Zwei Schicksalswege

Vierunddreißigstes Kapitel

Eine nächtliche Erscheinung

Ich kehrte in das Wohnzimmer des Häuschens zurück, zog einen Stuhl an das Fenster und schlug eine leere Seite meines Notizbuches aus. Um im Falle meines Todes meinen Testamentsvollstreckern manche Mühe und Ungewissheit zu ersparen, musste ich ihnen noch einige Weisungen geben. Indem ich meinen letztwilligen Bestimmungen die gewöhnliche Aufschrift »Notizen für meine Rückkehr nach London« als Deckmantel gab, begann ich zu schreiben.

Als ich eine Seite des Notizbuches beschrieben und die andere eben aufgeschlagen hatte, überkam mich eine gewisse Schwerfälligkeit, die mich hinderte, meine Gedanken auf dem Gegenstand, den ich vor hatte, zu richten. Sofort erinnerte ich mich eines ähnlichen Zustandes, der mich in Shetland befallen hatte. als ich mich vergebens bemühte, den Brief an meine Mutter zu verfassen, den Miss Dunroß für mich schreiben wollte. Durch den Vergleich, den ich zwischen damals und jetzt anstellte, wurden meine Gedanken jetzt, wie damals, auf meine letzten Erinnerungen an Frau van Brandt, gelenkt. Eine oder zwei Minuten später gewahrte ich wiederum die seltsame körperliche Empfindung, deren ich mir zum ersten Male in dem Garten bei Mr. Dunroß's Hause bewusst wurde. Dasselbe geheimnisvolle Beben durchzitterte mich von Kopf bis Fuß. Ich blickte zwar wieder um mich, hatte aber kein klares Bewusstsein von den Gegenständen, auf denen meine Augen ruhten. Meine Nerven zitterten an diesem milden Sommerabende, als ob elektrische Strömungen in der Luft wären, denen ein Sturm folgen würde. Ich legte mein Notizbuch und Bleistift auf den Tisch und erhob mich, um wieder hinaus unter die Bäume zu gehen. Es erwies sich aber, dass selbst die kleine Anstrengung, das Zimmer zu durchschreiten, über meine Kräfte war. Ich stand an die Stelle gewurzelt und hielt mein Gesicht der offenen Tür zugewendet, durch die das Mondlicht hereinströmte.

Es verging eine Weile, da, als ich immer noch durch die Tür hinaussah, bemerkte ich, dass sich etwas, weit unten zwischen den Bäumen, die das Ufer des Sees einfassten, bewegte. Ich hatte zuerst den Eindruck, als ob zwei graue Schatten sich langsam durch die Baumstämme zu mir heranschlängelten. Allmälig aber gewannen die Schatten bestimmtere Umrisse, bis sie sich mir als zwei vollständig bekleidete Gestalten darstellten, von denen die eine größer war als die andere. Als sie näher und näher herankamen, verschwand die dunkelgraue Färbung um sie her. Sie wurden von einem ihnen eigenen, inneren Lichte sanft erhellt, als sie der geöffneten Tür näher traten. Ich stand zum dritten Male in der geisterhaften Gegenwart von Frau von Brandt und neben ihr an ihrer Hand erblickte ich eine zweite nie vorhergesehene Gestalt, es war die Erscheinung ihres Kindes.

So standen die Beiden Hand in Hand vor mir, selbst durch den hellen Mondschein hindurch umstrahlt von ihrem überirdischen Lichte. Das Antlitz der Mutter blickte mich wiederum mit den traurigen, stehenden Augen, deren ich mich so wohl erinnerte, an. Das unschuldige Antlitz des Kindes aber strahlte von einem engelhaften Lächeln. In unaussprechlicher Spannung erwartete ich das erste Wort, das sie sprechen, die erste Bewegung, die sie machen würden. Zuerst erfolgte die Bewegung. Das Kind ließ die Hand der Mutter los und, sich leise aufwärts hebend, schwebte es in der Luft als eine sanftstrahlende Erscheinung, die aus dem dunklen Hintergrunde der Bäume hervorleuchtete. Die Mutter glitt in das Zimmer und blieb vor dem Tische stehen, auf den ich mein Notizbuch und Bleistift niedergelegt hatte, als ich nicht mehr zu schreiben vermochte. Wie bei den früheren Malen nahm sie auch jetzt den Bleistift und schrieb auf die leere Seite, dann winkte sie mir wie früher, zu ihr zu kommen. Ich näherte mich ihrer ausgestreckten Hand und empfand wiederum die geheimnisvolle Wonne, als sie meine Brust berührte, wiederum hörte ich sie mit ihrer leisen, melodischen Stimme die Worte wiederholen: »Gedenke mein. Komm zu mir.« Ihre Hand sank zu meiner Brust herab. Das bleiche Licht, das mir ihre Gestalt enthüllt hatte, zitterte, erblasste und verschwand. Sie hatte gesprochen und war verschwunden. Ich ergriff das geöffnete Notizbuch und fand diesmal nur folgende Worte von der Geisterhand geschrieben:

»Folge dem Kinde.«

Ich sah in die einsame, nächtliche Landschaft wiederum hinaus. Dort, mild auf dem dunklen Hintergrunde der Bäume erglänzend, schwebte in der Luft noch immer die Erscheinung des Kindes im Sternenlichte.

Ohne es mir selbst klar bewusst zu sein, trat ich vor und überschritt die Türschwelle. Zwischen den Bäumen bewegte sich vor mir her die sanft leuchtende Gestalt des Kindes. Ich folgte ihm, als befände ich mich im Zauberbann. Die Erscheinung, die immer vor mir herschwebte, führte mich durch den Wald, an meiner alten Heimat vorbei, zurück zu den einsamen Nebenwegen, auf denen ich von dem Marktflecken nach dem Hause hergewandert war. Die lichte Gestalt des Kindes, die tief unten an dem wolkenlosen Himmel schwebte, hielt von Zeit zu Zeit still, als wir beide unseren Weg zurücklegten. Sein strahlendes Gesicht blickte lächelnd auf mich nieder, dann winkte es mit seiner kleinen Hand und schwebte wieder weiter, indem es mich geleitete, wie in alter Zeit der Stern den Weisen des Morgenlandes ihren Weg zeigte.

Ich erreichte die Stadt. Die Luftgestalt des Kindes hielt an und schwebte über dem Hause, wo ich am Abend meinen Reisewagen zurückgelassen hatte. Ich befahl, dass die Pferde zu einer weiteren Reise angespannt wurden. Der Postillon erwartete meine weiteren Bestimmungen. Ich blickte aufwärts. Des Kindes Hand deutete südwärts, den Weg nach London entlang. Ich gab dem Manne den Befehl, nach dem Orte zurückzukehren, wo ich den Wagen gemietet hatte. Im Weiterfahren sah ich von Zeit zu Zeit aus dem Fenster. Die lichte Gestalt des Kindes schwebte vor mir her, tief unten am wolkenlosen Himmel dahingleitend. Ich wechselte von Station zu Station die Pferde und fuhr die ganze Nacht hindurch immer weiter, bis die Sonne am östlichen Himmel aufging. Ob es Nacht oder Tag war, die Gestalt des Kindes schwebte in ihrem gleichmäßigen, geheimnisvollen Lichte immer vor mir her. Sie geleitete mich eine Meile nach der andern vorwärts auf dem Wege nach Süden, bis wir die ländlichen Umgebungen hinter uns ließen und durch das Getöse und Gewirre der großen Stadt hindurch, im Schatten des alten Tower anlangten, wo wir vor uns den Fluss, der daran vorüberfließt, erblickten.

Der Postillon kam an die Wagentür und fragte mich, ob ich noch ferner seiner Dienste bedürfe. Als ich die Gestalt des Kindes auf seiner lustigen Bahn stillstehen sah, hatte ich ihm zugerufen, dass er anhalten möchte. Nun sah ich wieder hinauf. Die Hand des Kindes wies nach dem Flusse. Ich bezahlte den Postillon und verließ den Wagen. Das Kind führte mich, vor mir herschwebend, zu einem Landungsplatz, der mit Reisenden und ihrem Gepäck angefüllt war. Ein Schiff lag vor der Landungsbrücke, eben zur Abfahrt gerüstet. Das Kind führte mich an Bord des Schiffes und verweilte dann über mir in der dunstigen Luft schwebend. Ich sah hinauf. Das Kind sah mit seinem strahlenden Lächeln zu mir nieder und deutete den Strom entlang, ostwärts auf die ferne See. Während meine Augen fest auf die sanft dahingleitende Gestalt geheftet waren, sah ich sie verschwinden, aufwärts, immer aufwärts zu dem höheren Lichte, wie die Lerche aufwärts und weiter aufwärts an dem Morgenhimmel verschwindet. So war ich nun wieder mit meinen irdischen Mitmenschen allein und mir blieb kein anderer Aufschluss, um mich weiter zu führen, als die Hand des Kindes, die ostwärts auf die ferne See gedeutet hatte.

Ein Matrose wickelte in meiner Nähe auf dem Deck einen losen Ankertau auf. Ich fragte ihn, nach welchem Hafen das Schiff steuere. Der Mann sah mich mit mürrischem Erstaunen an und antwortete: »Noch Rotterdam.«


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