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Namenlos



Elftes Capitel.

Die Sonne sank tiefer, die Westwindbrise wehte kühl und erfrischend in das Haus. Wie der Abend vorrückte, kam das fröhliche Läuten im Dorfe näher und näher. Feld und Blumengarten fühlten den Einfluß der Stunde ebenfalls und strömten ihren süßesten Wohlgeruch aus. Die Vögel in Noras Vogelhaus sonnten sich in der Stille der Abendröthe und sangen dem scheidenden Tage ihr dankbares Abschiedslied.

Auf kurze Zeit in ihrem Laufe aufgehalten, ging die unbarmherzige Gewohnheit des Hauses gespenstig ihren alten Gang. Die schreckbetäubten Dienstboten nahmen blindlings ihre rettende Zuflucht wieder zu den von der Tagesstunde vorgeschriebenen Verrichtungen. Der Bediente setzte leise den Tisch für das Mittagsessen zurecht. Die Magd saß und wartete in gedankenloser Ungewißheit, mit den Heißwassergefäßen für die Schlafzimmer, die neben ihr standen in der hergebrachten Ordnung. Der Gärtner, welcher zu seinem Herrn beschieden war mit den Rechnungsbelegen für das über seine Vollmacht ausgegebene Geld, sagte, sein guter Ruf läge ihm sehr am Herzen, und ließ zu der bestimmten Zeit die Belege zurück. Die Gewohnheit, welche niemals nachgibt und der Tod, welcher Niemand verschont, begegneten sich auf den Trümmern des Glückes dieser Menschen, ... und der Tod mußte zurückstehen.

Schwer hatten sich die Gewitterwolken des Unheils über dem Hause gesammelt, schwer, doch sollten sie sich noch finsterer Zusammenziehen. Um fünf Uhr an diesem Abend hatte das hereinstürmende Unglück den ersten Schlag gethan. Bevor noch eine weitere Stunde vergangen war, folgte bei der kranken Gattin der Enthüllung von des Gatten jähem Tode der Kampf auf Leben und Tod. Sie lag hilflos auf ihrem Witwenbette ihr eigenes Leben und das Leben ihres ungeborenen Kindes hingen nur noch an einem Haar.

Nur eine Seele behielt alle ihre Kraft beisammen, nur ein rettender Geist stand hilfreich auf in dem Hause der Trauer.

Wenn Miss Garths Jugendzeit so ruhig und glücklich als ihr späteres Leben auf Combe-Raven dahin geflossen wäre, so würde auch sie den grausamen Forderungen dieser Zeit erlegen sein. Allein die Jugend der Erzieherin war durch Familienunglück geprüft und gefeit worden. Sie trat ihre schrecklichen Pflichten mit dem unerschütterlichen Muthe eines Weibes an, das zu leiden gelernt hat. Sie ganz allein hatte die schwere Aufgabe, den Töchtern zu eröffnen, daß sie keinen Vater mehr hätten, sie allein hatte die Sorge, sie aufzurichten, als ihnen die fürchterliche Gewißheit ihres herben Verlustes endlich klar geworden war.

Ihre geringste Sorge war um die ältere Schwester. Der Todesschmerz von Noras Kummer hatte sich durchgerungen zu dem natürlichen Trost der Thränen. Dies war nicht der Fall bei Magdalenen Thränen und sprachlos saß sie in dem Zimmer, wo die Enthüllung von ihres Vaters Tode sie zuerst getroffen hatte. Ihr Gesicht, unnatürlich versteinert durch den starren Kummer des Alters —— ein geisterbleiches eintöniges Weiß, fürchterlich anzusehen. Nichts konnte sie aufrichten, Nichts sie innerlich befreien. Sie sagte nur:

—— Sprecht nicht mit mir, berührt mich nicht. Laßt es mich allein tragen.

Dann verfiel sie wieder in ihr Schweigen. Gleich der erste große Schmerz, welcher finster in das Leben der Schwestern getreten war, hatte, wie es schien, bereits ihren gewöhnlichen Charakter umgewandelt.

Das Zwielicht sank herab und verschwand, und die Sommernacht kam glänzend heraus. Als das erste sorgfältig verhüllte Licht in dem Krankenzimmer angezündet wurde, kam der Arzt, der von Bristol herbei geholt war, an, um sich mit dem Hausarzte der Familie zu berathen. Er konnte keinen Trost geben: er konnte nur sagen:

—— Wir müssen versuchen und hoffen. Der Schlag, welcher sie traf, als sie die Nachricht von des Gatten Tode überraschte, hat ihre Kraft zu einer Zeit niedergeworfen, wo sie dieselbe gerade am Nöthigsten hatte. Keine Anstrengung soll gespart werden, um sie zu erhalten. Ich will die Nacht hier bleiben.

Er öffnete, als er sprach, eins von den Fenstern, um mehr Luft herein zu lassen. Die Aussicht ging auf die Anfahrt vor dem Hause und die Landstraße draußen. Kleine Gruppen von Leuten standen vor der Hausthür und sahen herein.

—— Wenn diese Personen irgendwie laut werden, sagte der Doktor, so müssen sie bedeutet werden, wegzugehen.

Es war nicht nöthig, sie zu bedeuten. Es waren nur die Arbeiter, welche auf den Ländereien des Verstorbenen gearbeitet hatten und darunter hin und wieder einige Frauen und Kinder aus dem Dorfe. Sie dachten alle seiner. Einige sprachen von ihm, und es erhöhte ihre schwache Denkkraft, wenn sie dabei sein Haus ansehen durften. Die Vornehmen der Gegend waren meist freundlich gegen sie (sagten die Männer), aber wie er war doch Keiner. Die Frauen erzählten einander flüsternd von seinem tröstlichen Wesen, wenn er in ihre Häuschen kam.

—— Er war ein fröhlicher Herr, die gute Seele, und dachte an uns, er kam niemals und starrte uns an, wenn Essenszeit war. Die Anderen, vor denen mag uns Gott behüten und bewahren... Alles was er jemals sagte, war: Nächstes Mal besser.

So standen sie und sprachen von ihm und sahen nach dem Hause und dem Grundstück und gingen allmälich zu Zweien und Dreien hinweg mit dem dunklen Gefühl, daß sie sich des Anblicks seines freundlichen Angesichts niemals wieder erfreuen würden. Der beschränkteste Kopf unter ihnen wußte an dem Abend, daß die rauhen Wege der Armuth nunmehr, wo er dahin gegangen war, noch einmal so rauh für sie sein würden.

Ein wenig später wurde an die Thür des Schlafzimmers die Nachricht gebracht, daß der alte Mr. Clare allein ins Haus gekommen sei und daß er unten in der Flur warte, um zu hören, was der Arzt sage. Miss Garth war nicht im Stande selbst zu ihm hinunter zu gehen: sie ließ es ihm bestellen. Er sagte zu dem Diener:

—— Ich will in zwei Stunden wieder kommen und mich erkundigten.

Darauf ging er langsam fort. Unähnlich wie er war im Vergleich mit anderen Männern ließ er nach dem jähen Tode seines alten Freundes keine merkbare Veränderung an sich wahrnehmen. Das Mitgefühl, das sich in seiner persönlichen Erkundigung, um deren Willen er in das Haus gekommen war, aussprach, war das einzige Zeichen menschlicher Regung; welches sich der schroffe, unbegreifliche Mann entschlüpfen ließ.

Er kam wieder, als die zwei Stunden Vorüber waren, und dies Mal sprach Miss Garth mit ihm.

Sie reichten sich schweigend die Hände. Sie wartete und raffte sich selbst zusammen, um ihn anhören zu können, wenn er von seinem verlorenen Freunde sprechen würde. Doch nein, er erwähnte nicht ein Mal das fürchterliche Ereigniß, nicht ein einziges Mal spielte er an auf den fürchterlichen Todesfall Er sprach nur die Worte:

—— Ist es besser oder schlimmer mit ihr?

Weiter sagte er Nichts. War der Zoll seines Beileids wegen des Gatten so vollständig von dem Ausdrucke seiner Besorgniß um die Gemalin desselben unterdrückt? Der Charakter des Mannes, der sich unbeugsam gegen die Welt und gegen die Gewohnheiten der Menschen auflehnte, rechtfertigte vielleicht eine solche Erklärung seines Benehmens. Er wiederholte seine Frage:

—— Geht es besser oder schlimmer mit ihr?

Miss Garth antwortete ihm:

—— Nicht besser; wenn eine Veränderung da ist, so ist es eher zum Schlimmeren.

Sie sprach diese Worte am Fenster des Morgenzimmers, welches sich nach dem Garten öffnete. Mr. Clare hielt inne, als er die Antwort auf seine Frage gehört hatte, that dann einige Schritte, als ob er fortgehen wollte, wandte sich aber plötzlich wieder um und sprach von Neuem.

—— Hat der Doktor sie aufgegeben? fragte er.

—— Er hat uns nicht verschwiegen, daß sie in Gefahr schwebt. Wir können nur beten für sie.

Der alte Mann legte s eine Hand aus Miss Garths Arm, als sie ihm antwortete, und sah ihr aufmerksam ins Gesicht.

—— Sie glauben an das Gebet ——? sagte er.

Miss Garth wich mit Schmerz, im Angesicht vor ihm zurück.

—— Sie hätten es mir ersparen sollen, Herr, in einer solchen Zeit wie diese eine solche Frage zu hören!

Er beachtete ihre Antwort nicht, seine Augen waren fort und fort auf ihr Gesicht geheftet.

—— Beten Sie, sagte er, wie Sie noch nie zuvor gebetet haben, für die Erhaltung von Mrs. Vanstones Leben.

Und damit ging er fort. Seine Stimme und Art und Weise drückten eine unmittheilbare Furcht vor der Zukunft aus, welche seine Worte nicht ausgesprochen hatten. Miss Garth ging ihm bis in den Garten nach und rief ihn an. Er hörte sie, aber er kehrte nicht wieder um. Er beschleunigte seine Schritte, als ob er vermiede, mit ihr zusammen zu treffen. Sie beobachtete ihn über den freien Rasenplatz weg im warmen Sommermondlichte. Sie sah seine weißen greisenhaften Hände, sah sie plötzlich gegen den schwarzen Hintergrund der Buschanlagen erhoben und gerungen über feinem Kopfe. Sie fielen herab, die Bäume nahmen ihn in ihre Schatten auf; und er war verschwunden.

Miss Garth begab sich zurück zu der Leidenden auf ihrer Seele die Last einer neuen Sorge.

Es war jetzt elf Uhr vorüber. Eine kurze Zeit war vergangen, seit sie die Schwestern gesehen und gesprochen hatte. Die Fragen, welche sie an eines von den Dienstmädchen richtete, brachten aus diesem nur die Meldung heraus, daß Beide auf ihren Zimmern seien. Sie verschob ihre Rückkehr an das Bett der Mutter, um vorher noch einige letzte Trostesworte den Töchtern zu sagen, ehe sie dieselben für die Nacht verließ. Noras Zimmer war das nächste. Sie öffnete leise die Thür und sah hinein. Die knieende Gestalt neben dem Bette zeigte ihr an, daß Gottes Hilfe der vaterlosen Waise in ihrer Kummersnoth nahe war. Dankesthränen sammelten sich in ihren eigenen Augen, als sie das sah, dann machte sie die Thür leise wieder zu und ging in Magdalenens Zimmer. Dort hielt sie ungewiß ihre Schritte auf der Schwelle an und wartete einen Augenblick, ehe sie eintrat.

Ein Geräusch in dem Zimmer erreichte ihr Ohr, das eintönige Rauschen eines Frauenkleides, bald näher, bald ferner; ohne Unterlaß von einem Ende zum andern über den Boden gehend, ein Geräusch, welches ihr sagte, daß Magdalene in der Einsamkeit ihrer Kammer auf und abging. Miss Garth klopfte. Das Rauschen hörte auf, die hür öffnete sich, und das trauernde Mädchenangesicht stand vor ihr, verschlossen in eisig kalte Verzweiflung, die großen hellen Augen mechanisch in die ihrigen blickend, so leer und so thränenlos wie immer.

Dieser Blick that dem Herzen der gläubigen Frau unendlich wehe, welche sie auferzogen und geliebt hatte von ihrer Kindheit an. Sie nahm Magdalenen zärtlich in ihre Arme.

—— O meine Liebe, sagte sie, noch keine Thränen?! O, könnte ich Sie sehen, wie ich Nora gesehen habe! Sprechen Sie doch mit mir, Magdalene, versuchen Sie, ob Sie mit mir sprechen können!

Sie versuchte es und sprach:

—— Nora, sagte sie, fühlt keine Gewissensbisse Er gehorchte nicht Noras Interessen, als er in seinen Tod ging, er gehorchte nur meinen.

Mit dieser schrecklichen Antwort drückte sie ihre kalten Lippen auf Miss Garths Wangen.

—— Lassen Sie mich es allein tragen, sagte sie und schloß sanft die Thür.

Wieder stand Miss Garth auf der Schwelle, und wieder kam und ging das Geräusch des rauschenden Gewandes bald nahe, bald fern, hin und her mit einer grausamen, mechanischen Regelmäßigkeit, welche die wärmste Sympathie erkältete und die kühnste Hoffnung niederschlug.

Die Nacht verging. Es war ausgemacht worden, daß, wenn keine Veränderung zum Bessern am Morgen eintreten würde, der Londoner Arzt, welchen Mrs. Vanstone einige Monate früher zu Rathe gezogen hatte, zum nächsten Tag herbeschieden werden sollte. Es trat keine Besserung ein, und man schickte nach dem Arzte. Als der Morgen vorrückte, kam Frank aus dem kleinen Hause, um sich zu erkundigen. Hatte Mr. Clare seinem Sohne die Pflicht, der er den Tag vorher sich selbst unterzogen, vielleicht nur aus Widerwillen auferlegt, um nicht nach Dem, was er Miss Garth gesagt hatte, wieder mit ihr zusammenzukommen? Es mochte wohl so sein. Frank konnte darüber kein neues Licht bringen, war er doch nicht im Vertrauen des Vaters. Er sah bleich und verwirrt aus. Seine ersten Fragen nach Magdalenen zeigten, wie tief sein weiches Gemüth durch den Unglücksfall erschüttert war. Er war nicht im Stande, seine eigenen Fragen herauszubringen, die Worte zitterten ersterbend auf seinen Lippen, und seine schnell bereiten Thränen traten ihm ins Auge. Miss Garths Herz erwärmte sich für ihn zum ersten Male. Der Kummer hat Eines an sich, was edel ist, er nimmt alle und jede Theilnahme an, komme sie, woher sie wolle. Sie sprach dem jungen Manne durch einige wenige Worte Muth ein und gab ihm beim Gehen die Hand.

Noch Vormittag kehrte Frank mit einem andern Auftrage zurück. Sein Vater wünschte zu wissen, ob nicht Mr. Pendril auf Combe-Raven an diesem Tage erwartet werde. Wenn die Ankunft des Advocaten in Aussicht stehe, so solle Frank ihn an der Station erwarten und ihn mit nach dem Nachbarhause nehmen, wo ein Bett für ihn bereit gehalten werden solle. Diese Botschaft nahm Miss Garth Wunder. Sie zeigte ihr, daß Mr. Clare von der Absicht seines verstorbenen Freundes, nach Mr. Pendril zu senden, unterrichtet war. War des alten Mannes vorsorgliches Erbieten seiner Gastfreundschaft vielleicht ein anderer indirecter Ausdruck des natürlichen menschlichen Beileids, das er verkehrterweise verbarg? Oder dachte er schon im Voraus an gewisse geheime Umstände, welche Mr. Pendrils Anwesenheit nöthig machten, von welcher zur Zeit die Verwaiste Familie nicht die entfernteste Ahnung hatte? Miss Garth hatte das Herz zu voll und zu wenig Hoffnung, als daß sie sich bei einer dieser Erwägungen aufgehalten hätte. Sie sagte Franc daß Mr. Pendril um drei Uhr erwartet würde und schickte ihn mit bestem Dank zurück.

Kurz nach seinem Weggehen wurden die Besorgnisse, welche ihre Seele in Betreff Magdalenens etwa hegen konnte, durch bessere Nachrichten von ihr gemildert, als sie die Erfahrung von letzter Nacht hätte füglich erwarten lassen. Noras Einfluß war thätig gewesen, um die Schwester aufzurichten, und Noras ruhiges Mitgefühl hatte dem verhaltenen Kummer endlich einen Ausgang verschafft. Magdalene hatte schwer gelitten, sie mußte bei einer Anlage wie die ihres Charakters unter der Bemühung, sie zu trösten, leiden. Die innen verhaltenen Thränen waren nicht leicht gekommen, sie waren mit einem quälenden, leidenschaftlichen Ungestüme zum Ausbruch gekommen. Aber Nora hatte sie nicht eher verlassen, als bis der Kampf zu Ende und die Ruhe eingetreten war. Diese günstigere Nachricht gab Miss Garth Muth, sich in ihr eigenes Zimmer zurückzuziehen und der Ruhe zugenießen, deren sie so sehr bedurfte. An Leib und Seele aufgerieben, schlief sie aus plötzlicher Erschöpfung und hatte ein paar Stunden einen schweren Schlaf ohne Träume. Es war zwischen drei und vier Uhr Nachmittags, als sie von einem der Dienstmädchen geweckt wurde. Das Mädchen hatte ein Billet in der Hand, ein Billet, das Mr. Clare, der Sohn, mit der Aufforderung, daß es augenblicklich an Miss Garth abgegeben werde, zurückgelassen hatte. Der Name auf dem unteren Ende des Umschlags war »William Pendril«. Der Advocat war angekommen.

Miss Garth öffnete das Billet. Nach einigen einleitenden Sätzen des Bedauerns und des Beileids zeigte der Schreiber seine Ankunft unter Mr. Clares Dach an und ging dann offenbar infolge seines Berufs weiter, um ein sehr auffallendes Verlangen zu stellen.

—— Wenn, schrieb er, eine Veränderung zum Bessern bei Mrs. Vanstone eintreten sollte mag es auch nur eine Besserung für kurze Zeit, oder eine andauernde Besserung, auf welche wir Alle hoffen, sein ——: in beiden Fällen lassen Sie mich es augenblicklich wissen. Es ist von der äußersten Wichtigkeit, daß ich mit ihr spreche, sobald sie Kraft genug erlangt, um mir fünf Minuten ihre Aufmerksamkeit zu schenken und um nach Ablauf dieser Zeit im Stande zu sein, ihren Namen zu schreiben. Haben Sie die Güte, mein Begehren im strengsten Vertrauen den zugezogenen Aerzten mitzutheilen. Diese werden die ungeheure Wichtigkeit begreifen, welche ich auf diese Unterredung lege, wenn ich Ihnen sage, daß ich Anordnung getroffen habe, alle anderen Geschäfte auf mich zu nehmen und daß ich mich stets in Bereitschaft halte, um Ihrer Aufforderung sofort nachzukommen in jeder Stunde des Tages und der Nacht.

Solchergestalt schloß der Brief. Miss Garth las ihn zwei Mal durch. Beim zweiten Lesen verbanden sich in ihrer Seele durch ein dunkles Band des Zusammenhanges das Ersuchen, das der Advocat an sie jetzt stellte, mit den Abschiedsworten, welche die vorige Nacht Mr. Clares Lippen entschlüpft waren. Es war also noch irgend ein anderes ernstes Interesse gefährdet, das Mr. Pendril und Mr. Clare kannten, noch außer dem ersten und heiligsten Interesse der Wiederherstellung von Mrs. Vanstone. Wen betraf es? Die Kinder? Wurden sie von irgend einem neuen Unheile bedroht, welches durch die Unterschrift der Mutter abgewendet werden konnte? Was sollte das bedeuten? Sollte es bedeuten, daß —— Mr. Vanstone gestorben war, ohne ein Testament zu hinterlassen?

Bei ihrer traurigen und verwirrten Gemüthsverfassung war Miss Garth nicht im Stande, bei sich selber zur Klarheit zu kommen, wie sie in einer glücklichern Zeit wohl gekonnt hätte. Sie eilte in das Vorzimmer von Mrs. Vanstones Gemach und übergab, nachdem sie Mr Pendrils Stellung zur Familie dargelegt hatte, seinen Brief den Händen der Aerzte. Beide antworteten, ohne sich zu besinnen, in demselben Sinne: Mrs. Vanstones Befinden mache eine solche Unterredung, wie sie der Advocat wünsche, schlechterdings zur Unmöglichkeit. Wenn sie sich von der gegenwärtigen furchtbaren Erschöpfung erholt hätte, sollte Miss Garth sofort von der Besserung in Kenntniß gesetzt werden. Mittlerweile sollte Mr. Pendril als Antwort das eine Wort mitgetheilt werden: unmöglich.

—— Sie wissen, welche Wichtigkeit Mr. Pendril der Unterredung beilegt? sagte Miss Garth.

Ja, beide Doktoren wußten es.

—— Mein Geist ist in dieser schrecklichen Noth so wirr und rathlos, meine Herren. Kann wohl Einer von Ihnen errathen, weshalb die Unterschrift erforderlich ist? Oder was der Gegenstand der Unterredung sein mag? Ich habe Mr. Pendril nur gesehen, wenn er bei früheren Besuchen hierher kam, ich habe kein Recht, das mir gestattete, ihn zu fragen. Wollen Sie den Brief noch einmal lesen? Glauben Sie, es geht daraus hervor, daß Mr. Vanstone kein Testament gemacht hat?

—— Ich denke kaum, daß Dieses daraus hervorgeht, sagte einer von den Doktoren. Aber selbst gesetzt, Mr. Vanstone wäre ab intestato gestorben, so nimmt sich doch das Gesetz der Interessen seiner Witwe und seiner Kinder getreulich an...

—— Würde Dies auch der Fall sein, so fiel der andere Arzt ein, wenn das Vermögen in Grundbesitz besteht?

—— Das weiß ich in diesem Falle so genau nicht. Wissen Sie vielleicht zufällig, Miss Garth, ob Mr. Vanstones Vermögen in Capitalien oder in Ländereien besteht?

—— In Capitalien, erwiderte Miss Garth. Ich habe es bei mehr als einer Gelegenheit von ihm selbst gehört.

—— Dann kann ich Ihre Seele beruhigen aus meiner eigenen Erfahrung. Das Gesetz giebt, wenn er ohne Testament stirbt, ein Drittheil seines Vermögens der Witwe und theilt den Rest gleichmäßig unter die Kinder.

— Aber wenn Mrs. Vanstone....

—— Wenn Mrs. Vanstone sterben sollte, fuhr der Doctor fort, die Frage beendigend, die Miss Garth nicht den Muth hatte, zu vollenden, glaube ich recht unterrichtet zu sein, wenn ich Ihnen sage, daß das Vermögen nach dem Gange des Rechts den Kindern zufällt. Was also auch für eine dringende Angelegenheit in der Unterredung zur Sprache kommen mag, welche Mr. Pendril verlangt, ich kann keinen Grund dafür sehen, dieselbe mit Mr. Vanstones Intestatverlassenschaft in Verbindung zu bringen. Aber auf jeden Fall richten Sie nur getrost zu Ihrer eigenen Beruhigung die Frage an Mr. Pendril selbst.

Miss Garth ging, um, den von dem Doktor gegebenen Rath zu befolgen. Nachdem sie Mr. Pendril den ärztlichen Bescheid mitgetheilt, welcher ihm die nachgesuchte Unterredung so rund abschlug, fügte sie in kurzen Worten die Rechtsfrage hinzu, welche sie an die Doctoren gerichtet hatte, und deutete in zarter Weise auf ihre natürliche Scheu hin, nach den Beweggründen fragend, welche den Rechtsanwalt vermocht hätten, jenes Ersuchen zu stellen. Die Antwort, welche sie erhielt, war im höchsten Grade geschraubt: Sie brachte ihr durchaus keine günstige Meinung von Mr. Pendril bei. Er bestätigte nur in allgemeinen Ausdrücken die Auslegung des Gesetzes, wie sie die Doctoren ihr gegeben hatten, sprach seine Absicht aus, in dem Nachbarhause zu verweilen in der Hoffnung, daß eine Aenderung zum Bessern Mrs. Vanstone in den Stand setzen werde, ihn anzunehmen, und schloß seinen Brief ohne die geringste Erklärung seiner Gründe und ohne ein auf die Hauptfrage, das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines letzten Willens von Mr.Vanstone, bezügliches Wort der Aufklärung.

Die absichtliche Vorsicht der Antwort des Advocaten blieb für Miss Garths Gemüth eine Quelle neuer Unruhe, bis das lange ersehnte Ereigniß des Tages alle ihre Gedanken aus ihre alles Andere bei Seite stellende Hauptsorge wegen Mrs. Vanstone zurücklenkte.

In den ersten Abendstunden traf der Arzt von London ein. Er beobachtete lange am Bette der Leidenden, er blieb noch länger in Berathung mit seinen ärztlichen Collegen und ging dann wieder in das Krankenzimmer, bevor Miss Garth seiner habhaft werden konnte, damit er ihr die Meinung mittheile, welche er nunmehr gefaßt habe.

Als er zum zweiten Male in das Vorzimmer heraustrat, nahm er schweigend einen Stuhl neben ihr ein. Sie sah in sein Gesicht, und die letzte schwache Hoffnung erstarb in ihr, ehe er die Lippen öffnete.

—— Ich muß die harte Wahrheit sagen, sagte er sanft, Alles was nur geschehen konnte, ist in der That geschehen. Die nächsten vierundzwanzig Stunden im höchsten Falle werden Ihrer Angst ein Ende machen. Wenn die Natur nicht eine Anstrengung macht in jener Zeit —— ich bedaure es sagen zu müssen —— müssen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt machen.

Diese Worte sagten Alles: sie verkündigten das baldige Ende.

Die Nacht verging, und sie lebte noch. Der nächste Tag kam, und sie fristete sich hin, bis die Uhr fünf zeigte. Um diese Zeit hatte die Nachricht vom Tode ihres Gatten den tödtlichen Schlag gegen sie geführt. Als die Stunde wieder herum war, ließ sie die Gnade Gottes eingehen in eine bessere Welt. Ihre Töchter lagen auf ihren Knieen neben dem Bette, als sie ihren Geist aushauchte. Sie verließ sie ohne Bewußtsein von deren Gegenwart, in Gnaden und zum Glück bewahrt vor dem Schmerze des letzten Lebewohls.

Ihr Kind überlebte sie, bis der Abend zu Ende ging und der Sonnenuntergang nur matt am westlichen Himmel sichtbar war. Als die Dunkelheit kam, flackerte das Licht des kleinen schwächlichen Lebens, das vom ersten Augenblick an nur zart und spärlich war, noch ein Mal auf und erlosch. Alles, was irdisch war an Mutter und Kind, lag diese Nacht auf demselben Bette. —— Der Engel des Todes hatte sein schreckliches Gebot erfüllt, und die beiden Schwestern standen allein in der Welt.


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