Die Heirat im Omnibus



Erstes Kapitel.

Wenn wir die Neigungen und Impulse betrachten, welche das Spiel unserer Leidenschaften regeln, so sind es oft die einfachsten und geringfügigsten von allen, die uns beseelen. Erst wenn der Stoß kommt und unser Gemüth davor zurück bebt, wenn die Freude sich in Kummer oder der Kummer sich in Freude verwandelt, sehen wir klar, welchen Alltäglichkeiten der wirklichen Welt unser Geist seine höchsten Freuden oder seine tiefste Schwermuth entlehnt hat.

Es war mir beschieden, Etwas davon zu erfahren, als, nachdem ich einen Augenblick zögernd vor der Thür des Hauses. meines Vaters gestanden und mich einsamer in der Welt stehen sah als die Unglücklichsten, die an mir vorübergingen, meine Schritte wie sonst die Richtung nach der Nordvilla nahmen. Der Instinct einer letzten Pflicht, welche mir zu erfüllen blieb, leitete mich weit mehr als ein freier Impuls meines eigenen Willens durch die Straßen von London mitten im strahlenden Glanze eines der schönsten Sommertage.

Ich sah mich daher abermals auf dem Wege der täglichen Wanderung, die ich ein ganzes Jahr lang gemacht, und jetzt zum ersten Male bemerkte ich, daß es auf diesem ganzen Wege fast keinen Ort gab, der mir nicht theuer gewesen wäre und der sich nicht durch irgend eine Ideenverbindung mit Margarethe Sherwin in meine Erinnerung eingegraben hätte.

Hier sah ich den bekannten Kaufladen, an dessen Schaufenster so viele allerliebste kleine Tändeleien ausgestellt waren, daß ich im Vorbeigehen alle Mal in Versuchung kam, einige davon zu kaufen, um sie ihr zum Geschenke zu machen. Dort sah sich die geräuschvolle Ecke der Straße von aller Architektur entblößt, der aber meine Träume früher eine feenhafte Erscheinung liehen, weil ich, wenn ich bis hierher war, wußte, daß ich über die Hälfte der Entfernung zurückgelegt hatte.

Ein wenig weiter hin gewahrte ich die Bäume des Parks, Bäume, welche früher selbst in der Jahreszeit, wo sie entstaubt waren, mein Auge erfreuten; denn war ich nicht mit ihr unter ihren Schatten gewandelt? Noch einige Schritte und ich gelangte an die Ecke, wo man die lange Straße der Vorstadt verläßt, um Hollyoake Square zu betreten, einen einsamen, staubigen Ort, der früher dennoch für mich goldene Illusionen barg, gleich dem Vorhange von grobem Stoffe, welcher eine römische Madonna verhüllt.

Alle diese Ideen drängten sich mir auch jetzt noch auf, als ich entehrt und ruiniert denselben Weg nach der Nordvilla zurücklegte.

Ich ging, ohne einen Augenblick zu zögern und ohne an Umkehren auch nur zu denken. Ich hatte gesagt, daß die Ehre meiner Familie durch den Schlag, welcher mich getroffen, nicht berührt werden solle, und war entschlossen, dieses Wort zu halten bis zum letzten Hauche meines Lebens. Ich mußte meinen Vater zwingen, früher oder später seine Ungerechtigkeit zu bereuen und von seiner Verachtung gegen mich zurückzukommen.

Dieser Entschluß gab mir Vertrauen zu mir selbst, zu meiner Energie, Alles zu ertragen, jene Kaltblütigkeit, mit welcher ich trotz des von meinem Vater über mich ausgesprochenen Verbannungsurtheils gerade auf mein Ziel losging.

Und sicherlich, wenn jemals ein Schritt die Geduld des menschlichen Herzens auf eine furchtbare Probe gestellt hat, so war es dieser. Ich mußte Mr. Sherwin gegenübertreten —— vielleicht auch Margarethen, welche Demüthigung! —— ich mußte gewisse Worte aussprechen, ich mußte deutlich gewisse Wahrheiten zu verstehen geben, welche ihm zeigten, daß fortan jeder Betrug vergeblich, und daß die zweideutigen Ausdrücke seines Briefes von seiner Seite Beleidigungen, von Seiten seiner Tochter ein Meineid seien.

Dies mußte ich thun, und überdies mußte ich, indem ich den Verrath, dessen Opfer ich wart, entlarvte, mich gefaßt machen, die Familie, welcher ich trotz meiner Verbannung noch angehörte, gegen, Alles zu schützen, was durch den Geist der Rache, oder durch Sucht nach Gewinn oder durch die Frechheit des entdeckten Verbrechens und der getäuschten Habgier gegen sie versucht werden konnte. Es war eine schwere und beinahe Unmögliche Aufgabe, aber dennoch mußte ich sie erfüllen.

Den Gedanken an diese harte Nothwendigkeit hielt ich meinem Geiste unaufhörlich vor, nicht bloß um mich von meiner Pflicht zu überzeugen, sondern auch um mich gewissermaßen gegen einen andern Gedanken zu panzern, den ich in mir zu unterdrücken suchte: das Bild der bleichen, unbeweglichen Clara, so wie ich sie zuletzt ohnmächtig in den Armen meines Vaters liegen gesehen.

Die Dienerin stand gerade an der Gartenthür der Nordvilla. Es war dieselbe Dienerin die ich in den ersten Tagen meiner verhängnißvollen Leidenschaft gesehen und ausgefragt hatte. Sie empfing eben einen Brief aus der Hand eines sehr ärmlich gekleideten Mannes, der sich sowie ich mich näherte, rasch entfernte.

In dem Augenblicke, wo sie auf die Seite trat, um mich vorbeizulassen, waren ihre Verwirrung und Ueberraschung so groß, daß sie beinahe nicht im Stande war, mich anzusehen oder mit mir zu sprechen. Erst als ich die Thürstufen hinaufging, sagte sie zu mir:

»Miß Margarethe« so nannte sie sie noch! »

Miß Margarethe ist oben, Sir —— Sie wünschen doch wahrscheinlich ——«

»Ich wünsche sie nicht zu sprechen. Ich habe mit Mr. Sherwin zu sprechen.« Noch hastiger und verlegener als vorher öffnete die Dienerin mir die Thür, welche in den Corridor führte. Aus ihrer Verwirrung schloß ich, während ich eintrat, daß sie mich ihrer Instruction zuwider eingelassen hatte.

Mr. Sherwin, der in dem Zimmer war, rückte schnell den Schirm, welcher den Hintergrund des Zimmers verdeckte, als ob er mir Etwas verbergen wollte, das ich gleichwohl nicht gesehen hatte.

Hierauf kam er auf mich zu, bot mir die Hand, blickte dabei aber fortwährend unruhig nach dem Schirme hin.

»Ah, da sind Sie endlich! Wir wollen in den Salon gehen, nicht wahr? Na, am Schreiben hat es meinerseits nicht gefehlt ——«

Er schwieg plötzlich und ließ den ausgestreckten Arm wieder herabsinken.

Ich hatte noch kein einziges Wort gesagt, ohne Zweifel aber hatte er in meinem Blicke und in meinen Manieren Etwas; bemerkt, was ihm den Zweck meines Besuches verrieth.

»Warum sprechen Sie nicht?« sagte er nach einer kurzen Pause, »Warum sehen Sie mich so an? Doch kommen Sie —— wir wollen in das andere Zimmer gehen.«

Damit ging er an mir vorüber und nach der Thür, auf welche er zeigte und die er halb öffnete.

Woher kam dieser lebhafte Wunsch, mich zu entfernen? Wen oder was wollte er mir hinter dem Schirme verborgen halten?

Die Dienerin hatte mir gesagt, daß seine Tochter oben sei. Dies fiel mir ein, und da die Worte dieses Mannes mir eben so verdächtig waren als seine Thaten, so beschloß ich, in dem Zimmer zu bleiben, wo wir waren, um das Geheimniß zu durchdringen, welches augenscheinlich mich betraf.

»Ach,« sagte er, indem er die Thür noch weiter öffnete, »Sie wissen, daß der Salon sich jenseits des Speisezimmers befindet —— ich empfange meine Gäste stets in dem besten Zimmer.

»Man hat mich aber in dieses gewiesen,« antwortete ich, »ich habe weder Zeit noch Lust, Ihnen nach Ihrem Belieben aus einem Zimmer ins andere zu folgen. Was ich Ihnen zusagen habe ist nicht sehr lang und ich werde es Ihnen hier sagen, dafern Sie mir nicht die Gründe angeben, aus welchen Sie das Gegentheil wollen.«

»Hier! Sie wollen hier mit mir sprechen! Erlauben Sie mir, zu sagen, daß dies bei uns schlichten Handelsleuten das ist, was man eine Unhöflichkeit nennt —— ja, ich sage es Ihnen nochmals: eine Unhöflichkeit, eine Grobheit, wenn Ihnen dieses Wort lieber ist.«

Die Muskeln seines Gesichtes zuckten krampfhafter als je, und seine boshaften kleinen Augen blickten fortwährend nach dem Schirme.

»Indessen,« sagte er leise zu sich selbst, indem er sich wieder auf seinen ersten Platz zurückbegab, »indessen, mag kommen was da wolle. An mich können die Aerzte und Frauen sich nicht halten —— Niemand kann sagen, daß ich nicht klug oder nicht vorsichtig gewesen sei —— Niemand kann mir seinen Mangel an Schonung zum Vorwürfe machen. Wohlan,« fuhr er fort, während ein wilder Troß sich in seinen Gebärden und Blicken malte, »thun wir, wie Sie wünschen —— bleiben wir hier. Sie werden es bald bereuen —— davon bin ich überzeugt. Sie scheinen sich indessen mit dem Sprechen viel Zeit zu nehmen. Ich will mich daher setzen —— thun Sie für Ihre Person, was Ihnen beliebt. Also machen wir keine langen Worte —— kommen Sie in freundlicher Absicht, um mich zu bitten, daß ich meine Tochter herunterkommen lasse, und wollen Sie sich in Bezug auf sie als der Ehrenmann zeigen, den wir in Ihnen voraussetzen —— oder ist Ihre Absicht eine andere?«

»Sie haben mir zwei Briefe geschrieben, Mr. Sherwin.«

Ja, und ich habe mir viel Mühe gegeben, daß sie richtig. in Ihre Hände gelangen sollten. Ich habe sie selbst in Ihrem Hause abgegeben.«

»Man muß Sie auf gröbliche Weise belogen haben, daß Sie mir solche Briefe schreiben konnten, und in diesem Falle wären Sie einfach zu bemitleiden —— oder.«

»Zu bemitleiden! Wo zum Teufel wollen Sie hinaus? Niemand verlangt hier Ihr Mitleid.« ——

»Oder Sie versuchten mich zu belügen, und in diesem Falle muß ich Ihnen erklären, daß jeder Betrug fortan unnütz ist. Er kann nur dazu dienen, Nichtswürdigkeit auf Nichtswürdigkeit zu häufen und das Verbrechen des Vaters zu dem Verbrechen der Tochter zu gesellen. Ich weiß Alles —— ich weiß mehr als Sie glauben, mehr als Sie wünschen, das ich Wissen möchte.«

»Ah, in diesem Tone sprechen Sie also mit mir? Ich errieth es doch fast gleich, als Sie eintraten. Wie Sie glauben meiner Tochter nicht, Sie glauben ihr nicht? Sie wollen Winkelzüge und Ausflüchte manchen? Sehe Einer doch! Ich bin aber ein Mann, der Ihnen zu antworten wissen wird. Wir haben das Certificat über die Vermählung nicht verloren —— wir haben es in der Tasche. Sie wollen also an meinem armen Kinde nicht als Mann von Ehre handeln? Dann gehe ich sofort zu Ihrem Vater, um ihm die ganze Sache zu erzählen —— ich gehe hin, so wahr ich Sherwin heiße!«

Er schlug mit der Faust heftig auf den Tisch und sprang bleich. vor Wuth vom Stuhle auf.

Der Schirm bewegte sich ein wenig und ich hörte das Rauschen eines Frauengewandes Sherwin kam auf mich zu, blieb aber sofort stehen und murmelte einen leisen Fluch, während er zugleich einen Blick hinter sich warf.

»Ich rathe Ihnen, hier zu bleiben,« sagte ich. »Mein Vater hat heute Morgen schon Alles aus meinem eigenen Munde erfahren. Er hat mich verstoßen, er erkennt mich nicht mehr als seinen Sohn an und ich habe sein Haus auf immer verlassen.«

Mr. Sherwin drehte sich rasch aus dem Absatze herum, sah mir ins Gesicht und seine Züge nahmen plötzlich neben dem Ausdrucke des Zornes auch den einer außerordentlichen Verlegenheit an.

»Dann kommen Sie also als Bettler zu mir,« rief er, »als Bettler, der mich erst durch hochtrabende Versprechungen verlockt hat, mich mit ihm einzulassen —— als Bettler, der nicht die Mittel hat, meine Tochter zu ernähren; ja, ich sage nochmals —— als Bettler, der in diesem Tone mit mir zu sprechen wagt! Was frage ich nach Ihrem Vater und nach Ihnen selbst! Ich kenne meine Rechte. Ich bin Engländer, Gott sei Dank, ich kenne meine Rechte und kenne auch die Rechte Margarethens und werde Ihnen Beiden zeigen, daß es nicht eitle Rechte sind. Ja, ja, sehen Sie mich an, wie Sie wollen: ich bin ein ehrlicher Mann und meine Tochter ist eine rechtschaffene Frau.«

Ich betrachtete ihn in diesem Augenblicke mit der Verachtung und dem Widerwillen, den er mir wirklich einflößte. Ein anderes Gefühl erweckte seine Wuth nicht in mir, die Quellen jeder andern lebhafteren oder schmerzlicheren Gemüthserregung waren durch die Ereignisse des Morgens in mir versiegt. Eine noch ganz andere Sprache als die, welche ich gehört, würde eben so wenig Wirkung auf mich geäußert haben. Hatte ich nicht von meinem Vater schon Alles gehört was mir das Herz zerfleischen konnte? In diesem Augenblicke rührte mich daher Nichts, mochte es kommen, aus welchem Munde es wollte.

»Ich sage, meine Tochter ist eine rechtschaffene Frau,« wiederholte er, indem er sich niedersetzte. »Und ich fordere Sie auf, mir das Gegentheil zu beweisen. Sie sagten mir so eben, Sie wüßten Alles.«Was heißt das? Alles!« Ueberdiesen Punkt müssen wir uns erst klar werden, ehe wir zu etwas Anderem übergehen. Sie sagt, sie sei unschuldig, und ich behaupte ebenfalls, daß sie es ist. Wenn ich diesen verwünschten Schurken von Mannion ausfindig machen und ihn hierher bringen könnte, so würde ich ihn zwingen, dasselbe zu sagen. Kurz und gut, sagen Sie, was Sie gegen sie haben —— gegen Ihre rechtmäßige Gattin —— und ich werde Sie zwingen, sie als solche anzuerkennen, dafür stehe ich Ihnen.«

»Wenn Sie nicht jedes Gefühl von Scham verloren hätten, wenn Sie noch einen Funken von jener menschlichen Achtung besäßen auf welche sie Anspruch machen,« antwortete ich, »so würden Sie lieber sterben als eine Fragen wie diese an mich richten —— schweigen Sie mein Herr, ich komme nicht, um Ihnen Vorwürfe zu machen. Ich bin nicht hier, um Ihr stumpfes Gewissen zum Gefühle der Missethat aufzurütteln, welche mich für mein ganzes Leben in Verderben und Schande gestürzt hat. Indem ich wieder in Ihrem Hause erscheine, habe ich mir einfach vorgenommen, Ihnen zu sagen, daß die in Ihren Briefen enthaltenen elenden Lügen Ihnen eben sowenig helfen als die Unverschämten Worte, mit denen Sie jetzt bemüht sind, diese Lügen aufrecht zu erhalten. Ich habe es Ihnen schon gesagt und sage es Ihnen nochmals —— ich weiß Alles. Ich war in jenem Hause, ehe ich Ihre Tochter an der Thür sah, und ihre Stimme und seine Stimme gaben mir —— denn ich horchte im Nebenzimmer —— die Ueberzeugung von der Schmach und dem Verbrechen, von welchem Sie trotz Ihrer Unverschämtheit nicht verlangen können, daß ich es Ihnen hier ausführlich erzähle. Was Ihre frühere Doppelzüngigkeit und ihre gegenwärtige Entrüstung betrifft, so hören Sie die einzige Antwort, die ich geben werde. Niemals werde ich Ihre Tochter wiedersehen —— ein Verbrechen wie das ihre ——«

»Aber,Sie werden sie wiedersehen, zum Teufel! Ich sage, Sie werden sie wiedersehen und als Ihre Gattin anerkennen. Glaubens Sie vielleicht, daß ich Sie und ihre Geschichte da nicht durchschaue? Ihr Vater hat Ihnen den Geldkasten verschlossen, und nun möchten Sie gern wieder von ihm zu Gnaden angenommen sein. Deßwegen intriguiren Sie gegen meine Tochter und suchen sich ihrer auf diese Weise zu entledigen; aber das soll Ihnen nicht gelingen, Sie sind mit ihr vermählt und müssen sie nun auch behalten, lieber Freund! Glauben Sie denn, daß ich zu ihr nicht tausend Mal mehr Vertrauen habe als zu Ihnen? Glauben Sie, daß ich mir dies Alles so ruhig gefallen lassen werde? Oben sitzt meine Tochter, die ich ernähren muß und die den ganzen Tag Nichts thut, als daß sie klagt und weint. Meine Frau —— er sagte dies in leiserem Tone —— »hat nun den Verstand beinahe ganz verloren und ich muß mein Geschäft vernachlässigen, um sie zu pflegen und zu beaufsichtigen. Und dies Alles soll ich ruhig ertragen, weil es Ihnen beliebt hat, uns in diese Lage zu versetzen? —— Nein, nein —— ich Sie zu zwingen wissen, Ihre Pflichten gegen meine Tochter zu erfüllen und wenn ich deshalb gerichtliche Klage gegen Sie erheben sollte. Mit Ihrer Geschichte, die Sie mir da erzählt haben, kommen Sie nicht durch. Wer wird glauben, daß eine junge Frau wie Margarethe sich mit einem Menschen wie dieser Mannion eingelassen und daß sie so lange und ohne daß Sie davon Etwas bemerkt hätten, in einem Verhältnisse zu ihm gestanden habe? Wer wird das wohl glauben? Das möchte ich wissen.«

»Ich!«

Die Stimme, welche dieses Wort sprach war die der geisteskranken Mistreß Sherwin.

Aber war das Gesicht, welches nun hinter der spanischen Wand hervorkam, noch dasselbe von Krankheit und Kummer abgezehrte Gesicht, welches dem Schatten eines Gespenstes glich, wenn Margarethe und ich neben einander sitzend, von dem nächtlichen Dunkel überrascht wurden?«

Hatte das Grab seine Todten zurückgegeben? Ich war keines Wortes und keiner Bewegung mächtig, während sie langsam auf mich zukam. Ihr weißes Krankengewand gab ihr das Ansehen, als wenn sie ein Leichentuch hinter sich herschleppte.

Die Gestalt die ich früher nur durch Krankheit niedergebeugt gesehen, hatte sich krampfhaft aufgerichtet und ihre natürliche Größe wiedergewonnen.

Ihre Arme hingen schlaff an ihr herab, wie die einer Leiche. Eine fahle Farbe war an die Stelle der gewöhnlichen Blässe ihres Gesichts getreten.

Dieses besaß übrigens nicht mehr seinen so sanft melancholischen Ausdruck ruhiger, stummer Ergebung, sondern verrieth Nichts mehr als Erschlaffung und gänzliche Erschöpfung. Das Siegel des Todes, der ihr zu den unheimlich funkelnden Augen herausschaute, war ihrer Stirn aufgeprägt.

Ihr Gatte redete sie, ohne sich vom Platze zu rühren, an. Sein Ton war ein anderer; aber Nichts in seinen Manieren verrieth mehr Gefühl oder Mitleid als vorher.

»Nun,« sagte er, »Du meintest, Du wüßtest gewiß, daß er kommen würde, und Du würdest trotz der Vorschrift des Arztes nicht im Bette bleiben, so lange Du nicht ihn gesehen und mit ihm gesprochen hättest. Wohlan —— er ist da —— hier ist er. Er kam, während Du schliefst, und ich habe ihn warten lassen, damit Du ihn, wenn Du erwachtes, sogleich sprechen könntest. Du kannst nun nicht sagen, daß ich mich nicht in Deine Launen fügte. »Es ist demnach geschehen, was Du Dir einmal in den Kopf gesetzt hattest —— Du hast ihm gesagt, daß Du ihm glaubst, nun kann ich wohl der Magd klingeln, damit sie dich hinauf in Dein Zimmer führe.«

Sie schüttelte den Kopf, und bei den letzten Worten, die er sprach, heftete sie ihre Blicke auf ihn. Als ihre sterbenden Augen den seinen begegneten, als ihr Gesicht, aus welchem der Schimmer des Lebens schon entfloh; sich dem seinigen Zuwendete fühlte selbst diese rohe Natur den Schlag. Icht sah ihn zusammenzucken; seine blassen Wangen wurden noch bleicher; er rückte mit dem Stuhle hin und her, sprach aber kein Wort.

Sie wendete sich abermals gegen mich, um mich anzureden. Ihre Stimme war, nur daß sie nicht mehr zitterte, immer noch dieselbe umschleierte, aber wohlklingende. Es war peinlich, zu bemerkten, wie wenig diese Stimme sich verändert hatte, während mit ihren Zügen eine so gewaltige Umwandlung vorgegangen war.

»Ich sterbe,« sagte sie. »Viele Nächte sind verflossen seit jener, wo Margarethe allein nach Hause kam. Als ich sie in dieser Nacht sah, fühlte ich in meinem Herzen sofort eine Bewegung, in der ich eine Mahnung des Todes erkannte. Viele Nächte sind vergangen, seitdem ich gewohnt bin, mein Gebet mit dem Gedanken zu verrichten, daß es das letzte Mal ist, bevor ich die Augen im nächtlichen Dunkel zu schließen wage. Und dennoch hat das Leben bis zum heutigen Tage gedauert. Der Widerwille gegen das Dasein hat mich seit jener Nacht, wo ich Margarethe nach Hause kommen sah, nicht verlassen, und dennoch wollte ich nicht sterben, weil ich Sie noch um Verzeihung zu bitten hatte —— und Sie kamen nicht, um mich zu hören und mir zu verzeihen. Es wäre mir schmerzlich gewesen, wenn Gott mich zu sich genommen hätte, ehe ich Sie noch ein Mal gesehen —— meine Träume täuschen mich nicht —— ich wußte, daß Gott mir diese Sühne befahl.«

Sie schwieg, indem sie mich immer noch ansah, aber mit demselben leichenhaften Mangel an Ausdruck in ihren Zügen. Schon war das Auge starr —— es blieb ihr Nichts als die Stimme.

»Mein Mann hat gefragt, wer Ihnen wohl glauben würde,« fuhr sie fort, während der Ton ihrer Stimme bei jedem neuen Worte, das sie sprach immer bestimmter ward. Ich habe geantwortet, daß ich Ihnen glaubte —— ich glaube Ihnen auch wirklich, denn Sie haben die Wahrheit gesprochen. In diesem Augenblicke, wo vor meinen Augen das Licht des Tages zu erlöschen beginnt, wo ich fühle, wie mein Athem erstarrt und langsamer wird, bei dem dumpfen Rufe des Grabes —— hier in diesem Hause, dem Schauplatz so vieler Leiden, den ich bald verlassen werde, in Gegenwart meines Gatten, unter dem Dache, we1ches uns schirmt, meine strafbare Tochter und mich, bezeuge ich, daß Sie die Wahrheit gesprochen haben. Ich, ihre Mutter sage: Margarethe Sherwin ist eine Gefallene und nicht mehr würdig, Ihr Weib zu heißen.«

Indem sie diese letzten Worte sprach, war ihr Ton langsam, deutlich und feierlich.

Bis zu dem Augenblicke, wo sie diese furchtbare Anklage aussprach, hatte Mr. Sherwin uns mit mißtrauischer fast wilder Miene beobachtet; dann aber, als sie schwieg, senkte sein Blick sich sofort und er wendete schweigend das Gesicht hinweg.

Er hob die Augen nicht auf, er machte keine Bewegung, er versuchte nicht einmal, sie zu unterbrechen, als sie zu mir gewendet in noch matterem und schleppenderem Tone und bei jedem Satze eine Pause machend, wieder anhob:

»Aus diesem Zimmer gehe ich´und lege mich auf mein Sterbebette: Die letzten Worte, die ich auf Erden spreche, werden an meinen Gatten gerichtet sein und seine Gesinnungen gegen Sie ändern. Ich bin von immer schwach gewesen und es hat mir an Entschlossenheit gemangelt.« —— indem sie dies sagte, gewann ihr Ton einen seltsamen Ausdruck sanfter Bitterkeit —— »elende, fluchwürdige Schwäche, die ich nie überwinden konnte. Als ich jung war, hatte ich so viel Leiden und Schmerzen zu erdulden, daß ich später fortwährend in Furcht vor anderen Menschen und in Zweifel an mir selbst gelebt habe. Aus diese Weise ist es gekommen, daß ich mich eines schweren Fehltritts gegen Sie schuldig gemacht habe. Verzeihen Sie mir, ehe ich sterbe. Ich ahnte den Verrath, welcher im Werke war —— ich ahnte die Schmach welche darauf folgen sollte —— allen Andern gegenüber gelang ihre Verstellung; —— aber mir gegenüber konnte sie gleich von Anfang an sich nicht verstellen, Und dennoch warnte ich Sie nicht, wie ich doch, hätte thun sollen. Jener Mann —— bei diesen Worten sah sie sich scheu um, und ihre mageren zitternden Hände kreuzten und falteten sich —— »jener Mann übte eine satanische Gewalt über mich aus. In seiner Gegenwart habe ich mich stets gefürchtet, so wie ich mich als kleines Mädchen da fürchtete, wo es finster war. Mein Leben ist in, Furcht verflossen —— in Furcht vor ihm, in Furcht vor meinem Gatten, und sogar in Furcht vor meiner Tochter. Aber noch eine größere Furcht lebte in mir —— die Furcht vor meinen eigenen Gedanken, die Furcht vor der Entdeckung, die ich Ihnen mittheilen sollte. Jedes Mal, wo ich zu sprechen versuchte, waren Sie zu edelmüthig, um mich zu verstehen. ich fürchte immer noch zu denken, daß mein Argwohn gegründet sei, obgleich er schon seit langer Zeit keine bloße Vermuthung mehr sein konnte. O, was habe ich seit dieser Zeit bis jetzt gelitten!«

Einen Augenblick lang sank ihre Stimme zu einem schwachen Murmeln herab, und das Athmen schien ihr schwer zu werden. Nach einer kurzen Pause hob sie wieder an:

»Verzeihen Sie mir, ehe ich sterbe. Ich habe furchtbar gebüßt —— ich bin als Zeugin gegen die Unschuld meiner eigenen Tochter aufgetreten. Sie bereute ihren verbrecherischen Wandel nicht —— ich kann nicht wagen, Gott zu bitten, daß er sie segne, wenn man sie an mein Sterbebett führt. Verzeihen Sie mir! verzeihen Sie mir, ehe ich sterbe.«

Sie ergriff meine Hand und drückte dieselbe an ihre eiskalten Lippen. Die Thränen traten mir in die Augen, während ich ihr zu antworten versuchte.

»Weinen Sie nicht —— weinen Sie nicht um mich,« murmelte sie mit unaussprechlich sanftem Wohllaute in ihrer Stimme. »Sidney, lassen Sie mich Sie bei Ihrem Namen nennen, bei welchem Ihre Mutter Sie nennen Würde, wenn sie noch lebte. Sidney, beten Sie, damit ich in der furchtbaren Ewigkeit, welcher ich entgegengehe, eben so´meine Verzeihung erlange, wie ich sie von Ihnen erlangt habe. Und meine Tochter? Ach, wer wird für sie beten, wenn ich nicht mehr bin?«

Diese Worte waren die letzten, welche ich sie sprechen hörte.

Zu erschöpft, um nur auch noch zu murmeln, versuchte sie wieder meine Hand zu ergreifen und sie mir zum letzten unwiderruflichen Lebewohl zu drücken. Aber selbst hierbei verließen ihre Kräfte sie so plötzlich, daß es furchtbar anzusehen war. Ihre Hand streckte sich aus, um die meine zu fassen, blieb einen Augenblick lang in der Luft schweben und sank dann, während die Finger krampfhaft sich krümmten, schlaff wieder herab. Sie taumelte und sank mit vorwärts geneigtem Körper zusammen, während ich die Arme ausbreitete, um sie nicht fallen zu lassen.

Ihr Gatte erhob sich rasch von seinem Sitze und trennte mich von ihr. In dem Augenblick wo seine Augen den meinen begegneten, sah ich darin einen boshaften, tückischen Blick, welcher zu seiner erheuchelten Miene der Gelassenheit einen grellen Gegensatz bildete.

»Wenn Sie morgen nicht in einem andern Tone sprechen« —— murmelte er, ohne den Redesatz zu beenden.

Dann entfernte er sich rasch von mir und führte seine Gattin bis an die Thür.

Ehe sie aber noch aus meinen Blicken entschwand, war es mir, als sähe ich ihre hohlen Augen sich mit einem Ausdrucke von Sanftmut auf mich heften, welcher schnell wieder in ihren gewohnten Ausdruck von Trauer und Ergebung überging Täuschte mich meine Einbildungskraft, oder leuchtete ein letzter Lebensfunke in diesem so sanften Wesen noch ein Mal auf, wie um mir ans immer Lebewohl zu sagen? Ehe ich aber noch besser hinschauen, ehe ich es genau wissen konnte, hatte sie aufgehört, für mich sichtbar zu sein —— sie war für mich auf immer verloren.

Später erzählte man mir, wie sie starb. Während des ganzen noch übrigen Tages und der ganzen Nacht blieb sie sprachlos, obschon sie noch Anzeichen von Leben gab. Die Lebenskräfte, so erschöpft sie auch waren, leisteten dem Tode immer noch Widerstand. Die Aerzte verordneten neue Reizmittel und beobachteten sie mit Erstaunen, denn es waren nun schon zwölf Stunden verflossen, seitdem sie jede Minute gesagt hatten, man könne sie ihren letzten Seufzer aushauchen sehen.

Als sie ihren Gatten davon in Kenntniß setzten, fanden sie ihn in seinen Manieren eben so wie in seinen Reden unerklärlich. Er weigerte sich entschieden, zu glauben, daß das Leben seiner Frau in Gefahr sei. Alle, welche mit ihm von ihrem Tode sprachen, wurden von ihm beschuldigt, daß sie ihm die Schuld zuzuschreiben suchten und behaupten, er habe nicht genug Schonung gegen sie beobachtet, und sei dadurch die Ursache ihrer Krankheit geworden. Ja, noch mehr, er entschuldigte sich bei Jedem der ihm zuhören wollte, sogar bei, seinen eigenen Dienstboten, wegen seiner Handlungsweise gegen seine Frau, und sprach von der Nachsicht, mit welcher er sich ihrem Willen gefügt, als sie mich zu sprechen gewünscht, und von der Geduld, die er bei allen ihren Verrücktheiten —— dies war der Ausdruck, dessen er sich bediente —— mit ihr gehabt.

Die Aerzte, welche in diesem ganzen Benehmen ein unruhiges Gewissen erkannten, wendeten sich angewidert von ihm ab.«

Wenn er nicht im Zimmer seiner Tochter war ging Jeder im Hause ihm so viel als möglichst aus dem Wege.

Am zweiten Tage verlangte Mistreß Sherwin, durch die stärkenden Mittel, die man ihr gereicht, wieder ein wenig gekräftigt, ihren Gatten ganz allein zu sprechen. Ihre Worte und ihre Gebärden widersprachen der Behauptung, daß sie den Verstand verloren habe. Alle Anwesenden bemerkten, daß so lange sie die Kraft hatte, zu sprechen, an ihr nicht die mindeste Spur von Wahnsinn zu bemerken war.

Ihr Gatte kam in großer Aufregung und Bewegung wieder aus ihrem Zimmer heraus, begab sich zu seiner Tochter und schickte diese zu ihrer Mutter, wie diese, wie er sagte, sie unter vier Augen zu sprechen wünsche.

Nach wenigen Minuten kam auch Margarete bleich und mit verstörten Zügen wieder aus dm Zimmer der Sterbenden heraus. Man hörte sie sagen, ihre Mutter habe auf so unnatürliche und skandalöse Weise zu ihr gesprochen, daß sie nicht wieder zu ihr gehen würde, so lange nicht in ihrem Zustande eine Aenderung zum Besseren eingetreten sei.

Zum Bessern! Hierin stimmten Vater und Tochter überein, denn Beide behaupteten, sie sei noch nicht dem Tode nahe, sondern habe bloß den Verstand verloren.

Während des Nachtmittags verboten die Aerzte, daß die arme Frau ohne Erlaubnis ihren Mann oder ihre Tochter wiedersehe. Diese Vorsicht, welche die Ruhe ihrer letzten Augenblicke sichern sollte, war so zu sagen überflüssig.

Als der Tage sich zu neigen begann, versank sie wieder in Unempfindlichkeit. Sie war nicht wirklich todt, aber man konnte auch nicht sagen, daß ihr Zustand der des Lebens gewesen sei. Sie lag sanft und ruhig da; die Augen waren geschlossen, der Athem ging so schwach, daß man ihn nicht hören konnte. So dauerte es bis zu einer vorgerückten Stunde des Abends.

Als die Dunkelheit völlig eingebrochen war und man Licht in das Krankenzimmer brachte, zog die Dienerin, an welcher die Reihe der Nachtwache bei ihrer Herrin war, den Bettvorhang auf die Seite, um nach ihr zu sehen.

Die Augen waren immer noch geschlossen,; aber ein sanftes, dankbares Lächeln lag über dieses Antlitz gebreitet, welches seit so langen Jahren kein Lächeln gekannt.

Die Dienerin wendete sich schweigend ab, um noch eine zweite herbeizurufen. Als sie abermals den Vorhang auf die Seite zogen, um nach ihr zu sehen, war sie todt.

Man erlaube mir nun, auf den Tag meines letzten Besuchs in der Nordvilla zurückzukommen. Ehe ich zu dem nächstfolgenden Tage übergehe, habe ich noch Vieles zu erzählen.

Sobald die Thür sich wieder geschlossen hatte und ich überzeugt war, Mistreß Sherwin zum letzten Male in dieser Welt gesehen zu haben, blieb ich einige Minuten allein im Zimmer, um mich ein wenig zu sammeln und von meiner Gemüthsbewegung zu erholen, ehe ich mich wieder entfernte.

Als ich durch die nach der Thür führende Gartenallee ging, hörte ich Jemanden schnell hinter mir herkommen. Es war die Dienerin, welche ich bei meiner Ankunft hier getroffen. Sie bat mich dringend, einen Augenblick zu verweilen, weil sie einige Worte mit mir zu sprechen habe.

Ich habe schon gesagt, daß sie ein junges Mädchen war. Sie begann in Thränen auszubrechen, als ich, nachdem ich stehen geblieben, ihr ins Gesicht sah.

»Ich fürchte unrecht gehandelt zu haben, Sir,« sagte sie schluchzend, und der Tod meiner armen Herrin ist mir entsetzlich. Wenn Sie mir erlauben wollen, Sir, so will ich Ihnen die Sache erzählen.«

Ich ließ ihr Zeit, sich zu fassen, und fragte sie, um was es sich handle.

»Ich glaube, Sie haben vorhin einen Mann gesehen, der mir einen Brief einhändigte,« fuhr sie fort. »Es war gerade in dem Augenblicke, wo Sie kamen.«

»Allerdings habe ich ihn gesehen.«

»Dieser Brief war an Miß Margatethe, und ich sollte ihn ihr heimlich zustellen. Es ist dies nicht der erste, den ich auf diese Weise für sie erhalten habe. Schon seit mehreren Wochen kommt ein und derselbe Mann und bringt einen Brief und gibt mir Geld, damit ich ihn durchaus Niemandem weiter zeige als Miß Margareten. Dies Mal wartete er, Sir —— er wartete auf eine Antwort, welche meine junge Herrin mir ebenfalls auftrug, ihm heimlich zuzustellen. Das Alles aber scheint mir nicht in Ordnung zu sein. Was können das für Briefe sein, die sie erhält, ohne daß Sie, Sir, Etwas davon erfahren? Ich wünsche durchaus nicht, etwas Unehrerbietiges zu sagen, oder Etwas, wodurch ichs meinen Dienst verlieren könnte, aber ——«

»Nun, Susanne, sprecht Euch ein Mal ganz frei und offen gegen mich aus. Seit so aufrichtig, als Ihr nur sein könnt.«

»Nun sehen Sie, Sir, Miß Margarethe hat sich sehr verändert —— nämlich seit« jener Nacht, wo sie allein nach Hause kam und uns Alle so in Schrecken jagte. Sie schließt sich in ihr Zimmer ein und spricht durchaus mit Niemand als mit ihrem Vater. Sie scheint sich um nichts zu kümmern, was im Hause vorgeht, und zuweilen, wenn ich in ihrem Zimmer zu thun habe, sieht sie mich auf eine Weile an, daß ich mich fast fürchte, mit ihr allein im Zimmer zu sein. Ich habe nie auch nur ein einziges Mal Ihren Namen nennen hören, Sir, und fürchte, daß ihr Etwas im Kopf herumgeht, wovon sie eigentlich Nichts wissen sollte. Der Mann, welcher die Briefe hier abgibt, ist sehr verschmitzt. Wollen Sie vielleicht diesen letzten, den er mir gebracht hat, ansehen und mir sagen, ob Sie glauben, daß ich wohl thun würde, wenn ich ihn Miß Margarethen zustelle?

Sie reichte mir den Brief. ich zögerte, ehe ich die Augen auf die Adresse warf!

»O, Sir, Ich bitte Sie, nehmen Sie ihn!« sagte die Dienerin. »Ich fürchte, ich habe unrecht daran gethan, ihr den ersten Brief zuzustellen; aber ich möchte nicht gern mir noch mehr vorzuwerfen haben, da unsere Herrin jetzt dem Tode so nahe ist. Ich kann nicht Geheimnisse bewahren, welche vielleicht sehr üble Folgen haben. Ich könnte heute Abend, wo höchstwahrscheinlich der Tod in unserem Hause einkehren wird, nicht einschlafen, wenn ich nicht zuvor gestanden hätte; was ich gethan habe. Und meine arme Herrin ist stets so gut und sanft gegen uns Dienstleute gewesen.

Sie hat uns stets besser behandelt als wir es verdienen.

Die Magd weinte bitterlich, indem sie dies sagte, und drang abermals in mich, den Brief zu nehmen.

Dies mal nahm ich ihn und betrachtete die Adresse. Obschon ich die Handschrift nicht kannte, schien es mir doch, als wenn ich diese unregelmäßigen, unsicheren Züge schon irgendwo gesehen hätte. War es möglich, daß ich die Hand kannte, die sie geschrieben? Ich versuchte sie genauer zu examinieren; aber mein Gedächtniß war verworren, mein Geist seufzte unter der Wucht, die sich seit diesem Morgen auf ihn nieder gesenkt hatte, alle meine Bemühungen waren fruchtlos, und ich gab den Brief zurück.

»Ich weiß davon eben so wenig als Ihr selbst, Susanne.«

»Aber darf ich ihn denn zeigen,Sir? Sagen Sie mir nur das.«

»Das kommt mir nicht zu, Susanne. Ihr müßt wissen, daß ich jetzt mit Allem, was« —— früher murmelte ich ihren Namen in meinen Gebeten; jetzt wagte ich nicht- einmal, ihn auszusprechen —— »Eure junge Herrin angeht, Nichts mehr zu thun habe.«

»Das thut mir sehr« leid zu hören, Sir; aber was rathen Sie mir denn?«

»Laßt mich diesen Brief noch ein Mal sehen.«

Die Handschrift äußerte bei der zweiten Besichtigung ganz wieder dieselbe Wirkung auf mich wie die erste, und ich vermochte nichts Näheres zu ergründen. Ich gab den Brief wieder zurück.

»Ich achte Eure Bedenklichkeiten, Susanne; aber ich kann dieselben weder beseitigen noch rechtfertigen. Warum wollt Ihr Euch in Eurer Verlegenheit nicht an Euren Herrn wenden?«

»Ich wage es nicht, Sir; um Alles in der Welt willen würde ich es nicht wagen. Seit einiger Zeit ist er schlimmer geworden als je. Wenn ich ihm so Viel gesagt hätte, wie ich Ihnen gesagt habe, so glaube ich, er hätte mich umgebracht.——«

Sie schwieg einige Augenblicke und hob dann in dreisterem Tone wieder an: »

Wohl an —— ich habe es Ihnen doch gesagt, Sir, und das macht mich ruhiger. Ich werde ihr dieses Mal den Brief noch geben, aber keinen weiteren annehmen, wenn einer kommt, dafern ich nicht besser weiß, was für Briefe dies eigentlich sind.«

Sie sagte mir in traurigem, ängstlichem Tone Lebewohl und schickte, den Brief immer noch in der Hand haltend, sich an, in das Haus zurückzukehren.

Wenn ich in diesem Augenblicke hätte errathen können; von wem dieser Brief war! Wenn ich nur eine, Ahnung von Dem gehabt hätte was er enthielt!

Sobald ich einmal Hollyoake Square hinter mir hatte, schlug ich eine Richtung ein, welche mich bald ins Freie hinausführte. Seltsam! diese Schrift von einer unbekannten Hand beschäftigte noch meine Gedanken! Eine solche Bagatelle hatte sich meiner Denkkraft bemächtigt, und noch dazu in diesem Augenblicke, wo mein Schicksal eine solche Wendung genommen!

Da ich mich angegriffen und müde fühlte, so blieb ich mitten im Freien an einem einsamen Orte, fern von frequentierten Straßen und Wegen stehen. Die Sonne that meinen Augen weh, und ich schirmte dieselben daher mit der Hand. Gerade in diesem Augenblicke tauchte die verloren gegangene Erinnerung in meinem Gedächtnisse auf, und zwar so deutlich und scharf, daß ich anfangs beinahe darüber erschrak.

Die Handschrift welche die junge Dienerin in der Nordvilla mir so eben gezeigt, war dieselbe, wie die der Adresse eines Briefes, den ich, ohne ihn zu öffnen, in die Tasche gesteckt und welchen mir ein Diener im Hause meines Vaters erst diesen Morgen überreicht, als ich durch den Speisesaal gegangen war, um mich in das Zimmer meines Vaters zu begeben.

Ich zog den Brief aus der Tasche, öffnete ihn mit zitternder Hand, durchflog mit dem Auge rasch die mit kleiner, enger Schrift bedeckten Seiten und sah sofort nach der Unterschrift, welche »Robert Mannion« lautete!


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