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Zwei Schicksalswege

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Der Kuss

Ich fühlte die alte Liebe, die alte Hingebung wieder in voller Kraft, da sie meiner wieder bedurfte, mich wieder gerufen hatte. Alles was mich bei unserem letzten Beisammensein geschmerzt und verletzt hatte, war vergessen und mein ganzes Wesen erbebte in einer Mischung von Wonne und Ehrfurcht, als ich die Erscheinung wieder sah, die zum zweiten Male zu mir kam. Minuten vergingen und ich stand noch immer wie verzaubert vor dem Feuer, nur ihre Worte wiederholend: »Gedenke mein und komm zu mir,« und die geheimnisvollen, geschriebenen Worte betrachtend: »Am Ende des Monats im Schatten von St. Paul.«

Da das Ende des Monats noch fern war, hatte ihre Erscheinung sich mir also in Voraussicht von Schmerzen, die noch für sie kommen sollten, gezeigt und ich hatte noch reichlich Zeit für die Pilgerfahrt, die fest in mir beschlossen war - die Pilgerfahrt zum Schatten von St. Paul.

Mancher andere in meiner Lage wäre wohl unsicher gewesen, welches der bezeichnete Ort sein sollte. Andere hätten wahrscheinlich ihr Gedächtnis angestrengt, um unter den zahlreichen Kirchen, Anstalten, Straßen und Städten im Auslande, die die christliche Verehrung dem Namen des großen Apostels geweiht hat, den Ort ausfindig zu machen, zu dem sie ihre Schritte lenken sollten. Diese Schwierigkeit beschäftigte mich nicht, denn ich machte sofort den einzigen Schluss, der mir richtig zu sein schien. »St. Paul« sollte die berühmte Kathedrale in London bezeichnen. Wo am Ende des Monates der Schatten der großen Kirche hingerichtet war, da sollte ich sie oder eine Spur von ihr finden. Also war es wiederum in London und nirgend anders, wo ich die Frau, die ich liebte, leiblich vor mir sehen sollte, ebenso gewiss, wie ich eben ihre Geistererscheinung sah.

Wie war die geheimnisvolle Sympathie zu erklären, die uns trotz Zeit und Raum immer wieder verband? Wer wollte voraussagen, welchem zukünftigen Ziele unsere beiden Existenzen im Laufe der Jahre zustrebten?

Während ich diese Betrachtungen in mir bewegte und meine Augen fest auf die Schrift gerichtet waren, fiel mir unwillkürlich die tiefe Stille, die im Zimmer herrschte, auf und damit kehrte meine Erinnerung zu Miss Dunroß zurück. Im Bewusstsein meiner Schuld, drehte ich mich sofort um und sah nach dem Fenster, wo ihr Stuhl stand.

Der Stuhl war leer und ich war im Zimmer allein.

Warum verließ sie mich ohne ein Abschiedswort? Litt sie an Geist oder Körper oder hatte es sie verletzt, dass ich sie so unbeachtet gelassen?

Den Gedanken sie verletzt zu haben, konnte ich nicht ertragen. Ich klingelte um nach ihr zu fragen.

Dem Rufe der Klingel folgte nicht, wie sonst, der stille Diener Peter, sondern eine Frau in mittleren Jahren, die einfach und sauber gekleidet war und der ich mehrmals beim Herein- und Hinausgehen und aus meinem Zimmer begegnet war, ohne zu wissen, welche Stellung sie eigentlich hier im Hause einnahm.

»Wünschen Sie, dass Peter kommt?« fragte sie.

»Nein, ich wollte nur wissen, wo Miss Dunroß ist.«

»Miss Dunroß ist in ihrem Zimmer und sendet Ihnen durch mich diesen Brief.«

Mit Erstaunen und Unbehagen nahm ich ihr den Brief ab, da es das erste Mal war, dass Miss Dunroß schriftlich mit mir verkehrte. Ich hoffte auf Befragen von ihrer Botin etwas über sie zu hören.

»Sind Sie in Miss Dunroß's Diensten?« fragte ich.

Die sehr unfreundliche Antwort lautete: »Ich habe Miss Dunroß seit vielen Jahren gedient.«

»Glauben Sie, dass sie mich jetzt empfangen würde, wenn ich sie durch Sie darum bitten ließe?«

»Ich weiß es nicht, mein Herr. Vielleicht sagt der Brief etwas darüber, wollen Sie ihn nicht erst lesen?«

Wir sahen einander an. Entschieden war die vorgefasste Meinung dieser Frau über mich eine ungünstige. Hatte ich Miss Dunroß wirklich weh getan oder sie beleidigt und hatte ihre Dienerin, die ihr treu und ergeben war, das entdeckt und hasste mich dafür? Bei dem finsteren Aussehen der Frau wäre es Torheit gewesen, noch fernere Fragen zu tun, so entließ ich sie.

Als ich allein war, las ich den Brief, der ohne Anrede mit folgenden Zeilen begann:

»Da meine Selbstbeherrschung schon auf harte Proben gestellt ist und meine Kraft nicht mehr ausreicht, so schreibe ich Ihnen, was ich sonst sagen würde. Nicht um meiner selbst willen, aber um meines Vaters willen, muss ich sparsam mit dem Rest umgehen, der mir geblieben ist.

Halte ich das nebeneinander, was Sie mir über die Geistererscheinung in dem Lusthause in Schottland erzählten und was ich vor einer Weile in Ihrem Zimmer durch Ihre Fragen von Ihnen erfuhr, so muss ich unfehlbar daraus schließen, dass Sie dieselbe Erscheinung zum zweiten Male hatten. Die Furcht, die ich empfand, die seltsamen Dinge, die ich sah oder zu sehen glaubte, geben in mir nur ein schwaches Abbild von dem, was in Ihnen vorgeht. Ich will nicht untersuchen, ob wir beide die Opfer einer Täuschung sind oder ob wir uns für die auserwählten Zeugen überirdischer Beziehungen halten sollen. Der Erfolg genügt mir, dass Sie wiederum ganz dem Einflusse von Frau van Brandt gewonnen sind. Wozu soll ich Ihnen von den Sorgen und Vorahnungen sprechen, die mich beunruhigen. Ich will Ihnen nur sagen, dass die einzige Hoffnung, die ich für Sie hege, in der schleunigsten Vereinigung mit dem Gegenstande, der Ihrer Treue und Hingebung würdiger ist, beruht. Meine Überzeugung, dass Sie Ihre erste Liebe wieder finden werden, steht fest und tröstet mich.

Nun ich Ihnen das geschrieben habe, verlasse ich den Gegenstand und werde nur noch in meinen eigenen Gedanken darauf zurückkommen.

Alle nötigen Vorbereitungen zu Ihrer Abreise sind auf morgen getroffen und es bleibt mir nichts zu tun, als Ihnen eine frohe, glückliche Heimkehr zu wünschen. Ich bitte, halten Sie mich nicht für undankbar für Alles, was ich Ihnen schulde; weil ich Ihnen meine Abschiedsworte hierdurch sende.

Die kleinen Dienste, die es mir vergönnt war, Ihnen zu leisten, haben meine gemessenen Lebenstage erhellt und Sie haben mir einen Schatz von glücklichen Erinnerungen zurückgelassen, die ich mit der Sorgfalt eines Geizhalses aufspeichern will, wenn Sie fort sind. Wenn Sie sich noch ein neues Anrecht auf meine dankbare Erinnerung erwerben wollen, so erbitte ich als letzte Gunst von Ihnen, dass Sie keinen Versuch machen, mich wiederzusehen. Ich habe nicht die Absicht, Ihnen persönlich »Lebewohl« zu sagen, es ist das schmerzlichste aller Worte und ich habe eben nur die Kraft es zu schreiben. Gott erhalte und behüte Sie - leben Sie wohl!

Noch eine Bitte. Vergessen Sie nicht, was Sie mir versprachen, als ich Ihnen meine törichte Ahnung über die grüne Flagge aussprach und wohin Sie auch gehen, behalten Sie das Andenken von Mary bei sich. Ich wünschte nicht, dass Sie mir diese Zeilen beantwortetem sehen Sie, wenn Sie morgen das Haus verlassen zu dem Mittelfenster über dem Torweg hinauf, das ist mir Antwort genug.«

Dass diese melancholischen Zeilen mir die Augen mit Tränen füllten, beweist nur, dass ich Gefühle habe, die zu rühren sind. Der Drang, der mich trieb, an Miss Dunroß zu schreiben, als ich meine Fassung einigermaßen wiedergewonnen hatte, war unwiderstehlich. Ich schrieb keinen langen Brief, sondern bat sie nur mit aller mir zu Gebote stehenden Überredungskunst, ihren Entschluss noch einmal zu erwägen. Die Person, die Miss Dunroß bediente, brachte mir die Antwort zurück, die in drei entschiedenen Worten bestand: »Es kann nicht sein.« Dieses Mal sagte die Frau, ehe sie mich verließ, fast streng: »Wenn Sie Rücksicht für meine Herrin haben wollen, veranlassen Sie sie nicht Ihnen wieder zu schreiben.« Sie warf mir einen letzten drohenden Blick zu und verließ das Zimmer.

Dass die Worte der treuen Dienerin meinen Wunsch nur noch steigerten, Miss Dunroß noch einmal, vielleicht überhaupt zum letzten Male, ehe ich abreiste, zu sehen, brauche ich nicht zu sagen. Vielleicht gelang es mir durch die Vermittlung ihres Vaters, ohne ihr Wissen, in ihre Nähe zu kommen, das war meine einzige Hoffnung.

Ich beauftragte Peter bei seinem Herrn anzufragen, ob ich ihm noch vor Abend meine Aufwartung machen könnte, aber mein Bote brachte mir eine Antwort zurück, die mich von Neuem entmutigte. Mr. Dunroß bat mich um Entschuldigung, wenn er den Empfang meines Besuches auf morgen verschöbe, also auf den Tag meiner Abreise. Sollte ich die Botschaft so auffassen, dass er mich nur kurz vor meiner Abreise zusehen wünschte, um gleich Abschied von mir zu nehmen? Ich fragte Peter, ob sein Herr diesen Abend besonders beschäftigt wäre, worauf er mir keinen Bescheid geben konnte. »Der Meister der Bücher« war nicht wie gewöhnlich, in seinem Zimmer, sondern saß, als er die Bestellung an mich machte, neben dem Sofa seiner Tochter.

Nach dieser Antwort verließ mich der Mann bis zum nächsten Morgen. Meinem ärgsten Feinde wünsche ich keine trüberen Stunden in seinem Leben als die, die ich während der letzten Nacht unter Mr. Dunroß's Dach verlebte.

Nachdem ich bis zur Erschöpfung in dem Zimmer auf- und abgegangen war, wollte ich versuchen meine trüben Gedanken durch Lesen zu verscheuchen, aber das eine Licht, das ich hatte, erleuchtete das Zimmer nicht ausreichend. Ich trat an den Kaminsims, um ein zweites Licht, das dort stand, anzustecken und fand den angefangenen Brief an meine Mutter, den ich dort aus der Hand gelegt hatte, als Miss Dunroß's Dienerin zum ersten Male zu mir eintrat. Als das Licht brannte, nahm ich den Brief fort, um ihn meinen anderen Papieren beizufügen und entdeckte, als mein Blick, während meine Gedanken mit Miss Dunroß beschäftigt waren, zufällig darauf fiel, dass eine Veränderung damit vorgegangen war.

Die Handschrift der Erscheinung war verschwunden.

Unter dem von Miss Dunroß geschriebenen Briefe befand sich nichts als das leere Papier.

Ich griff zuerst nach meiner Uhr.

Damals, als die Geistererscheinung die Worte in mein Skizzenbuch geschrieben hatte, war die Schrift nach drei Stunden verlöscht, soviel ich es berechnen konnte, war dieses Mal die Schrift nach Verlauf einer Stunde unsichtbar geworden.

Ich kann nur vermuten, dass Frau van Brandt wiederum der Gegenstand einer Verzückung oder eines Traumes gewesen war, als sie mir zum zweiten Male erschien; das musste ich nach der Unterredung, die ich mit ihr am St. Antoniusbrunnen hatte und aus Entdeckungen, die ich in einer viel späteren Lebensepoche machte, schließen. In dem träumenden Zustande, in dem ihr Geist den meinen erkannte, hatte sie mich, wie damals, rückhaltlos um Hilfe angerufen und mir rückhaltlos vertraut. Als sie nach einer Stunde zur Besinnung gekommen war, hatte sie sich wieder der vertraulichen Weise geschämt, in der sie während ihres Traumes mit mir verkehrt, und somit durch ihren Willen als Wachende den Einfluss ihres Traumwillens vernichtet. Deshalb war die Schrift auch eine Stunde nachdem die Feder sie ausgeführt hatte oder auszuführen schien, vernichtet.

Das ist die einzige Erklärung, die ich geben kann. Um die Zeit als das Ereignis sich zutrug, besaß ich durchaus nicht Frau van Brandts volles Vertrauen und konnte darum keinerlei Lösung finden. Ich konnte nur den Brief mit dem unsicheren Gefühl fortlegen, ob meine Sinne mich getäuscht hatten oder nicht. Tief versunken in die verzweifelten Gedanken, die Miss Dunroßs Brief in mir erzeugt hatte, war ich nicht in einer Stimmung, in der ich meinen Verstand hätte anstrengen mögen, um den Schlüssel zu dem Verschwinden der Handschrift zu suchen. Meine Nerven waren gereizt. Ich haderte mit mir und Anderen. »Der beunruhigende Einfluss der Frauen scheint, wohin ich auch gehe, der einzige Einfluss zu sein, den ich verdammt bin zu empfinden,« dachte ich ungeduldig. Während ich rückwärts und vorwärts mein Zimmer durchschritt, denn ein Buch konnte meine Gedanken unmöglich fesseln, glaubte ich mir ganz klar zu sein, aus welchen Gründen junge Männer meines Alters zu dem Entschlusse kommen, in ein Kloster zu gehen. Ich zog die Vorhänge zurück und sah hinaus, mein Blick entdeckte aber keinerlei Aussicht, als die schwarze Masse der Finsternis, die den See verhüllte. Ich sah nichts, ich mochte nichts denken, ich konnte nichts tun, es blieb mir nichts übrig als den Versuch zu machen, ob ich schlafen konnte. Meine medizinische Wissenschaft sagte nur klar genug, dass natürlicher Schlaf für diese Nacht, bei der Verfassung, in der sich meine Nerven befanden, zu den unerreichbaren Üppigkeiten des Lebens gehörte. Da sich aber der Medizinkasten, den Mr. Dunroß mir zur Verfügung gestellt hatte, noch in meinem Zimmer befand, mischte ich mir einen kräftigen Schlaftrunk und flüchtete mich vor allen Sorgen in mein Bett.

Es ist eine Eigentümlichkeit aller Schlaf bewirkenden Mittel, dass sie nicht bloß auf verschiedene Konstitutionen verschieden wirken, sondern, dass man sich auch nicht darauf verlassen kann, dass sie auf dieselbe Person immer gleichmäßig wirken. Ich hatte die Lichte ausgelöscht ehe ich mich ins Bett legte. Unter gewöhnlichen Umständen würde der Trank, den ich genommen hatte, mich, nachdem ich eine halbe Stunde ruhig im Finstern gelegen hätte, eingeschläfert haben, in dem Zustande aber in dem sich meine Nerven eben befanden, betrübte es mich und tat weiter nichts.

Stunde auf Stunde lag ich ganz still mit geschlossenen Augen in dem halb schlafenden, halb wachen Zustande, der so wunderbar charakteristisch bei Hunden während ihrer Ruhezeit ist. Im Verlaufe der Nacht bedrängte eine solche Schwere meine Augenlider, dass es mir unmöglich war sie zu öffnen, alle meine Muskeln wurden von einer so gewaltigen Schlaffheit befallen, dass ich auf meinem Kopfkissen regungslos wie ein Leichnam lag. Meine Gedanken vermochten trotz des schläfrigen Zustandes sich behaglich in langen Reihen angenehmer Bilder zu ergehen, mein Gehörsinn war so scharf, dass ich den leisesten Laut vernahm, den der Nachtwind im Vorüberziehen in den Büschen am See hervorbrachte und in meinem Zimmer selbst vernahm ich noch deutlicher das geisterhafte Nachtgeräusch in den Möbeln und das plötzliche Zusammensinken der Kohlen im Kamin, das Leuten, die schlecht schlafen so wohl bekannt ist und übermäßig angespannte Nerven so sehr erregt. Vom wissenschaftlichen Standpunkte aus ist die Bezeichnung unrichtig, wenn ich nämlich sage, dass meine eine Hälfte wachte, während die andere schlief, und doch schildert sie meinen Zustand von dieser Nacht am genausten.

Ich kann nicht sagen wie viele Stunden ich noch gelegen halte, als mein überreizter Gehörsinn ein neues Geräusch im Zimmer wahrnahm, ich weiß nur, dass ich plötzlich aufmerksam lauschte, die Augen fest geschlossen. Der Ton, der mich aufregte, war unendlich leise, wie von etwas herrührend, das weich und sanft über die Oberfläche des Teppichs hinglitt und ihn eben nur so viel berührte, dass es vernehmbar war. Allmälig näherte sich das Geräusch meinem Bette und schwieg dann, als ich es dicht bei mir glaubte.

Ich blieb regungslos mit geschlossenen Augen liegen, träumerisch den nächsten Laut erwartend, der mein Ohr treffen würde, in meinem schläfrigen Zustande auch zufrieden, wenn Alles still blieb. Meine Gedanken, wenn man es eben Gedanken nennen konnte, begannen wieder ihrem früheren Lauf zu folgen, als ich plötzlich ein leises Atmen gerade über mir vernahm. Gleich darauf wurde meine Stirn berührt - leise, sanft, bebend, wie die Berührung von Lippen, die mich küssten. Dann schwieg Alles, bis ein leiser Seufzer die Luft durchzitterte. Wiederum hörte ich den sanften Ton eines Gegenstandes, der seinen Weg über den Teppich nahm, dieses Mal aber sich vom Bett entfernte und zwar mit solcher Schnelligkeit, dass er im nächsten Augenblick in der Stille der Nacht verschwand.

Noch immer von meinem Schlaftrunk betäubt, konnte ich mich nur in lustiger Weise über das Geschehene verwundern, nichts weiter. Hatten mich wirklich menschliche Lippen berührt? Hörte ich wirklich einen Seufzer oder war alles Täuschung, die ein Traum erzeugt? Die Zeit verstrich ohne, dass ich mir darüber klar wurde oder auch nur bestrebt war, mir es klar zu machen. Von Minute zu Minute gelang es mehr dem beruhigenden Einflusse des Trankes Herrschaft über mein Gehirn zu gewinnen, eine Wolke zog sich leise über die letzten Eindrücke, deren ich mir bewusst war. Allmälig lösten sich die Bande, die mich an das bewusste Leben fesselten und ich versank friedlich in einen ruhigen Schlaf.

Kurz nach Sonnenaufgang erwachte ich. Meine erste deutliche Erinnerung, nachdem mein Bewusstsein zurückgekehrt war, war die Erinnerung an den sanften Atem, den ich über mir gefühlt hatte - dann fielen mir die Berührung meiner Stirn und der Seufzer, den ich vernommen hatte, ein. War es möglich, dass jemand in der Nacht mein Zimmer betreten hatte. Warum nicht? Ich hatte die Tür nicht verschlossen, wie ich es überhaupt nicht getan hatte, seit ich unter Mr. Dunroß's Dach weilte.

Nachdem ich die Sache noch etwas durchgedacht hatte, stand ich auf, um mein Zimmer zu untersuchen.

Keinerlei Entdeckung entschädigte mich für mein Suchen, bis ich zur Türe gelangte. Diese war, wie ich mich ehe ich zu Bett ging sicherlich überzeugt hatte, fest zu gemacht, wenn auch nicht verschlossen, jetzt stand sie offen. War sie aufgesprungen, weil ich sie nicht gut geschlossen hatte oder vergaß jemand, der mein Zimmer betreten hatte und wieder hinaus gegangen war, sie zu schließen?

Zufällig sah ich zur Erde, während ich diese Möglichkeiten erwog, und bemerkte einen kleinen, schwarzen Gegenstand auf dem Teppich, der gerade unter dem Schlüssel an der innern Seite der Tür lag. Ich hob ihn auf und sah, dass es ein zerrissenes Stückchen schwarzer Spitzen war.

So wie ich das Stückchen Spitze sah, erinnerte ich mich des langen, schwarzen Schleiers, den Miss Dunroß gewohnt war, weit über die Taille herabhängend, zu tragen. War es also ihr Kleid, das ich leise über den Teppich hingleiten hörte? Ihr Kuss, der meine Stirn berührte? Ihr Seufzer, der durch die Stille der Nacht gedrungen war? Hatte dies edle, schwergeprüfte Wesen in der Todesruhe der Nacht von mir Abschied genommen, indem sie den trügerischen Erscheinungen, die mir den Anschein eines Schlafenden gaben, die Bewahrung ihres Geheimnisses anvertraut hatte? Ich sah die schwarze Spitze wieder an. Wahrscheinlich war ihr Schleier durch den hervorstehenden Schlüssel erfasst und zerrissen worden, als sie sich auf ihrem schnellen Rückzuge aus meinem Zimmer befand. Ernst und feierlich legte ich das Stück Spitze zu den teuren Andenken, die ich aus meiner Heimat mitgebracht hatte und gelobte, dass sie bis an ihr Lebensende ruhig in dem Glauben bleiben sollte, dass ihr Geheimnis in ihre eigene Brust verschlossen war. So brennend ich auch wünschte noch einmal zum Abschied ihre Hand zu drücken, so beschloss ich nun keinen Versuch mehr zu machen, um sie zu sehen. Wer weiß, ob ich so ganz Herr meiner Gefühle war, dass nicht irgend etwas in meinem Gesicht oder Benehmen mich ihrer schnellen und feinen Auffassungsgabe verriet. Nachdem was ich jetzt wusste, konnte ich ihr kein größeres Opfer bringen, als ihren Wünschen gehorsam zu sein und ich brachte es.

Nach einer Stunde benachrichtigte mich Peter, dass die Ponys vor der Tür ständen, und dass sein Herr mich auf dem äußeren Flur erwarte. Ich bemerkte, dass Mr. Dunroß mir, ohne mich anzusehen, die Hand reichte. Er erhob seine verblichenen, blauen Augen während der wenigen Minuten, die unser Gespräch dauerte, nicht einmal vom Boden. »Gott geleite Sie auf Ihrer Reise und führe Sie glücklich in Ihre Heimat«, sagte er. »Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie nicht einige Meilen weit auf Ihrer Reise begleite, ich habe zwingende Gründe, die mich veranlassen bei meiner Tochter zu Hause zu bleiben.«

Er war auserlesen, fast peinlich höflich, aber ein gewisses Etwas in seinem Wesen, das ich nie zuvor bemerkt hatte, machte mir seine Absicht, mich möglichst fern zu halten, fühlbar. Da ich die innige Sympathie und das volle Vertrauen kannte, das zwischen Vater und Tochter bestand, überkam mich ein Zweifel, ob das Geheimnis der verflossenen Nacht für Mr. Dunroß wohl auch ein völliges Geheimnis sein mochte. Seine nächsten Worte beseitigten meinen Zweifel und enthüllten mir die Wahrheit.

Als ich ihm für seine wohlgemeinten Wünsche dankte, versuchte ich ihm und durch ihn auch Miss Dunroß meine aufrichtig empfundene Dankbarkeit für alle Freundlichkeiten, die ich unter seinem Dache erfahren hatte, auszusprechen. Er unterbrach mich höflich, aber entschieden, indem er in jener ziemlich gewählten Weise sprach, die mir schon bei unserer ersten Unterredung, als so charakteristisch aufgefallen war.

»Es steht ganz in Ihrer Macht, mein Herr," sagte er, »jede Freundlichkeit, die Ihnen nach Ihrer Ansicht in meinem Hause zu Teil geworden ist, zu erwidern. Wenn Sie gefälligst Ihren hiesigen Aufenthalt als einen unwichtigen Lebensabschnitt für sich betrachten wollen, welcher mit Ihrer Abreise endet - unwiderruflich endet - so vergelten Sie mehr als reichlich, Alles, was Sie an Gastfreundschaft von mir genossen haben. Ein Pflichtgefühl veranlasst mich Ihnen das zu sagen und ich lasse Ihnen dabei als Ehrenmann volle Gerechtigkeit widerfahren. Ihrerseits hoffe ich, dass Sie meine Gründe nicht falsch beurteilen werden, wenn ich mich auch einer näheren Erklärung enthalte.«

Eine leichte Röte überzog seine bleichen Wangen, während er mit stolzer Zurückhaltung meine Antwort erwartete Ich ehrte ihr Geheimnis und ehrte es ihrem Vater gegenüber vollends.

»Nach Allem, was ich Ihnen zu danken habe, mein Herr, sind Ihre Wünsche mir Befehle,« antwortete ich, verneigte mich mit besonderer Ehrerbietung und verließ schweigend das Haus.

Wie sie es gewünscht hatte, sah ich, als ich meinen Pony bestieg, nach dem Mittelfenster hinauf. Es war geöffnet, aber die zugezogenen Vorhänge versperrten dem Licht eifersüchtig den Eingang in das Innere des Zimmers. Als sich der Pony in Bewegung setzte und sein Hufschlag auf dem steinigen Boden der Insel erscholl, wurde der Vorhang ein wenig zurückgezogen. In dem Zwischenraum der dunklen Verhüllungen erschien eine zarte, weiße Hand, winkte mir zitternd ein letztes Lebewohl zu und verschwand vor meinen Blicken. Der Vorhang schloss sich wieder vor ihrem düsteren, einsamen Leben. Der melancholische Wind sang über den leicht bewegten Wassern des Sees leise sein eintöniges Klagelied. Die Ponys bestiegen die Fähre, die den Transport von Tieren nach und von der Insel vermittelte. Mit langsamen, regelmäßigen Schlägen ruderten uns die Männer zum Festlande hinüber und verabschiedeten sich dort. Ich schaute nach dem fernen Hause zurück und gedachte ihrer, die im dunklen Zimmer geduldig des Todes harrte. Heiße Tränen verschleierten mir den Blick so, dass der Führer meinen Zügel ergriff, indem er sagte: »Ihnen ist nicht wohl, mein Herr lassen Sie mich Ihren Pony führen.«

Wir waren bereits von dem höher gelegenen Teile der Insel in den niederen gelangt, als ich mein Interesse wieder der Landschaft zuwendete. Haus und See waren meinen Blicken auf Nimmerwiedersehen entschwunden.


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