über die Schulter und seine feine Haut und Gesichtsfarbe zeigten ebenfalls etwas Weibliches. Obgleich er ein Gentleman zu sein schien, so hielt er sich dennoch fern von den respektablen Familien Dibbledeans und machte gar keine Bekanntschaften. Es besuchten ihn keine Freunde, wie ich hörte, ausgenommen ein alter Gentleman, welcher sein Vater gewesen sein mag, aber auch kaum ein- oder zweimal dagewesen ist. Nach seiner Aussage kam er nach Dibbledean, um ruhig und zurückgezogen studieren zu können; er war sehr zurückhaltend und ließ niemanden zu sich, bis an einem miserablen Tage, wo er meinen Bruder Josua und meine Nichte Marie, welche seine Bekanntschaft gemacht hatten, in seiner Wohnung empfing.

Bevor ich zu den andern Verhältnissen übergehe, muss ich erst sagen, dass Mr. Carr das war, was man einen Botaniker nennt. An allen schönen Tagen war er auch stets außer dem Hause, sammelte Pflanzenblätter, welche er, wie es schien, in einer Zinnbüchse nach Hause trug, trocknete und aufbewahrte. Er mietete einen Gärtner für das Aufsuchen der Pflanzen rund um Jays Cottage, und derselbe sagte mir einmal, dass sein Herr mehr Blumen kenne und wüsste, wie sie wüchsen, als irgendjemand. Mr. Carr machte viele kleine Gemälde und setzte Blumen und Blätter zu Mustern zusammen. Diese Dinge hielt man für sonderbare Amüsements eines jungen Mannes, aber er war ihnen so zugetan, wie andere der Jagd und dem Schießen. Er brachte mehrere Bücher mit, las in denselben, aber seine größte Zeit widmete er, wie ich hörte, der Botanik, den Blumen.

Wir hatten in jener Zeit die zwei besten Laden in Dibbledean. Josua hatte Strumpfwaren und ich ein sehr gutes Putzmachergeschäft. Beide Laden befanden sich in einem Hause und waren nur durch eine Scheidewand voneinander getrennt. Eines Tages kam Mr. Carr in Josuas Laden und wollte etwas kaufen, was mein Bruder nicht gleich zur Hand hatte; er verlangte eins der gewöhnlichen Dinge, welche das Stadtvolk allgemein kauft. Josua bat ihn, sich einige Minuten niederzusetzen, aber Mr. Carr blickte, da die Tür des Ladens und der Zimmer geöffnet war, in den Garten, den er durch die Fenster sehen konnte, und sagte, dass er gern einen Gang darin machen wollte, um die Blumen zu sehen, während dessen würde wohl das Gewünschte für ihn ankommen. Josua war ganz außerordentlich hoch erfreut, dass ein Gentleman, welcher zugleich Botaniker war, von seinem Garten Notiz nahm; er führte den Herrn hinein und ging dann ins Warenhaus, um das Begehrte zu suchen.

Meine Nichte Marie arbeitete mit andern jungen Frauenzimmern in meiner Abteilung des Hauses. Das Arbeitszimmer lag nach der Gartenseite. Meine Nichte musste Mr. Carr von den Fenstern aus gesehen haben und schlüpfte, da ich eben nicht anwesend war, die Treppen hinab in den Garten, um den fremden Gentleman zu sehen und mit ihm bekannt zu werden. Als ich später in das Arbeitszimmer kam und sie nicht dort fand, blickte ich durchs Fenster und sah sie, Josua und Mr. Carr zusammen an dem Grasplatz stehen. Der fremde Gentleman hatte eine Blume in der Hand und schien recht intim und zärtlich mit ihr zu sprechen. Ich rief zu ihr hinunter, sie solle sogleich an ihre Arbeit heraufkommen. Aber sie blickte in ihrer kecken, unverschämten Weise lächelnd zu mir herauf und sagte: »Vater hat gesagt, ich solle hier bleiben, um zu lernen, was dieser Gentleman mir über mein Geranium zu lehren so gütig ist.« Ich konnte in Gegenwart des Fremden weiter nichts sagen. Nachdem er fort war, kam sie triumphierend, singend und lachend herauf, nicht wie ein junges sittsames Mädchen, sondern wie eine tolle Schauspielerin. Ich hielt alle ihre Neckereien ruhig aus, ging aber noch an demselben Tage zu meinem Bruder Josua hinunter, redete sehr ernst mit ihm und warnte ihn, seine Tochter strenger zu halten und ihr nicht ihre eigenen Wege gehen zu lassen; auch erbot ich mich, eine strenge Hand über sie zu halten, wenn er mich darin passend unterstützen wolle. Aber er wies mich sorglos ab und erging sich in scherzenden Worten, die er hernach sehr bitter bereuen musste.

Josua war ein guter, religiöser und respektabler Mann, aber sein Unglück bestand darin, dass er zu leichtsinnig und zu stolz auf seine Tochter war. Nachdem er seine Frau, seinen ältesten Sohn und eine Tochter durch den Tod verloren hatte, ward er noch zärtlicher gegen Marie und vermochte ihr nicht das Geringste abzuschlagen. Ein anderes Kind seiner Familie ——«

Hier verlor Mat die Geduld wieder, murmelte ärgerlich für sich selbst und übersprang dann abermals mehrere Zeilen.

»Ich habe schon gesagt, dass sie auf ihr hübsches Aussehen eitel, dabei keck und leichtsinnig war, und muss noch hinzufügen, sorglos, lebhaft und leidenschaftlich. Sie hatte ihre geheimen Wege und niemand sah scharf genug hin, dies zu bemerken als ich. Wenn ich ihr strafende Vorstellungen über ihr Benehmen machte und ihrem Vater bewies, dass ich Recht hatte, so wusste sie ihn stets so schmeichelnd zu bearbeiten, dass er ihr vergab. Sie wusste jedermann gegen mich einzunehmen, und obgleich ich in dem Verhältnis einer Mutter zu ihr stand, so hatte sie dennoch nicht den geringsten Respekt vor mir, bezeigte mir niemals Dankbarkeit, stand stets in Fehde gegen mich und beleidigte mich bei jeder Gelegenheit. Anfangs benahm sie sich bezüglich Mr. Carr sehr verschlossen gegen mich. Es schmeichelte ihrem Stolz, von einem Gentleman und Kunden des Ladens beachtet und bewundert zu werden, als wäre sie eine geborene Lady. Noch an demselben Abend, zur Teezeit, machte sie vor meinen eigenen Augen die Wirkung des Rates, den ich ihrem Vater gegeben, zunichte. Sie schaukelte sich auf seinen Knien, küsste ihn, band ihm die Halsbinde um und ab, steckte ihm Blumen in ein Knopfloch und benahm sich mehr wie ein Kind als wie ein erwachsenes Frauenzimmer. Sie schmeichelte und liebkoste ihm das Versprechen ab, nächsten Sonntag mit ihr zu Mr. Carr zu gehen, um seinen Garten zu sehen; es schien mir, als ob der Gentleman sie eingeladen hatte, um seine Blumen in Augenschein zu nehmen. Als ich es hörte, bot ich alle meine Kräfte auf, um meinen Bruder dahin zu bringen, dass er die Einladung ablehne, und tadelte ihn, dass er nähere Bekanntschaft mit dem Fremdling machen wolle; aber alles, was ich sagte, war nutzlos.Sie wusste stets alles besser wie ich, und wenn ich redete, lachte sie keck und beleidigte mich mit ihren leichtsinnigen Antworten. Ihr Vater wunderte sich über mich, dass ich mich nicht über ihren hohen Geist erfreuen könne. Ich schüttelte mein Haupt und war still. Armer Mann! Er lebte und sah es noch, wohin ihr hoher Geist sie geführt hat.

Am nächsten Sonntag nach der Kirche gingen sie zu Mr. Carr. Obgleich auf diese Art meinem Rate getrotzt ward, so beschloss ich dennoch, in einer strengeren Wachsamkeit über meine Nichte fortzufahren. Ich fühlte, dass die Erhaltung des Ansehens und der Reputation der Familie allein auf mir lag, und entschied mich fest, alles Mögliche zu versuchen, um unsern guten Namen zu erhalten. Nach all den Ereignissen ist das Bewusstsein, dass ich stets das Äußerste getan habe, um diesen Entschluss auszuführen, ein wirklicher Trost für mich. Die Veranlassung zu unserer Schande liegt nicht vor meiner Tür. Ich misstraute Mr. Carr sogleich vom ersten Augenblick an und versuchte eifrig, auch die andern von meinem gerechten Verdachte zu überzeugen. Aber alles, was ich sagte und tat, half nichts gegen die schändliche Schlauheit meiner Nichte. So sehr ich sie auch bewachte und einschränkte, sie war sicher ——«

Mat brach hier noch einmal in der Mitte des Satzes ab. Es war die Abendzeit herangekommen, wo man Licht anzuzünden pflegt. Der kurze Wintertag war beinah verschwunden und die herannahende Finsternis lagerte sich auf Johanna Grices Buchstaben. Als er das Licht angezündet hatte, wechselte er den Platz und begann dann mit abermaliger Überspringung einiger Zeilen weiter zu lesen.

»Die Verhältnisse waren nun so weit gekommen, dass sie, wie ich sicher fühlte, mit ihm geheime Zusammenkünfte hatte, jedoch konnte ich hier vor meinem Bruder keine überzeugenden Beweise liefern. Ich hatte keine Hilfe zur Hand, welche ich zur Besiegung dieser teuflischen Schlauheit, mit welcher man mich überlistete, anrufen konnte. Fremde Personen zur Bewachung zu nehmen, konnte ich nicht wagen, weil dadurch der Skandal in ganz Dibbledean aufgesprengt worden wäre, was ich natürlich ängstlich zu vermeiden suchte. Josuas Verblendung machte ihn gegen jede vernünftige Vorstellung taub. Er wollte durchaus keinen Verdacht in Mariens zunehmender Vorliebe für Botanik und Zimmerblumen erblicken. Er ließ ihr ihre Gemälde an Mr. Carr zum Kopieren verleihen, gerade als wären sie schon zeitlebens miteinander bekannt. Nächst dem blinden Vertrauen zu seiner Tochter, weil er sie gar zu zärtlich liebte, war sein Vertrauen in den Fremden ebenso blind, weil er sich von diesem durch seine eleganten Manieren und durch sein feines, artiges und ruhiges Benehmen gewinnen ließ, und Carr uns sehr oft seltene Blumen für unsern Garten sandte. Er wollte mir durchaus nicht erlauben, Maries Briefe zu öffnen oder ihr zu verbieten, allein spazieren zu gehen. Ja, er sagte mir einmal, dass ich nicht wüsste, wie man jungen Personen passende nachsichtige Vergünstigungen erlaube. Vergünstigungen!! Ich kannte meine Nichte und meine Pflicht für eine der anständigsten Familien besser, als ihr solche Vergünstigungen zu einer solchen Ausführung zu gestatten. Ich hielt sie unter der strengsten Hand, so gut ich konnte. Ich beratschlagte und stritt mich mit ihr, befahl ihr, teilte ihr die Zeit zu, bewachte und warnte sie, sagte ihr in den kürzesten Worten, sie solle mich nicht betrügen —— weder sie noch ihr Gentleman. Ich war ehrlich und offen, sagte ihr im strengsten Tone, wie sehr ich ihren Umgang mit Mr. Carr missbillige, und ich würde denselben ganz sicher abbrechen, wenn es allein in meiner Macht läge. Ebenso einfach bemerkte ich ihr, dass, wenn sie einmal ins Unglück käme, es zu spät sein würde, ihr zu helfen. Aber sie antwortete in ihrer leichtfertigen buhlerischen Art, dass, wenn sie ins Unglück käme, es nur durch meine Einwirkung geschehen würde, und dass sie glaube, ihres Vaters Güte würde es niemals zu spät finden, ihr zu helfen. Dies war nur ein Beispiel ihrer gebräuchlichen Unverschämtheiten und Gottlosigkeiten, welche sie mir stets erwiderte.«

Als er diesen Satz beendigt hatte, schlug er das Schreiben auf die Knie und fluchte der Schreiberin mit einigen jener Goldgräberverwünschungen, welche er zu seinem Unglück nur zu oft in den vergangenen Tagen seiner kalifornischen Wanderungen gehört hatte. Er bedurfte großer Selbstbeherrschung, um sich zu mäßigen und das Schreiben nicht aus Widerwillen ganz und gar zu zerknittern oder von sich zu werfen. Er breitete es noch einmal vor sieh aus, blickte auf diesen, darin auf jenen Satz, las aber nicht; hierauf wendete er das Blatt um, zauderte —— und begann dann auf einer andern Seite weiter zu lesen.

»Als ich Josua allgemein erzählte, was ich beobachtet und was ich ganz besonders an jenem Abend gesehen und gehört hatte, schien er ein klein wenig zu stutzen, ließ dann meine Nichte rufen und forderte eine Erklärung. Nachdem er zu ihr wiederholt, was ich ihm gesagt hatte, schlang sie ihre Arme um seinen Hals, blickte erst mich, dann ihn an, brach in heftiges Schluchzen und Weinen aus und es wurde ihr endlich so schlecht, dass sie in eine Art Paroxysmus verfiel. Ich war nicht ganz sicher, ob dies nicht einer ihrer Kniffe sei; aber es erschreckte ihren Vater so sehr, dass er sich ganz vergaß, allen Tadel auf mich warf und sagte, meine Prüderie und Konspiration hätte das arme Mädchen gepeinigt und ihr einen Todesschrecken verursacht. Nach solchen Beleidigungen konnte ich, wie sich von selbst versteht, nichts anderes tun als das Zimmer verlassen.

Es war jetzt Herbst, Mitte September, und ich war mit meinem Witz zu Ende, was ich denn nun tun und lassen sollte —— als Mr. Carr Dibbledean verließ. Er hatte schon im Sommer das Städtchen einige Mal verlassen, aber nur höchstens auf zwei Tage. Bei jener Abwesenheit hatte er ihr niemals kleine Billetts geschrieben; jetzt aber kam ein größerer Brief von ihm an meine Nichte. Ich glaubte, dies deute auf ein längeres Entferntsein als gewöhnlich, und beschloss, den Vorteil zu benutzen und zu versuchen, ob ich nicht das intime Verhältnis zwischen beiden zu brechen vermochte. Ich muss feierlich erklären und kann es nötigenfalls durch einen Eid bekräftigen, dass trotz dem, was ich gesehen, ich nicht die entfernteste Idee von der Gottlosigkeit hatte, welche wirklich begangen war. Ich danke Gott, dass ich nicht hinreichend auf den Wegen der Sünde bewandert war, um scharf sehend auf den rechten Schluss zu kommen, wie vielleicht zahlreiche andere Frauen in meiner Situation. Ich glaube, dass der Weg, auf dem sie jetzt wandelte, nur für ihre Zukunft gefährlich sei, und handelte in diesem Glauben. Demzufolge hielt ich mich für berechtigt, jedes Mittel, das in meiner Macht stand, zu gebrauchen, um sie von ihrer gegenwärtigen Bahn abzubringen. Ich entschloss mich deshalb fest, ihr keine Briefe von Mr. Carr in die Hände kommen zu lassen, wenn er wieder schreiben würde. Und ich kannte ihre Leidenschaft und ihren Stolz hinreichend, um zu wissen, dass, wenn sie auf den Glauben gebracht war, sie werde von ihm vernachlässigt, sie gewiss jeden Umgang mit ihm abgebrochen haben würde, und wenn er auch sogleich nach Dibbledean zurückgekehrt wäre.

Da ich in dem Verhältnis einer Mutter zu ihr stand und nur ihr Wohl im Herzen hatte, so glaubte ich mich auch vollkommen gerechtfertigt zur Ergreifung meiner Maßregeln. Über diesen Hauptpunkt ist mein Gewissen ganz ruhig und leicht. Ich kann den Plan, welchen ich jetzt erwählte, nicht näher beschreiben, ohne eine noch lebende Person ernstlich, ja sogar verhängnisvoll zu blamieren und zu kompromittieren. Alles was ich sagen kann, ist, dass jeder Brief von Mr. Carr, an unser Haus adressiert, in meine Hände kam und von mir ungelesen den Flammen übergeben ward. Diese Briefe waren zuerst alle an meine Nichte gerichtet, aber zu Ende des Jahres kamen in verschiedenen Zwischenräumen auch zwei an meinen Bruder adressiert. Da ich dem Schreiber sowohl als der Schwäche meines Bruders misstraute, warf ich auch diese Briefe, wie alle andern, ungelesen ins Feuer. Nach diesen kamen keine mehr und Mr. Carr kehrte auch nicht wieder nach Dibbledean zurück. In Hinsicht dieses Teils meiner Erzählung habe ich nur noch hinzuzufügen, bevor ich zu dem miserablen Bekenntnis unserer Familienschande übergehe, dass ich nachher niemals wieder etwas sah, noch irgend jemals etwas hörte von dem Manne, welcher meine Nichte zu jener Todsünde verführte, die ihr Ruin in dieser Welt war und auch im Jenseits sein wird.«

Mat hatte augenscheinlich immer größeres Interesse an dem Schreiben bekommen. Obgleich er diese letzte Sentenz schon beim erstmaligen Erblicken des Schreibens unter dem Schuppen unweit Dibbledean zufällig gelesen hatte, so las er sie jetzt doch noch einmal recht sorgenvoll —— pausierte einen Augenblick —— dann las er sie entschlossen durch. Nachdem dies geschehen war, wurde er plötzlich ganz still und gedankenvoll. Seine Augenbrauen zogen sich düster zusammen und der wilde zornige Glanz, welcher vorhin aus den Augen blitzte, erschien wieder, als er in dem Briefe weiter las.

»Ich muss nun zurückkehren zu dem, was sich durch meine Verbrennung der Briefe ereignete. Als meine Nichte Tag für Tag und Woche für Woche vergebens auf einen Brief oder eine Nachricht wartete, grämte sie sich mehr, als ich vermutet hatte. Und Josua wunderte sich in ihrer Gegenwart über die lange Abwesenheit des Gentleman von Jays Cottage und machte sie unbesonnenerweise noch schlecht. Mein Bruder war ein Mann, der nicht leiden konnte, dass seine täglichen Gewohnheiten unterbrochen wurden. Er hatte die Gewohnheit gehabt, an gewissen Abenden zu Mr. Carr zu gehen, dabei, es schmerzt mich, es sagen zu müssen, seine Tochter mitzunehmen, die Londoner Zeitung zu holen und Zimmerblumen zurückzubringen. Meine Nichte brachte Neuigkeiten zum Kopieren. Und jetzt ward er ängstlich, ruhelos und missvergnügt, so viel als es ein leichtes Temperament zu sein vermag, dass er nicht seine gewöhnlichen Gänge zu Jays Cottage machen konnte. Sie härmte und grämte sich, weinte im Geheimen, wie ich an ihren Augen bemerkte, und veränderte sich zu einer ganz andern Gestalt. Jetzt kam auch dann und wann der böse Anfall wieder, wie ich erwartet hatte; aber er verging stets wieder auf eine solche Art, wie es bei so leidenschaftlichen Naturen selten der Fall ist. In dieser ganzen Zeit verbitterte sie mir das Leben, wie sie nur konnte; herausfordernd, drohend und mich beleidigend bei jeder Gelegenheit. Ich glaube, sie hatte mich hinsichtlich der Briefe in Verdacht. Aber ich hatte meine Maßregeln so genommen, dass eine Entdeckung unmöglich wurde; ich beschloss zu warten, geduldig zu sein und zu ertragen, bis ihr besseres Teil über ihre gottlose Neigung zu Mr. Carr siegen würde.

Zuletzt, am Ende des Winters änderte sie sich so sehr und bekam ein solch befremdendes Aussehen im Gesicht, dass Josua noch unruhiger wurde und zum Doktor senden wollte. Sie schien schon bei der bloßen Erwähnung heftig erschrocken zu sein und erklärte ganz unerwartet in sehr leidenschaftlich aufgeregter Stimmung, sie habe keinen Arzt nötig und würde ihm keine einzige Frage beantworten. Dies versetzte mich sowohl als Josua in großes Erstaunen, und wenn er mich geheim über die Ursache befragte, konnte ich ihm nichts anderes sagen, als dass ich glaubte, die Liebe zu Mr. Carr habe ihren Verstand getrübt. Zum ersten Mal in seinem Leben fiel mein Bruder in eine wütende Raserei gegen mich. Ich vermutete, er war mit seinem eigenen Gewissen in Zwiespalt, wenn er sich erinnerte, wie töricht und gar zu nachsichtig er gegen sie gewesen war, und wie sorglos er ihr und sich selbst erlaubt hatte, die Bekanntschaft mit einer Person außerhalb des Orts zu machen, die man doch eigentlich nicht näher kennen zu lernen vermochte. Ich sagte ihm nichts darüber in jener Zeit; er war nicht fähig, es ruhig anzuhören, und noch weniger fähig, den Plan zu vernehmen, welchen ich gewählt hatte, um sie zu kurieren. Auch war es meine Absicht nicht, ihm denselben zu gestehen.

Als Wochen und Monate vergingen und sie sich fortwährend härmte und grämte, so dass sie ganz unkenntlich wurde, begann ich zu zweifeln, ob mein trefflicher Plan, von dem ich so viel hoffte, guten Erfolg haben würde. Ich war schmerzlich betrübt und bekümmert in meinem Gemüt, was ich zunächst tun sollte, und begann in der Tat zu fühlen, dass die Schwierigkeit für mich zu groß wurde, just als eben die Angelegenheit sich schnell zu ihrem schandbaren Ende neigte. Das Weihnachtsfest stand nahe bevor. Josua hatte sein Verzeichnis der Warenartikel für auswärtige Sendungen bekommen und war in Geschäftsangelegenheiten nach London gereist, wie er jedes Jahr um diese Zeit zu tun pflegte. Ich erwartete ihn wie gewöhnlich ein oder zwei Tage vor dem Feste zurück.

Vor kurzer Zeit hatte ich wieder eine Veränderung an meiner Nichte bemerkt. Seit mein Bruder gesagt hatte, dass er nach dem Arzt schicken wolle, war sie wenigstens insofern anders geworden, dass sie jetzt ziemlich regelmäßig ihre Arbeiten verrichtete und behauptete, sie sei nicht krank, obgleich sie damit eine schlechte Behauptung machte, und sie sei bestrebt, ihrem Vater das Leben zu erleichtern und angenehm zu machen. Die Veränderung, auf die ich mich jetzt beziehe, war ganz anderer Art und ihr Benehmen gegen mich heuchlerisch, ebenso auch ihre jetzige Kleidung. Wenn wir zusammen allein waren, fand ich ihre Aufführung wesentlich geändert. Sie sprach sanft zu mir, blickte demütig und arbeitete, was ich ihr befahl, ohne Murren und Widerspruch; einmal versuchte sie sogar, mich zu küssen. Aber ich war auf meiner Hut —— erwartend, dass sie mich durch ihre Schmeichelei fangen wolle —— ihr Aufschluss zu geben, ob Mr. Carr geschrieben habe, und was mit dessen Briefen geschehen sei. Also um diese Zeit, auch einige Wochen vorher bemerkte ich eine Veränderung in ihrer Kleidung. Sie trug sich nachlässig, fast schmutzig, hatte im Zimmer ein Shawl um und klagte über Frost, wenn ich mich über diese ungewöhnliche Tracht tadelnd aussprach. —— Ich weiß nicht, wie lange dies gedauert und wie es geendigt haben würde, wenn die Dinge ihren gewöhnlichen Weg gegangen wären. Aber die schreckenvolle Wahrheit machte sich zuletzt selbst durch eine Art Zufall bekannt.

Sie hatte eines Tages einen Streit mit einem andern jungen Frauenzimmer im Putzmacherladen, mit Namen Helena Grough, über eine gewisse ehrlose Freundin von ihr, Johanna Holdsworth, die ich früher einmal engagiert und dann wegen Grobheit und schmutziger Aufführung fortgeschickt hatte. Lene Grough musste zu sehr durch meine Nichte gereizt worden sein, genug, sie kam in leidenschaftlicher Aufregung zu mir und erzählte mir in vielen Worten die schreckliche Wahrheit, dass meines Bruders einzige Tochter sich selbst und die ganze Familie für ewig geschändet und entehrt habe. Der unaussprechliche Jammer und Schauder ist mir nach so vielen Jahren noch jetzt gegenwärtig. Der Schlag, den ich damals empfing, warf mich nieder; ich habe mich niemals wieder ganz erholt davon und werde es auch wohl niemals.

In der ersten Bestürzung muss ich etwas gesagt und getan haben, was die Entehrte gehört und ihr die Überzeugung beibrachte, dass ich ihre Infamie entdeckt habe. Ich ging zu ihrem Schlafzimmer, fand die Tür verschlossen und hörte ihre Weigerung, sie zu öffnen. Nachdem muss ich ohnmächtig geworden sein, denn ich fand mich, ich weiß nicht wie, nach einiger Zeit im Arbeitszimmer und vor mir Lene Grough mit der Riechflasche. Mit ihrer Hilfe kam ich in mein eigenes Zimmer und ward wieder so ohnmächtig, dass ich fast wie tot niederfiel. Als ich wieder zu mir kam, ging ich noch einmal zum Schlafzimmer meiner Nichte. Die Tür war jetzt offen, und am Spiegel befand sich ein an meinen Bruder adressiertes Stück Papier. Sie war aus dem ehrbaren Hause gegangen, das ihre Sünde befleckt hatte —— sie war gegangen für immer, ausgeschieden für ewig. Sie hatte nur ein paar Zeilen an ihren Vater geschrieben, aber in denselben ihr schändliches Verbrechen bekannt und eingestanden, dass sie der Schurke Carr dazu verführt habe. Sie sagte, dass sie gegangen sei, um die Schande von unserm Hause zu nehmen. Sie bat, keinen Versuch nach ihrer Spur zu machen, denn sie würde lieber sterben, als zurückkehren, um ihre Familie zu schänden und ihren armen Vater in seinen alten Tagen zu betrüben. Nach diesen kamen einige Zeilen, welche sie erst nach einer anderen Gedankeneingebung niedergeschrieben haben mochte. Ich erinnere mich nicht genau der Worte mehr, aber der Sinn war schamloser als ich dachte.

Wenn das Kind, was sie gebären würde, so hieß es, lebend zur Welt käme, so würde sie für dessen Erhaltung alles leiden und dulden.

Zunächst war es wenigstens eine große Erleichterung für mich, dass sie gegangen war. Die schreckliche Bloßstellung und Erniedrigung, welche uns drohte, schien durch ihre Abwesenheit wenigstens vertagt zu sein. Nach Befragen Lene Groughs vernahm ich, dass die beiden andern noch bei mir arbeitenden jungen Frauenzimmer, welche glücklicherweise auf einige Tage bei ihren Freunden zum Besuch waren, nichts von dem ehrlosen Geheimnis meiner Nichte wussten. Lene hatte es zufällig entdeckt und meine Nichte war demzufolge genötigt gewesen, ihr es im Vertrauen zu bekennen. Jedermann sonst im Hause war so geschickt betrogen worden als ich selbst. Als ich dies bemerkte, lebte ich der Hoffnung, dass unsere Familienschande im Städtchen unbekannt bleiben würde.

Ich schrieb an meinen Bruder und verhehlte, was sich ereignet hatte, bat ihn jedoch, so schnell als möglich zurückzukommen. Es lag der bitterste Teil von all den bitteren Leiden, die ich je erduldet, in dem Gedanken, was ich Josua sagen sollte und zu welchen schrecklichen Handlungen ihn das Verderben seiner Tochter treiben würde. Ich war eifrig bestrebt, mich für die kommende harte Prüfung standhaft vorzubereiten. Aber was sich darauf ereignete, war das Furchtbarste und Schrecklichste, das ich nie zu ahnen vermochte. Als mein Bruder die schauderhafte Neuigkeit hörte und das beschriebene Papier sah, brach er in wahrhafte Verzweiflung und förmlichen Wahnsinn aus. Er erklärte, dass er sogleich gehen und sie aufsuchen wolle, und dass andere sie aufsuchen sollten. Er sagte und schwor, dass er sie zurückbringen würde, wo er sie auch fände, dass er ihr beistehen, ihr Unglück und Elend bemitleiden und ihre Reue annehmen wolle, und dass er sie in seinem Hause beschützen und wieder so zärtlich lieben würde, wie in den früheren Tagen ihrer Unschuld! —— So sprach er, hatte aber nicht einen einzigen Gedanken an den Skandal und die Schande, welche hierdurch auf die Familie geworfen wurde. Er riss die Schrift weg, und —— das Schlimmste von allem war —— als er vernahm, dass seiner Tochter Schande durch mich entdeckt worden sei; er bestand darauf, dass Lene Grough aus dem Hause musste und erklärte, dass sie nie wieder unter seinem Dach schlafen solle, in solch schauderhaften Worten, wie ich sie nie von ihm für möglich gehalten hatte. Es war hoffnungslos, einen Versuch zur Aussöhnung mit ihm zu machen. Er stieß sie noch an demselben Tage mit eigener Hand aus dem Hause. Sie war eine vortreffliche, fleißige Arbeiterin, aber boshaft und rachsüchtig, wenn ihr Temperament gereizt wurde. Am nächsten Morgen war unsre Schande in ganz Dibbledean bekannt.

Es stand mir eine große Beschimpfung bevor und schon der Gedanke an Marien machte mich krank. Ich kannte Josua zu gut und wusste, dass, wenn er die verlorene Tochter irgendwo fand, er sie sogleich wieder zurückbringen würde.

Ich war in unserm Hause zu Dibbledean geboren, meine Mutter ebenfalls; unsere Familie hatte in dem alten Orte ehrbar und geachtet gelebt; viele Generationen hindurch war auch nicht der Hauch eines üblen Gerüchts auf sie gefallen. Als ich hieran dachte und dann die Möglichkeit erwog, dass ein liederliches Frauenzimmer vielleicht bald ins Haus treten und ein Bastardkind gebären werde, —— in dem Hause, wo so viele meiner Vorfahren ehrbar gelebt hatten und rechtschaffen gestorben waren, —— als ich an diese Möglichkeit dachte, da entschloss ich mich, dass der Tag, an dem sie den Fuß über die Schwelle setzen würde, der letzte sein sollte, den ich in meinem Geburtshaus verlebte, und dass ich dann meine Heimat für ewig verlassen wollte.

Während ich mich mit diesem Gedanken beschäftigte, kam Josua zu mir, —— so entschlossen in seiner Absicht, wie ich geheim in der meinigen, —— um mich zu fragen, ob ich keinen Verdacht über die Richtung hätte, die sie eingeschlagen habe. Alle Erkundigungen, die er in Dibbledean darüber eingezogen hatte, schienen erfolglos gewesen zu sein. Ich sagte, dass ich keine bestimmte Kenntnis darüber hätte und dies war wirklich wahr, ich vermutete aber, dass sie nach London gereist sei. Er fragte warum? Ich antwortete, sie sei auf jeden Fall dahin gereist, um Mr. Carr aufzusuchen, und bemerkte dann, dass ich mich erinnerte, sein Brief an sie, der erste und einzige, den sie von ihm empfing, hätte eine Londoner Postmarke getragen. Wir konnten diesen Brief damals nicht finden; der Schlupfwinkel, in dem sie denselben und noch andre Gegenstände versteckt hatte, ward erst nach Jahren entdeckt, als das Haus für die Leute repariert wurde, welche unser Geschäft kauften. Josua, ohne irgendeinen andern Führer zu haben als sich selbst, aber fest entschlossen, sie überall aufzusuchen, glaubte, dass meine Mutmaßung gegründet sei. Noch in der Nacht reiste er nach London, um zu sehen, was sich tun ließe, und um sich von einem Rechtsanwalt Rat und Hilfe zur Entdeckung ihrer Spur zu erbitten.

Das, was ich jetzt über die Zeit unseres Unglücks erzählt habe, ist der Anteil meiner Person, an den ich jetzt nicht ohne Gewissensunruhe denken kann. Als ich Josua sagte, ich vermutete, sie sei nach London gegangen, hatte ich ihm nicht die Wahrheit gesagt. Ich wusste eigentlich gar nichts Gewisses, wohin sie gegangen war, aber ich vermutete ganz sicher, dass sie ihre Schritte nach der ganz entgegengesetzten Richtung Londons genommen haben würde, also weit weg nach Bangbury. Sie hatte allerlei Fragen über Wege, Städte und Leute in jener Richtung an Lene Grough getan, welche es mir wieder erzählte, und aus diesem Grunde glaubte ich auch, dass sie den Weg dahin eingeschlagen habe. Obgleich dies eine bloße Vermutung war, so habe ich dennoch meinen Bruder betrogen, dass ich ihm nicht meine wahre Meinung sagte, als er mich darum fragte; und dies war eine Sünde, welche ich jetzt aufrichtig und demütig bereue. Aber der Gedanke, ihm zu helfen, mit so kleinen zufälligen Mitteln, mit bloßen Vermutungen unsere Infamie wieder ins Haus zu bringen, die entehrte Tochter in meiner Gegenwart, im Angesicht der ganzen Stadt —— dieser Gedanke war mir unerträglich. Ich glaubte, dass der Tag, an dem sie unsre Hausschwelle wieder überschritten, mein Todestag sein würde. Wegen dieser Überzeugung verheimlichte ich meine wahre Meinung gegen Josua.

Hierfür verdiene ich zu leiden und habe schon dafür gelitten.

Zwei oder drei Tage nach Weihnachten —— ich hatte die ganze Zeit in einsamer Zurückgezogenheit gelebt —— erhielt ich einen Brief von Josuas Rechtsanwalt aus London mit der Nachricht, dass mein Bruder Josua lebensgefährlich erkrankt sei und ich hinkommen solle, ihn zu sehen. Im Verlauf seiner Nachsuchungen, welche er selbst verfolgte, obgleich der Rechtsanwalt besser wusste, was zu tun sei, und auch eifrig bestrebt war, ihm zu helfen, war er in einigen Häusern beraubt, übel behandelt und in der Nacht bei Sturm und Schnee auf die Straße gesetzt worden. Es wäre nutzlos, jetzt zu schreiben, was ich durch diesen neuen Schlag gelitten, oder von der schrecklichen Zeit zu sprechen, die ich an seinem Bette in London verlebte. Es wird genug sein, wenn ich sage, dass er aus den Händen des Todes gerettet wurde und Ende Februar soweit genesen war, um die Reise nach Dibbledean antreten zu könnten.

In der heimatlichen Luft erholte er sich schneller —— d. h. er wurde körperlich gesund, aber sein Gemütsleben versank in Schwermut. Jeden Morgen fragte er, ob noch keine Neuigkeiten von Marie angekommen seien. Nach der verneinenden Antwort rangen sich kummervolle Seufzer aus seiner Brust; er sprach kein Wort weiter, legte das Haupt in seine Hände und verharrte den Rest des Tages in dieser trostlosen Stellung. Ein andermal zeigte er große Angst über einen angekommenen Brief, den er empfangen und mir gegenüber verheimlichte. Ich vermutete, dass er von seinem Rechtsanwalt in London ausgegangen sei. Dieser hatte überall hingeschrieben und Nachsuchungen veranlasst. Aber auch dies schien er gar bald wieder zu vergessen sowie er jedes Ding vergaß, ausgenommen seine regelmäßigen Fragen über Marie, die er jeden Morgen kummervoll wiederholte und auch dann noch, als ich ihm ihren Tod angemeldet hatte.

Die Neuigkeit ihres Todes kam im März 1828. Trotz aller Nachforschungen von London aus war nicht die geringste Spur von ihr entdeckt worden. In Dibbledean, das wussten wir genau, konnte sie nicht sein.

Und Josua war nicht mehr befähigt, sie anderswo zu suchen oder andern eine klare Instruktion zu ereilen, in welcher Richtung sie gesucht werden musste. Aber in diesem Monat März las ich eine Anzeige in der Bangburyer Chronik, welche neben der unsrigen hier zirkulierte, darin wurden die Verwandten oder Freunde eines jungen Frauenzimmers, das soeben gestorben und ein neugeborenes Kind hinterlassen habe, aufgefordert, zu kommen und den Leichnam in Augenschein zu nehmen, um die Person zu identifizieren und das nachgelassene Kind zu versorgen. Die Körperbeschreibung war so ausführlich und genau, dass für diejenigen, welche sie so gut kannten wie ich, nicht der geringste Zweifel übrig blieb, dass es der Leichnam meiner elenden, schändlichen Nichte sei. Mein Bruder befand sich nicht in der Geistesbeschaffenheit, um mit ihm über diese schwierige Sache sprechen zu können. Ich sandte daher durch eine zuverlässige Person hinreichend Geld zu einer anständigen Beerdigung nach Bangbury, ohne Namen und Datum meines Briefes. Es gab kein Gesetz, das mich verpflichtete, mehr zu tun, und ich war fest entschlossen, nicht das Geringste weiter zu tun. Was den Nachkömmling ihrer Sünde betraf, so war dies nicht meine Sorge, sondern die des Vaters, das Kind anzunehmen und es zu unterstützen.

Als Leute in der Stadt, welche unser Unglück kannten und die Anzeige gelesen hatten, zu mir kamen und mich darüber befragten, bejahte und verneinte ich nichts, sondern verweigerte einfach, über diesen Gegenstand zu sprechen.

Auf diese Art beschützte ich mich und meinen Bruder gegen schwatzhaftes Volk, dessen Impertinenz und Einmischung in unsre Angelegenheit. Ich glaubte nun, dass ich den letzten bitteren Leidenskelch —— als Folge der Sünde meiner Nichte —— bekommen hätte, aber ich war im Irrtum, das Maß meiner Trübsal war noch nicht voll. Etwa vierzehn Tage, nachdem ich das Geld zu ihrer Beerdigung anonym nach Bangbury gesandt hatte, kam eines Tages unser Diener zu mir und meldete, dass ein Fremder vor der Tür stehe, welcher meinen Bruder zu sprechen wünsche und so sehr darauf bestehe, dass er durchaus keine abschlägige Antwort annehmen wolle. Ich ging hinunter und fand vor der Tür einen sehr respektabel aussehenden Mann mittleren Alters, den ich ganz gewiss noch niemals in meinem Leben gesehen hatte.

Ich sagte ihm, dass ich Josuas Schwester sei und bei dessen jetzigem Gesundheitszustand die Geschäfte für ihn führe. Der Fremde antwortete, dass er sehr besorgt sei und Josua durchaus selbst sprechen müsse. Ich konnte mich nicht entschließen, einer mir unbekannten Person den hilflosen trüben Geisteszustand meines Bruders zu erklären, und sagte nur, die gewünschte Zusammenkunft wäre nicht möglich, wenn er aber ein Geschäft mit Mr. Grice hätte, so möchte er es mir mitteilen. Er zauderte, lächelte und sagte dann, dass er mir sehr zu Danke verpflichtet sei; darauf schien es, als wollte er hereintreten und fügte hinzu, dass ich wahrscheinlich die friedliche Natur seines Geschäfts begreifen würde, wenn er bemerke, dass er als Vertrauter von Mr. Carr abgeschickt sei. Bei Nennung dieses Namens schnitt es mir wie mit einem Messer durchs Herz —— meine große Erbitterung gewann die Oberhand über mich. Ich sagte ihm, er solle Mr. Carr berichten, dass die miserable Kreatur, welche von seiner Schurkentat vernichtet worden sei, aus dem Hause geflüchtet, in der Fremde gestorben und dort beerdigt worden sei. Mit diesen Worten schlug ich ihm die Tür vor der Nase zu. Meine große Aufregung und eine Art Grausen und Entsetzen, über das ich mir keine Rechenschaft zu geben vermochte, hatten mich so überwältigt, dass ich mich an die Wand anlehnen musste und einige Minuten unfähig war, eine Treppe aufwärts zu steigen. Sobald ich mich ein klein wenig besser fühlte und über den soeben erlebten Vorfall nachdachte, überkam mich ein Zweifel, ob ich nicht Unrecht getan haben möchte. Ich erinnerte mich, dass Josuas Rechtsanwalt es zu einer Hauptsache machte, Mr. Carr aufzuspüren; und obgleich unsre Situation nach dem Tode meiner Nichte sich geändert hatte, so fühlte ich mich dennoch unruhig und ängstlich —— ich konnte kaum sagen warum, über das, was ich getan hatte. Es war mir, als ob ich eine Verantwortlichkeit übernommen hätte, die ich nicht zu tragen vermöchte. Kurz, ich lief wieder zur Tür, öffnete sie und blickte in der Straße auf und ab; aber es war zu spät, der Fremde war verschwunden und ich habe ihn niemals wiedergesehen.

Dies war im März 1828, in demselben Monat, wo die Anzeige erschien. Ich bin besonders umständlich in der Wiederholung des Datums, weil es die Zeit der letzten schändlichen Ereignisse markiert, die ich hier mit großer Selbstüberwindung berichte. Über das Kind, das in der Anzeige erwähnt war, habe ich niemals wieder etwas gehört. Ich weiß nicht, wann es geboren ist. Ich weiß nur, dass dessen schuldbeladene Mutter ihre Heimat im Dezember 1827 verließ. Ob es noch lebt oder gestorben ist —— darüber habe ich nie etwas vernommen und will auch nichts hören. Seit den Tagen meiner Erniedrigung habe ich mich in die Einsamkeit zurückgezogen und verberge meine Sorgen in meinem eignen Herzen, niemals nach etwas fragend, aber auch niemals etwas beantwortend.«

Bei dieser Stelle suspendierte Mat noch einmal die Fortsetzung seines Lesens. Bis hierher hatte er ungewöhnlich lange, mit ungeteilter Aufmerksamkeit und mit der beständigen düsteren Traurigkeit in seinem Antlitz den Inhalt des Schreibens verfolgt, ausgenommen wenn der Name Arthur Carr im Verlauf der Erzählung vorkam. Beinahe an jeder Stelle, wo die Finger an diesen Namen kamen, zitterten sie stark und sein drohender Blick ward immer feuriger und glänzender. Jetzt bei einer solchen Stelle angelangt, legte er den Brief auf die Knie, drehte sich um und nahm von der Wand die hinter ihm hängende Ledertasche, die bereits als ein Teil seines persönlichen Eigentums bekannt ist, das er mit nach Kirk Street brachte. Er öffnete sie, holte einen Federfächer und einen indianischen Tabaksbeutel von Scharlachtuch heraus; dann suchte er tiefer im Innern und zog endlich einen Brief hervor. Dieser war an mehreren Stellen zerrissen, die Tinte war bleich und die Schriftzüge beinahe verschwunden, das Papier war durch Schmutz, Flecken von Tabak und Fett ganz verunstaltet. Die Adresse war in einer solchen Beschaffenheit, dass nur das Wort Brasilien am Ende leserlich war. Die Innenseiten befanden sich in keinem bessern Zustande.

Jedoch ließ sich das Datum am oberen Rande noch ziemlich deutlich erkennen, es war der 26. Dezember 1827.

Mat blickte zuerst auf dies, dann auf den soeben gelesenen Satz in dem Schreiben der Johanna Grice. Hierauf fing er an, etwas schwerfällig an den Fingern zu rechnen —— beginnend mit dem Jahr 1828 als Nummer Eins und endend mit dem laufenden Jahr 1851 als Nummer 23. Dreiundzwanzig, sprach er für sich, dreiundzwanzig Jahr, wiederholte er laut, ich muss das merken. Dann blickte er wieder einige Zeit auf den alten zerrissenen Brief. Einige der Zeilen waren weniger beschmutzt und noch ziemlich lesbar; über diese wanderten seine Augen und erblickten folgende Worte: »Ich wünsche daher jetzt in diesem bitteren Leiden mehr denn je, dass alle vergangenen Misshelligheiten zwischen uns vergessen sein sollen, und ——« hier war der Anfang einer andern Zeile wieder durch einen Fleck verwischt, auf der reinlichen Stelle hieß es dann: »——

In dieser Hinsicht rate ich Dir, wenn Du irgendwo außerhalb eine fortwährende Beschäftigung finden kannst, sie anzunehmen, statt zurückzukommen —— (ein Riss im Papier machte die folgenden Worte wieder fragmentarisch und unkenntlich) . . . —— irgendeine gute Neuigkeit von mir wieder zu hören. Bis zu dieser Zeit, ich sage es nochmals, halte Dich fern von hier, wenn Du es kannst. Deine Gegenwart könnte hier nicht gut tun, und es ist besser für Dich, bei Deinem Alter solchen Kummer und Gram gar nicht zu sehen, wie wir jetzt dulden.« Die folgenden Zeilen waren wieder durch Risse, Flecken und verblasste Tinte ganz undeutlich, nur die letzten drei oder vier Zeilen ließen sich noch deutlich lesen: »—— Die arme, verlassene, unglückliche Kreatur! Aber ich muss sie finden, und dann mag Johanna sagen oder tun, was sie will, ich will meiner Marie vergeben, denn ich weiß, sie verdient Verzeihung. Was ihn betrifft, so fühle ich die zuversichtliche Gewissheit jetzt, dass er noch aufgefunden werden wird, und dass ich ihn beschämen und die Genugtuung haben werde, sie zu verheiraten. Wenn er sich weigern sollte, dann würde der schwarze Schurke ——«

An dieser Stelle stockte Mat plötzlich wieder im Lesen, faltete den Brief hastig zusammen und steckte ihn wieder nebst Federfächer und indianischen Tabaksbeutel in die Ledertasche. »Ich kann jetzt nicht weitergehen in der Geschichte, denn die Zeit möchte kommen vielleicht ——« Diesen angefangenen Satz vollendete er nicht weiter, sondern saß für einige Minuten still, legte das Haupt in die Hand und starrte ins Licht, während sich seine Augenbrauen düster zusammenzogen.

Das Schreiben der Johanna Grice war noch nicht zu Ende gelesen; er nahm es wieder auf und blickte auf den zuletzt gelesenen Satz.

»Hinsichtlich des erwähnten Kindes in der Anzeige ——« sprach er zu sich selbst. »Das Kind? —— Es war keine Erwähnung über dessen Geschlecht. Gern möchte ich wissen, ob es ein Knabe oder Mädchen war, dachte Mat.«

Obgleich er das Schreiben selbst nun bis zu Ende las, so fiel es ihm doch schwer, die Aufmerksamkeit auf die letzten paar Zeilen zu richten. Sie begannen so:

»Bevor ich schließlich noch etwas sage über den Verkauf unseres Geschäfts, meines Bruders Tod und über das Leben, was ich seit jener Zeit geführt habe, muss ich noch kurz über die wenigen Sachen berichten, welche meine Nichte zurückließ, als sie in die Fremde ging. Umstände mögen eines Tages diese Notwendigkeiten übergeben. Ich konstatiere hier, dass jedes ihr gehörende Ding in einem ihrer Koffer, der sich jetzt in meinem Besitze befindet, erhalten ist, just so als sie es verließ. Als bei der erwähnten Reparatur unseres Hauses die mit A. C. unterzeichneten Briefe entdeckt wurden, warf ich sie in den Koffer. Sie werden beweisen, dass mein erster Verdacht, den mein Bruder nicht beachtete, sehr gegründet war. In Bezug auf Geld und andre Wertsachen muss ich erinnern, dass meine Nichte bei ihrer Flucht alle Ersparnisse mitnahm. Ich wusste, in welchem Koffer sie dieselben bewahrte, und fand denselben offen stehen, als ich ihre Flucht entdeckte. In Hinsicht ihrer Kostbarkeiten sah ich, dass sie ihren Schmuck Lene Grough gab; ihre Ohrringe trug sie stets, und ich vermute auch, dass sie ihr Haarbracelet mitgenommen hat, denn ich fand es nirgends.

»Bei Gott! Da ist es wieder!« rief Mat, voll Erstaunen den Brief fallen lassend, sein einziger Gedanke war nur das Haarbracelet.

Kaum hatte er seinen Ausruf der Verwunderung geäußert, als er die Haustür hastig auf- und zuschlagen hörte. Zack war eben eingetreten. ——

»Ich bin erfreut, dass er kommt«, murmelte Mat, nahm schnell den Brief vom Fußboden auf und steckte ihn in die Tasche. »Da gibts noch ein anderes Geheimnis, das ich aufhellen muss, bevor ich weiter gehe —— und Zack hat das rechte Maul, mir zu helfen.«



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