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Gesetz und Frau



Erster Theil.

Erstes Kapitel.

Der Irrtum der Braut.

»Denn in dieser Weise zieren sich die heiligen Frauen des Alterthums, welche auf Gott baueten, selbst, indem sie sich unterwürfig machten ihrem Eheherrn, so wie Sarah Abraham gehorchte und ihn Herr nannte, als deren Töchter Ihr Euch bekennen dürft, so lange, als Ihr wohl handelt und nicht bange seid in irgend einem Bedenken«

So die wohlbekannten Worte der Trauformel unserer englischen Kirche endend, schloß mein Onkel Starkweather sein Buch, und warf mir über das Altargitter hinweg einen Blick herzlichen Interesses zu, der sein ganzes breites Angesicht erleuchtete. In demselben Augenblick tippte mir meine Tante Mrs. Starkweather, welche neben mir stand, auf die Schulter und sagte:

»Valeria, nun bist Du verheirathet!«

Wo waren meine Gedanken? Was war aus meiner Aufmerksamkeit geworden? Ich war zu verwirrt, um es zu wissen. Ich stutzte und blickte meinen Gatten an. Er schien beinahe eben so Verwirrt, als ich es war. Es schien, als wenn wir Beide in diesem Augenblick denselben Gedanken gehabt. War es denn wirklich möglich daß wir, trotz des Einspruches seiner Mutter, dennoch Mann und Frau geworden? Meine Tante Starkweather erledigte die Frage, indem sie mir noch einmal auf die Schulter tippte.

»Nimm seinen Arm!« flüsterte sie, in einem Ton, als wenn sie alle Geduld mit mir verloren hätte.

Ich nahm seinen Arm.

»Folge Deinem Onkel.«

Mich fest an meinen Gatten schmiegend, folgte ich meinem Onkel und dem Hilfeprediger, welcher bei der Trauung assistirt hatte.

Die beiden Geistlichen führten uns in die Sakristei. Die Kirche lag in einer der traurigen Gegenden Londons, welche sich zwischen der City und dem West-End hinziehen. Der Tag war trübe; die Luft schwer und feucht.

Wir bildeten eine melancholische kleine Hochzeitsgesellschaft, welche vollständig mit der traurigen Umgebung und dem traurigen Tage sympathisirte. Keine Verwandte und Freunde meines Gatten waren anwesend; weil, wie ich bereits angedeutet, seine Familie unsere Verbindung mißbilligte. Von meiner Seite waren auch nur mein Onkel und meine Tante erschienen. Meine beiden Eltern hatte ich längst verloren und die wenigen Freunde wohnten zu entfernt. Der ehemalige alte Schreiber meines Vaters, Benjamin, war auf wenige Stunden nach London gekommen, um meiner Trauung beizuwohnen. Er hatte mich von Kindesbeinen an gekannt und war mir nachher in meiner verlassenen Stellung ein zweiter Vater gewesen.

Der Rest der Ceremonie bestand wie gewöhnlich darin, das die beiden jungen Gatten den Trauact unterzeichneten. In der Befangenheit, welche die Situation mit sich brachte, beging ich einen Irrthum, welcher, nach der Ansicht meiner Tante Starkweather, von übler Vorbedeutung war. Ich unterzeichnete meinen Frauennamen anstatt dessen, den ich als Mädchen geführt.

»Was!« rief mein Onkel laut und verwundert, »Du hast schon Deinen Namen vergessen? Wir wollen hoffen, daß Du es nie bereuen mögest, ihn so schnell beseitigt zu haben. Schreibe noch einmal Valeria.

Mit zitternden Fingern ergriff ich noch einmal die Feder und zeichnete meinen Mädchennamen:

Valeria Brinton.

Als meinem Gatten die Feder überreicht ward, bemerkte ich mit Erstaunen, daß seine Hand ebenfalls zitterte und daß er, wie ich, nur eine sehr schlechte Unterschrift aufs Papier brachte:

Eustace Woodville.

Meine Taute, die ebenfalls aufgefordert wurde, zu unterzeichnen, that es unter Protest.

»Ein schlechter Anfang!« sagte sie, mit dem anderen Ende der Feder auf meine erste Unterschrift deutend. »Ich sage wie mein Mann, ich hoffe, daß Du es nie bereuen mögest.« Selbst in jenen Tagen meiner Unwissenheit und Unschuld verursachte mir die seltsam abergläubische Aeußerung meiner Tante ein gewisses unbehagliches Gefühl. Ich fühlte einen Trost in dem leisen Händedruck meines Gatten; es war eine unbeschreibliche Erleichterung für mich, als meines Onkels herzliche Stimme mir eine glückliche Zukunft wünschte. Der gute Mann hatte seine, im Norden gelegene Pfarre, meine zweite Heimath seit der Eltern Tode, verlassen, um den Trauact an uns zu vollziehen, und er wollte nun mit meiner Tante den Mittagszug zur Rückkehr benutzen. Er schloß mich in seine großen starken Arme und gab mir einen Kuß, der von den Müßiggängern gehört werden mußte, welche draußen vor der Kirchthür auf die Neuvermählten warteten.

»Ich wünsche Dir alles Glück und Wohl- ergehen, mein liebes Kind! Du warst alt genug, um selbst zu wählen, und ich bitte Gott, Valeria, daß Du gut gewählt haben mögest. Unser Haus wird uns recht leer ohne Dich vorkommen; aber ich muß mich bescheiden Wenn Du nur glücklich wirst, dann will ich es auch sein. O, O, nun weine nur nicht, sonst steckst Du Deine Taute auch noch an. Außerdem verderben Thränen die Schönheit. Trockne Deine Augen und blicke dort in den Spiegel, dann wirst Du sehen, daß ich Recht habe. Und nun lebe wohl, Kind, und Gott sei mit Dir!«

Er nahm den Arm meiner Tante und verließ die Sacristei. So sehr ich meinen Gatten liebte, that mir doch das Herz weh, als ich den treuen Freund und Beschützer meiner Mädchentage scheiden sah.

Dann kam der Abschied vom alten Benjamin. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, und vergessen Sie mich nicht!« war Alles, was er sagte. Aber so wenig Worte es auch waren, riefen sie mir doch alte Erinnerungen aus der Heimath zurück. Benjamin speiste jeden Sonntag bei uns, als mein Vater noch lebte, und jedes mal brachte er mir ein kleines Geschenk mit. Ich hätte beinahe wieder meine Schönheit verdorben, wie mein Onkel sich ausdrückte, als ich dem alten Manne die Wange zum Kuß bot, und als er aufseufzte, als wenn er keine rechte Hoffnung auf mein künftig Glück hätte.

Die Stimme meines Gatten machte meinen Sinn heiterer.

»Wollen wir gehen, Valeria?« fragte er.

Ehe wir die Kirche verließen, wollte ich noch meines Onkels Rath befolgen und in den Spiegel blicken, der über dem Kamin in der Sacristei angebracht war.

Welche Bilder zeigte mir der Spiegel?

Er zeigte mir ein großes, schlankes, junges Weib von dreiundzwanzig Jahren. Sie gehört durchaus nicht zu den Personen, welche auf der Straße die Blicke der Vorübergehenden auf sich ziehen, obgleich sie des goldblonden Haares und der rothen Wangen entbehrt, welche den meisten Engländerinnen eigenthümlich sind. Ihr Haar ist schwarz und fällt in breiten, sanft gekräuselten Locken von der Stirn auf Schulter und Nacken herab. Ihre Farbe ist bleich: mit Ausnahme von Momenten heftiger Erregung, in denen sich ihre Wangen röthen. Die Augen sind von so dunklem Blau, daß sie gewöhnlich für schwarz gehalten werden. Die Augenbrauen, obwohl schön geformt, sind zu dunkel und zu stark. Die scharf gebogene Nase wird von Leuten, die sich auf Nasen verstehen, für zu groß gehalten. Der Mund, der schönste Theil ihres Antlitzes, ist sehr edel geschnitten und außerordentlich ausdrucksfähig. Was das Antlitz im Allgemeinen betrifft, so ist es zu schmal und im unteren Theile zu lang, während es im oberen Theile, namentlich in der Stirn, zu breit erscheint.

Das ganze Bild, welches der Spiegel zurückwirft, zeigt eine elegante Figur, aber zu bleich, zu ruhig und ernst in Momenten des Schweigens, kurz eine Person, welche den gewöhnlichen Beobachter im ersten Augenblicke besticht, welche aber mit dem nächsten und jedem folgenden Blicke gewinnt. Was ihre Kleidung anbetrifft, so sucht diese eher zu verschweigen als zu erzählen, daß sie sich soeben verheirathet hat. Sie trägt einen Tunika von grauem Caschmir, und darunter einen Rock von gleichem, Stoff und gleicher Farbe. Von dem Haupt herab fließt ein weißer Schleier, der mit einer dunkelrothen Rose im Haar befestigt ist.

Ist mir die Beschreibung gelungen oder mißrathen, welche ich von meiner eigenen Person lieferte? Ich kann nicht sagen. Ich habe mein Bestes gethan, mich von zwei Eitelkeiten fern zu halten, von der Eitelkeit der Selbstherabsetzung und von der Eitelkeit des Selbstlobes.

Jedenfalls danke ich Gott, daß ich damit zu Ende bin. Und wen sehe ich im Spiegel an meiner Seite? Ich sehe einen Mann, nicht ganz so groß wie ich, der das Unglück hat, älter auszusehen als er ist. Seine Stirn ist vor der Zeit kahl geworden. Sein dichter kastanienbrauner Backenbart und lang herabfallender Schnurrbart sind, ebenfalls vor der Zeit, schon vielfach mit weißem Haar durchzogen. Sein Antlitz besitzt die Rothe, welche dem meinigen fehlt. Er blickt mich mit den zärtlichsten hellbraunen Augen an, die ich jemals bei einem Mann bemerkt. Sein Lächeln ist mild und liebreich; sein Benehmen obgleich ruhig und zurückhaltend, besitzt dennoch eine stumme Ueberredungsgabe, welche Frauen gegenüber von unwiderstehlicher Wirkung ist. Sein Gang ist ein klein wenig hinkend, in Folge einer Wunde, die er in früheren Jahren als Soldat in Indien empfing, und er trägt deshalb ein Bambusrohr mit seltsam geschnittener Krücke. Dies ist aber der einzige Fehler in seiner äußern Erscheinung, ein Fehler, der ihm in meinen Augen sogar eine gewisse Grazie verleiht. Das Beste aber, was ich an ihn finde, ist, daß ich ihn liebe. Mit diesem tiefgefühlten Geständniß beschließe ich das Portrait meines Gatten, wie es an unserem Hochzeitstage von dem Spiegel in der Sacristei zurückgeworfen wurde.

Da der Spiegel mir Alles erzählt, was ich wissen wollte, verließen wir die Kirche. Der Himmel, schon vom Morgen an bewölkt, hat sich unterdeß noch dunkler bezogen, und ein schwerer Regen fällt hernieder. Die Vorübergehenden blicken beinahe grimmig unter ihrem Regenschirm hervor, als wir ihnen über den Weg gehen, um unseren Wagen zu erreichen. Kein Frohsinn kein Sonnenschein keine Blumen auf den Weg gestreut, kein Bankett, keine Festreden, keine Brautjungfern keinen Segen von Vater, Mutter. Ein trüber Hochzeitstag und, wie Tante Starkweather sagt, ein schlechter Anfang.

Auf dem Bahnhof ist ein Coupe für uns reservirt worden. Der aufmerksame Portier, in Erwartung eines guten Trinkgeldes, hat die seidenen Rouleaux vor den Fenstern heruntergelassen, um uns den Blicken der Neugierigen zu entziehen. Nach einem scheinbar unendlich langen Aufenthalt, wird der Zug abgelassen. Mein Gatte schlingt den Arm um meine Taille »Endlich!« flüstert er mit so viel Liebe im Blick, wie Worte sie nicht auszudrücken vermögen und zieht mich sanft an sich. Mein Arm stiehlt sich langsam um seinen Hals; unsere Blicke begegnen sich. Dann vereinen sich die Lippen zu einem langen heißen Kuß. O, welche Erinnerungen steigen in mir auf, während ich dies niederschreibe! Ich muß meine Augen trocknen und das Papier für heute bei Seite legen.



Kapiteltrenner

Zweites Kapitel.

Die Gedanken der Braut.

Wir mochten ungefähr eine Stunde gefahren sein, als mit uns Beiden eine Veränderung vorging.

Dicht nebeneinander sitzend, meine Hand in der seinen, den Kopf an seine Schulter gelehnt, wurden wir allmälich immer schweigsamer. Hatten wir das kleine, aber doch so beredte Wörterbuch der Liebe schon erschöpft? Oder waren wir stillschweigend übereingekommen, nach der Wollust der Leidenschaft, die in der Sprache liegt, uns der noch tieferen Leidenschaft hinzugeben, welche im Denken beruht? Ich wage es nicht zu entscheiden. Ich weiß nur, daß eine Zeit kam, in welcher unsere Lippen sich gegen einander verschlossen hielten. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Waren die seinen ebenso ausschließlich bei mir, wie die meinen sich ausschließlich mit ihm beschäftigten? Noch ehe wir unser Ziel erreichten stiegen Zweifel in mir auf, und ein wenig später wußte ich gewiß, daß seine Gedanken weitab von seiner jungen Frau, sich zu dem Unglück seines Lebens gewandt hatten.

Was mich betrifft, so fühlte ich mich dennoch außerordentlich glücklich, ihn an meiner Seite zu haben.

Ich malte mir mit stillem Behagen aus, wie wir uns zum ersten Mal begegneten nicht weit vom Hause meines Onkels.

Unser berühmter Forellenbach strömte murmelnd und schäumend über sein steiniges Bett, durch grünes Wiesenland. Es war ein stürmischer, trüber Abend. Die Sonne sank unter blutrothen Wolken im fernen Westen hernieder. Ein einsamer Angler stand an einer Biegung des Stromes, wo am gegenüberliegenden Ufer ein überhängender alter Baum das Wasser beschattet. Von seinen Zweigen verdeckt, befand sich ein junges Mädchen ich selbst, und folgte mit regem Interesse dem schnellen Dahingleiten der Forellen.

Der Angler seinerseits folgte jeder ihrer Bewegungen mit aufmerksamem und geübtem Blick, und am sandigen Ufer des Baches entlang gehend, ließ er oft die Angelschnur im seichten Wasser schwimmen bald zog er sie an, um den Fisch mit dem Köder zu locken. Ich folgte auf dem anderen, unebenen Ufer, um das Spiel zwischen dem Angler und der Forelle weiter zu beobachten. Ich hatte lange genug bei meinem Onkel Starkweather gelebt, um nicht Etwas von seinem Enthusiasmus für die Kunst des Angelns abbekommen zu haben. So folgte ich, von dem Fremden ungesehen, und die Augen fest auf jede Bewegung der Angelruthe und des Köders gerichtet, auf der anderen Seite des Baches, ohne auf den Weg Acht zu geben. Ein Fehltritt auf dem losen, etwas erhöhten, Ufer ließ mich straucheln, und ich fiel in den Bach.

Die Höhe war unbedeutend, das Wasser flach, das Bett an dieser Stelle nicht steinig. Außer dem Schreck und der Durchnässung trug ich keinen Schaden davon. Binnen wenigen Minuten war ich schon wieder aus dem Wasser und auf festem Grunde. So kurz der Zwischenfall auch war, hatte er doch dem Fische Gelegenheit gegeben, zu entfliehen. Der Angler hatte meinen ersten instinctiven Schreckensruf gehört, und in demselben Augenblick ward die Angel bei Seite geworfen und er eilte herbei, um mir zu helfen. Wir standen zum ersten Male einander gegenüber, ich auf dem etwas erhöhten Ufer, er in dem flachen Wasser unter mir. Unsere Blicke begegneten sich, und ich glaube, unsere Herzen thaten dasselbe. Soviel weiß ich gewiß, daß wir gegen alle gute Sitte und Erziehung uns schweigend eine ganze Weile anschauten.

Ich war die Erste, die wieder zu sich selbst kam.

Ich sagte ihm, daß ich mir kein Leides gethan und bat ihn, seine Beschäftigung wieder aufzunehmen und zu versuchen, ob er den Fisch nicht noch bekommen könnte.

Er folgte widerstrebend meiner Aufforderung und kehrte dann, natürlich ohne Forelle, zu mir zurück. Da ich wußte, wie unglücklich mein Onkel in der Stelle des Fremden gewesen sein würde, bat ich ihn, daß er mir nicht zürnen möge. In meinem Eifer, ihn für seinen Verlust zu entschädigen, wollte ich ihm sogar eine Stelle im Bach zeigen, wo er schnell das Versäumte nachholen könne.

Er wollte nicht darauf hören, sondern bat mich nur, nach Hause zu gehen und die Kleidung zu wechseln. Ich machte mir Nichts aus der Durchnässung, aber ich gehorchte ihm, ohne zu wissen, warum.

Erging an meiner Seite. Mein Heimweg zum Pfarrhause war sein Heimweg zum Gasthof. Er hatte unsere Gegend ausgesucht, erzählte er mir, nicht allein des Fischens, sondern auch der ruhigen Zurückgezogenheit wegen. Er hatte mich schon einige Male von seinem Fenster aus bemerkt; er fragte mich, ob ich des Predigers Tochter sei.

Ich klärte ihn auf über meine Verhältnisse. Ich erzählte ihm, daß der Prediger meiner Mutter Schwester geheirathet, und daß die Beiden dann, nach dem Tode meiner Eltern, Vater- und Mutterstelle bei mir vertreten hätten.

Er fragte mich, ob er es wagen dürfe, am nächsten Tage dem Doctor Starkweather seinen Besuch zu machen, indem er den Namen eines seiner Freunde nannte, den, wie er glaubte, mein Onkel kennen müsse. Ich lud ihn ein, zu uns zu kommen, als wenn ich die Herrin des Hauses gewesen wäre. Ich war wie bezaubert durch seine Stimme und durch seinen Blick. Niemals, in keines anderen Mannes Gegenwart, war mir so seltsam zu Muthe gewesen, wie ich es jetzt empfand. Die Schatten des Abends waren dunkler geworden, als er mich verließ. Ich lehnte mich gegen das Gitter unseres Gartens. Ich vermochte kaum zu athmen; ich konnte nicht denken; mein Herz schlug, als wenn es mir aus der Brust springen wollte, und Alles das für einen Mann, den ich nie zuvor gesehen. Ich erglühe vor Scham, und dennoch war ich so glücklich!

Und nun, nachdem erst wenige Wochen vergangen, halte ich ihn an meiner Seite, und er ist mein für das ganze Leben. Ich erhob mein Haupt von seiner Schulter, um ihn anzublicken.

Er wurde meine Bewegung nicht gewahr; er blieb still und regungslos in seiner Ecke sitzen. War er in tiefen Gedanken, und befanden sich diese Gedanken bei mir?

Ich ließ mein Haupt wieder leise sinken, um ihn nicht zu stören. Meine eigenen Gedanken wanderten abermals zurück und zeigten mir ein anderes Bild aus der goldenen Gallerie meiner Vergangenheit. Der Garten des Pfarrhauses bildete den Schauplatz. Es war Nacht. Wir waren heimlich zusammen gekommen. Wir gingen, ohne vom Hause ans bemerkt werden zu können, langsam auf und nieder, bald in den schattigen Steigen des Gehölzes, bald auf dem mondlichtbeglänzten Grasplatz. Wir hatten uns längst unsere Liebe gestanden, und unser Leben einander gewidmet. Unsere Interessen waren bereits eins geworden; wir theilten unsere Freuden und unser Leid. Ich war ihm in jener Nacht mit schwerem Herzen entgegengekommen, und hoffte Trost durch seine Gegenwart zu finden. Er hörte meinen Seufzer, als er mich in seine Arme schloß, und wandte sanft meinen Kopf dem Mondlicht zu, um in meinen Zügen lesen zu können. Wie oft hatten ihm dieselben in früheren Zeiten nur Glück und Freude entgegengestrahlt!

»Du bringst mir schlechte Zeitung, mein Engel,« sagte er, mir das Haar aus der Stirn streichend. »Dein Auge erzählt mir von Sorge und Kummer; ich wünschte beinahe, ich liebte Dich weniger, Valeria.«

»Und weshalb?«

»Um Dich Dritter Freiheit zurückgeben zu können. Wenn ich den Ort verließe, würde Dein Onkel sehr zufrieden sein, und Dir selbst blieben für die Folge alle Sorgen erspart, die Dich um meinetwillen drücken.«

»O sprich nicht so, Eustace! Du weißt ja, daß ich nicht mehr ohne Dich leben kann.«

Ein Kuß bereinigte unsere Lippen, und wir vergaßen während einiger köstlicher Minuten den harten Weg, auf dem wir wandelten. Dann kehrten wir zur Wirklichkeit zurück, und ich war gestärkt und getröstet, belohnt für Alles, was ich erlitten, und bereit, dasselbe noch einmal zu erleiden, um eines zweiten solchen Kußes willen. Wendet nur dem Weibe wahrhafte Liebe zu, und es wird Nichts geben, was es nicht dieser Liebe wegen erduldete und wagte.

»Haben sich wieder neue Hindernisse unserer Verbindung entgegengesetzt?« fragte er, als wir wieder langsam neben einander herschritten.

»Nein, die Hindernisse haben ein Ende erreicht. Onkel und Tante haben sich erinnert, daß ich mündig bin und selbst wählen kann, Sie wollten mich allerdings überreden, Dich aufzugeben. Meine Taute, die ich immer für hart gehalten, sah ich zum ersten Male um mich weinen. Mein Onkel, der immer freundlich und gut zu mir gewesen, ist es jetzt noch mehr denn sonst. Er sagte mir, daß, wenn ich darauf bestände, Deine Frau zu werden, er mich nicht an meinem Hochzeitstage verlassen werde. Wo wir uns auch verheirathen möchten, er würde dorthin kommen, um den heiligen Art zu vollziehen, und meine Tante würde mich zur Kirche begleiten. Aber er beschwört mich auf das Ernsthafteste, in Erwägung zu ziehen, was ich beginne; mich von Dir zu trennen, ehe es zu spät ist, und andere Leute um Rath zu fragen, wenn ich mich mit seiner Ansicht nicht einverstanden erklären könnte. Zwingen wollen sie mich nicht, aber sie sind dennoch eifrig bemüht, uns zu trennen, als wenn Du der schlechteste aller Männer wärst, während Du doch deren bester bist.«

»Ist seit gestern etwas vorgefallen, das ihre Abneigung gegen mich erhöht hätte?« fragte er.

»Ja.«

»Und was?«

»Du erinnerst Dich Eures gemeinschaftlichen Freundes?«

»Ganz recht. Des Majors Fitz-David.«

»Mein Onkel hat an ihn geschrieben.«

»Weshalb?«

Er sprach dieses eine Wort in einem so fremdartigen Ton, als wenn es gar nicht zu seiner Sprache gehörte.

»Du mußt aber nicht böse sein, wenn ich es Dir erzähle, Eustace,« sagte ich. »Mein Onkel, wenn ich ihn, recht verstanden habe, hatte verschiedener Gründe, dem Major zu schreiben. Einer derselben war, um die Adresse Deiner Mutter zu bitten.«

Eustace stand plötzlich still.

Ich hielt in demselben Augenblick inne, weil ich fühlte, daß ich nicht weiter gehen dürfe, ohne ihn zu beleidigen.

Die Wahrheit zu sprechen, war sein Benehmen, als er den Onkel um meine Hand bat, etwas unruhig und seltsam. Der Pfarrer hatte ihn natürlich um seine Familie befragt. Er erhielt zur Antwort, daß der Vater todt sei, und dann hatte Eustace, obgleich nicht ohne Widerstreben, darin gewilligt, daß unser Verlöbniß seiner Mutter angezeigt werden dürfte. Nachdem er uns mitgetheilt, daß sie auch auf dem Lande wohne, hatte er sich zu ihr begeben, jedoch ohne uns ihre Adresse zu hinterlassen. Nach zwei Tagen war er mit einem Bescheide zurückgekehrt, der uns stutzig machte. Seine Mutter hatte Nichts gegen mich oder meine Verwandten einzuwenden gehabt; aber sie mißbilligte in so hohem Grade die Absicht ihres Sohnes, sich mit mir verheirathen zu wollen, daß sie, im Verein mit allen Familienmitgliedern, ihre Gegenwart bei der Trauungsfeierlichkeit verweigerte, wenn Mr. Woodville darauf bestände, seine Verlobung mit Dr. Starkweathers Nichte aufrecht zu erhalten. Um die Ursache dieses seltsamen Ausspruches befragt, erzählte uns Eustace, daß seine Mutter und Schwestern seine Verheirathung mit einer andern Dame wünschten, und daß sie sich daher bitter gekränkt und enttäuscht fühlten, daß er eine Fremde in die Familie bringen wollte. Diese Erklärung genügte mir vollkommen, denn sie enthielt, so weit ich es beurtheilen konnte, für meine Person die Schmeichelei, daß ich größeren Einfluß über Eustace gewonnen, als jene Andere. Onkel und Tante zeigten sich aber weniger zufriedengestellt. Ersterer sprach gegen Mr. Woodville den Wunsch aus, seiner Mutter schreiben oder sie besuchen zu dürfen, tun sie ihres seltsamen Ausspruches wegen zu befragen. Eustace verweigerte auf das Hartnäckigste die Adresse seiner Mutter, unter dem Vorgeben, daß des Pastors Intervention vollkommen nutzlos sein würde. Hieraus zog mein Onkel sofort den Schluß, daß in dem Geheimniß welches auf der Adresse der Mutter ruhte, etwas Böses verborgen sein müsse. Er verweigerte es, Mr. Woodvilles erneutes Anhalten um meine Hand zu befürworten und schrieb noch am nämlichen Tage an den gemeinschaftlichen Freund, Major Fitz-David, um Erkundigungen über Mr. Woodville einzuziehen.

»Hat Dein Onkel eine Antwort vom Major Fitz-David erhalten?« fragte Eustace.

»Wurde Dir erlaubt, sie zu lesen?« Seine Stimme sank bei diesen Worten zum Geflüster herab, und seine Züge verriethen eine Angst, die mich schmerzlich berührte.

»Ich habe die Antwort mitgebracht, um sie Dir zu zeigen,« sagte ich.

Er riß mir beinahe den Brief aus der Hand und wandte den Rücken, um ihn im Mondlicht zu lesen.

Der Brief war kurz genug und lautete folgendermaßen:

Lieber Vicar!

Mr. Eustace Woodville ist Gentleman von Geburt und Lebensstellung und besitzt, nach seines verstorbenen Vaters Testament, ein unabhängiges Einkommen von 2000 Pfund jährlich.

Stets der Ihre

Lawrence Fitz-David

»Kann es eine einfachere Antwort geben?« fragte Eustace, mir den Brief zurückgebend.

»Wenn ich Auskunft über Dich verlangt hätte; würde sie mir allerdings genügend gewesen sein.«

»Deinem Onkel genügt sie also nicht?«

»Nein.«

»Was sagt er?«

»Weshalb willst Du das wissen?«

»Ich muß es wissen, Valeria. In dieser Angelegenheit darf kein Geheimniß zwischen uns bestehen. Sprach Dein Onkel irgend Etwas, als er Dir des Majors Brief zeigte?«

»Ja.«

»Und was?«

»Mein Onkel sagte mir, daß sein Brief drei Seiten gefüllt habe, und daß die Antwort in einem einzigen Satze bestände. Er sagte, Du siehst, wie kurz mich der Major abfertigt. Ich bat ihn um die Adresse von Mr. Woodvilles Mutter.

Er übergeht die Frage mit völligem Stillschweigen. Urtheile nach Deinem eigenen gesunden Menschenverstande, Valeria. Ist dies Benehmen bei einem Gentleman und Freunde nicht auffällig?«

Eustace unterbrach mich hier.

»Erwidertest Du etwas darauf?« fragte er.

»Nein,« entgegnete ich. »Ich sagte nur, daß ich das Benehmen des Majors nicht verstände.«

»Und was bemerkte Dein Onkel darauf? Bei Deiner Liebe, Valeria, sage mir die Wahrheit.«

»Er bediente sich harter Worte, Eustace, er ist ein alter Mann, Du mußt ihm das nicht übel nehmen.

»Ich nehme es nicht übel. Was sagte er?«

»Er sagte: Merke wohl auf meine Worte! Es schwebt ein Geheimniß über Mr. Woodville und seiner Familie, welches der Major nicht enthüllen darf. Der Brief soll aber dennoch eine Warnung sein, zeige ihn Mr. Woodville und erzähle ihm, was ich Dir soeben gesagt.«

Eustace unterbrach mich abermals.

»Du weißt gewiß, daß Dein Onkel sich dieser Worte bediente?« sagte er, mein Antlitz sorgfältig im Mondlicht betrachtend.

»Ganz gewiß Aber ich bin nicht der Ansicht meines Onkels; denken wir nicht mehr daran.«

Er zog mich plötzlich an seine Brust, und seine Augen blickten in die meinen. Sein Aussehen erschreckte mich.

»Gute Nacht, Valeria!« sagte er, »bewahre mir ein freundliches Andenken, wenn Du einem glücklicheren Manne vermählt sein wirst.«

Er machte Miene mich zu verlassen. Ich hing mich in einem Anfall von Schrecken an ihn und zitterte am ganzen Körper.

»Was willst Du damit sagen?« flüsterte ich als-ich der Sprache wieder mächtig war. »Ich bin Dein, nur Dein! Was habe ich gethan, um diese entsetzlichen Worte zu verdienen?«

»Wir müssen uns trennen,« antwortete er traurig. »Die Schuld ist nicht Dein; aber mein ist das Unglück Wie kannst Du einen Mann heirathen wollen, der Deinen nächsten Angehörigen verdächtig ist? Ich habe ein trauriges Leben geführt. Nie sah ich ein Weib, das mir so sympathisch war, als Du es bist, und das mir so süßen Trost gewährte. ist hart Dich zu verlieren, es ist hart, in das freudlose Leben zurückzukehren. Deinetwegen muß ich das Opfer aber bringen. Ich kann des Majors Brief ebenso wenig erklären, als Ihr es könnt. Wird Dein Onkel mir glauben? Noch einen letzten Kuß, Valeria! Vergieb mir, daß ich Dich leidenschaftlich und mit tiefer Ergebenheit liebte. Vergieb mir das, und laß mich gehen!«

Ich klammerte mich in halber Verzweiflung an ihn.

»Gehe, wohin Du willst,« sagte ich, »ich gehe mit Dir! Was sind mir Ehre, Ruf, Freunde? Dein Besitz wiegt das Alles auf! Mache mich nicht wahnsinnig, Eustace! Ich kann nicht ohne Dich leben! Ich will und muß Dein Weib werden!« Jene wilden Worte waren das einzige was ich hervorbringen konnte; dann löste sich mein Elend in einen Strom von Thränen auf.

Er gab nach. Er tröstete mich mit seiner bezaubernden Stimme; er brachte mich mit sanfter Liebkosung zu mir selbst zurück. Er rief den sternenklaren Himmel zum Zeugen, daß er mir sein ganzes Leben weihen wolle. Und wie beredt und feierlich seine Worte klangen! Er schwur, daß nur ein Gedanke ihn belebe, Tag und Nacht, nämlich der, mich glücklich zu machen und sich meiner würdig zu bezeigen. Und hat er nicht jenes Gelöbniß gehalten? Folgte nicht dem Schwur in jener erinnerungsreichen Nacht der Schwur vor dem Altar, der Schwur vor Gott? Und welch’ ein Leben sah ich vor mir! Die ganze irdische Glückseligkeit erwärmte meine Seele.

Noch einmal hob ich das Haupt von seiner Schulter, um ihn anzublicken, mein Leben, meine Liebe, meinen Gatten, mein Alles! Kaum erwacht aus den Erinnerungen der Vergangenheit zu den Wirklichkeiten der Gegenwart, lehnte ich meine Wange an die seine und flüsterte ihm zu: »O, wie ich Dich liebe! Wie ich Dich liebe!«

Im nächsten Augenblick schreckte ich von ihm zurück. Mein Herz stand still, ich führte die Hand an mein Antlitz. Was fühlte ich auf meiner Wange? Eine Thräne!

Sein Antlitz war mir noch abgekehrt, ich faßte es sanft mit beiden Händen und wandte es zu mir.

Ich blickte es an und sah die Augen meines Gatten, an unserem Hochzeitstage, voller Thränen.



Kapiteltrenner

Drittes Kapitel.

Der Strand von Ramsgate.

Es gelang Eustace, mich zu beruhigen, aber ich kann gerade nicht sagen, daß es recht nachhaltig geschah.

Er erzählte mir, daß er über die Gegensätze seines vergangenen und gegenwärtigen Lebens nachgedacht. Bittere Erinnerungen aus verflossenen Jahren waren in seiner Seele aufgestiegen und hatten sie mit melancholischen Zweifeln erfüllt, ob er wohl im Staude sein würde, unser Zusammenleben glücklich zu gestalten. Er hatte sich gefragt, ob er mir nicht zu spät begegnet sei, ob er nicht schon ein Mann wäre, dessen Kraft die Enttäuschungen der Vergangenheit gebrochen? Diese und ähnliche Gedanken und Zweifel hatten seine Seele bedrückt und ihm die Augen mit Thränen gefüllt, mit Thränen, die er mich zu vergessen bat, und die er versprach, nie wieder vergießen zu wollen.

Ich vergab ihm, tröstete ihn und belebte ihn durch meine Unterhaltung; aber es kamen Momente über mich, welche die bittere Frage in meinem Innern laut werden ließen, ob ich wirklich in so hohem Grade das Vertrauen meines Gatten besäße wie er das meine.

Wir verließen den Zug in Ramsgate. Der beliebte Badeort war leer; die Saison eben vorüber. Unsere Pläne für die Hochzeitsreise schlossen auch eine Fahrt durch das mittelländische Meer in sich, zu welcher ein Freund von Eustace ihm eine Yacht leihen wollte. Wir liebten beide die See und fühlten den gemeinschaftlichen Wunsch, in Anbetracht der Verhältnisse, unter denen wir uns geheirathet hatten, der Neugier von Freunden und Bekannten zu entfliehen. Nachdem wir unsere Hochzeit ganz still in London gefeiert, hatten wir den Bootsmann der Yacht nach Ramsgate beordert, um uns dort abzuholen. In diesem Hafen konnten wir uns nach Beendigung der Saison weit unbemerkter einschiffen, als auf der großen Yachtstation der Insel Wight.

Drei Tage vergingen, Tage entzückender Einsamkeit, unaussprechlichen Glückes, die nimmer meinem Gedächtniß entschwinden und die ich immer wieder durchleben werde, bis mir der Tod mein Auge brechen wird.

Früh am Morgen des vierten Tages, kurz vor Sonnenaufgang ereignete sich etwas, das anscheinend geringfügig, dennoch von großer Wichtigkeit für mich wurde.

Ich erwachte plötzlich und auf unbegreifliche Weise aus einem tiefen, traumlosen Schlaf mit einem Gefühl nervöser Unbehaglichkeit, das ich nie zuvor empfunden hatte. In meinen Kinder- und Mädchenjahren war ich als tiefe Schläferin berühmt gewesen und hatte manchen Scherz deshalb hinnehmen müssen. Von dem Augenblicke an, wo sich mein Haupt aufs Kissen legte, bis zu dem Moment, an dem das Mädchen mich weckte, hatte ich garnicht gewußt, was Erwachen sei. —

Und nun wurde mein Schlaf gestört, ohne daß irgend ein Grund dafür anzugeben war. Ich versuchte wieder einzuschlafen Es war vergebens. Ich wurde von einer solchen Unruhe erfaßt, daß es mir nicht einmal möglich war, im Bett zu bleiben. Mein Gatte schlief tief und ruhig an meiner Seite. In der Befürchtung ihn zu stören, stand ich leise auf und schlüpfte in das Morgenkleid und die Pantoffeln. Ich trat ans Fenster. Die Sonne stieg gerade empor über der ruhigen graublauen See. Für wenige Minuten übte das majestätische Schauspiel einen beruhigenden Einfluß auf meine heftig erregten Nerven. Doch es währte nicht lange so ergriff mich die Ruhelosigkeit von Neuem. Ich ging langsam im Zimmer auf und nieder, bis die Monotonie der Bewegung mir widerstrebte. Ich nahm ein Buch und legte es wieder aus der Hand. Meine Gedanken wanderten; der Autor hatte nicht die Macht, sie zu fesseln. Ich stand wieder auf und blickte ans Eustace und bewunderte ihn und liebte ihn in seinem ruhigen Schlaf. Ich ging zum Fenster zurück, und des schönen Morgens überdrüssig, setzte ich mich vor den Spiegel und betrachtete mein Antlitz. Wie mich die wenigen Stunden des fehlenden Schlafes angegriffen hatten! Die Enge des Zimmers begann erdrückend auf mich zu wirken. Ich öffnete die Thür zu meines Mannes Ankleidezimmer und trat ein, um mir eine Veränderung zu machen.

Der erste Gegenstand, der mir in die Augen fiel, war sein Toilettenkasten, der offen auf dem Tische stand.

Ich beschäftigte mich damit, die Fläschchen, Töpfe, Bürsten, Kämme, Messer und Scheren auf der einen Seite, die Schreibmaterialien auf der andern, herauszunehmen. Ich roch an den Parfums und Pomaden und stäubte die Flaschen mit meinem Taschentuch ab. Nach und nach hatte ich das ganze Kästchen geleert. Es war mit blauem Sammet gefüttert. In einer Ecke bemerkte ich sein seidenes Bändchen. Indem ich es zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und es aufwärts zog, entdeckte ich einen doppelten Boden, der ein geheimes Fach für Briefe und Papiere verschloß. In meiner nervösen Ungeduld gewährte es mir eine Zerstreuung, die Papiere herauszunehmen, gerade wie ich es mit den andern Sachen gemacht hatte.

Ich fand einige quittirte Rechnungen, welche mir kein Interesse abgewannen, Briefe, die ich ungelesen bei Seite legte, und unter dem Allen eine Photographie, das Bild nach unten, und etwas Geschriebenes auf der Rückseite.

Ich las es; es waren folgende Worte:

»Meinem lieben Sohne Eustace.«

Seine Mutter! Die Frau, welche so hartnäckig und mitleidslos unserer Verbindung sich widersetzt hatte!

Schnell drehte ich die Photographie um, in Erwartung, ein kaltes herzloses Antlitz zu schauen. Zu meinem Erstaunen erblickte ich Reste großer Schönheit, der Gesichtsausdruck, obgleich fest, war dennoch gewinnend, zärtlich und gütig.

Das graue Haar war in seltsamen kleinen Locken zu beiden Seiten der Stirn arrangirt, welche sich unter einer einfachen Haube hervorstahlen. In dem einen Mundwinkel bemerkte ich ein Zeichen, anscheinend ein Maal, welches die characteristische Eigenthümlichkeit des Antlitzes noch erhöhte. Ich prägte mir das Bild fest ins Gedächtniß. Diese Frau, welche meine Verwandten und mich beinahe beleidigt hatte, besaß ohne allen Zweifel so viel Anziehendes, daß unwillkürlich der Wunsch in mir aufstieg, sie näher kennen zu lernen.

Ich versank in tiefe Gedanken. Das Auffinden der Photographie beruhigte mich, wie mich bisher noch nichts beruhigt hatte.

Das Schlagen der Uhr unten in der Halle erinnerte mich an den Lauf der Zeit.

Ich legte alle Gegenstände, wie ich sie gefunden, in den Toilettenkasten zurück und begab mich wieder in das Schlafzimmer.

»Als ich meinen noch ruhig schlafenden Gatten anblickte, drängte sich mir die Frage auf: Was konnte diese gütige Mutter veranlaßt haben, uns auf eine so grausame Art trennen und unsere Verbindung hindern zu wollen? Sollte ich Eustace die Frage vorlegen, wenn er erwachte? Nein Es war zwischen uns ausgemacht worden, seiner Mutter nicht zu erwähnen, und außerdem hätte es ihn unangenehm berühren können, daß ich das geheime Fach seines Toilettenkästchens geöffnet.

Nach Beendigung des Frühstücks erhielten wir Nachricht von der Yacht. Das Fahrzeug war im Hafen angekommen, und der Steuermann erwartete die Befehle meines Gatten.

Eustace schien meine Begleitung nicht zu wünschen, weil die Vorbereitungen zur Reise kein Interesse für mich hätten. Er fragte mich, ob ich seine Rückkehr abwarten wollte. Der Tag war ausnehmend schön, und das Meer war in der Ebbe. Ich bat ihn Inn Erlaubniß, einen Spaziergang am Strande machen zu dürfen, und unsere Wirthin, die gerade im Zimmer war, erbot sich, mich zu begleiten wurde verabredet, daß wir in der Richtung nach Broadstairs gehen und daß wir uns ans dem Heimwege am Strande treffen wollten.

Nach einer kleinen halben Stunde war ich mit der Wirthin unterwegs.

Das landschaftliche Bild des schönen Herbstmorgens war bezaubernd. Die frische Brise, der klare Himmel, die wogende blaue See, die sonnbeglänzten Berge und der gelbe Sand zu ihren Füßen, das ruhige Dahingleiten bewimpelter Schiffe, das Alles war so entzückend, die Seele erfrischend, daß, wäre ich allein gewesen, ich hätte tanzen können wie ein kleines Kind. Der einzige Mißton, der meine Freude durchdrang, war die geschwätzige Zunge der Wirthin. Sie war ein offenes, gutmüthiges, leerköpfiges Weib, das in fortwährendem Sprechen blieb, ich mochte zuhören oder nicht, und das sich angewöhnt hatte, in jedem Satze mindestens einmal meinen Namen zu nennen.

Wir mochten eine halbe Stunde gegangen sein, als wir eine Dame einholten, welche vor uns am Meeresstrande hinging.

Gerade in dem Augenblick, wo wir ihr Vorbeigehen wollten, faßte sie nach ihrem Taschentuch und riß einen Brief mit heraus, der unbemerkt von ihr auf den Sand fiel. Ich hob ihn auf und bot ihn der Dame.

Als sie den Kopf wandte, um mir zu danken, stand ich wie angewurzelt. Das war das Original des photographischen Portraits aus meines Mannes Toilettenkästchen. Es war seine Mutter, die mir gegenüber stand. Ich erkannte die seltsamen kleinen grauen Locken, die gütig blickenden Augen, das Maal in ihrem Mundwinkel. Ein Irrthum war nicht möglich.

Die alte Dame hielt, wie es wohl natürlich war, meine Verwirrung für Befangenheit. Mit vollkommen feinem Takt begann sie eine Unterhaltung mit mir. In der nächsten Minute ging ich ruhig an der Seite der Frau, die mich als Mitglied ihrer Familie verworfen hatte, nicht wissend, ob ich es wagen dürfte, in Abwesenheit meines Gatten mich ihr vorzustellen.

Einen Augenblick darauf erledigte meine Wirthin die Frage, welche mich soeben beschäftigte. Ich äußerte die Ansicht, daß wir Broadstairs wohl schon nahe sein dürften.

»O nein, Mrs. Woodville!« rief die zungenfertige Wirthin, »wir sind noch ein ganzes Stück davon ab.«

Bei der Nennung des Namens blickte ich mit klopfendem Herzen auf die alte Dame. Zu meinem unaussprechlichen Erstaunen zeigte nicht die geringste Veränderung ihrer Züge, daß er sie überrascht. Die alte Mrs. Woodville sprach eben so ruhig und unbefangen mit der jungen Mrs. Woodville weiter, als wenn sie den Namen in ihrem ganzen Leben nicht gehört.

Mein Antlitz und Benehmen mußte etwas von der inneren Erregung verrathen haben, die mich beherrschte.

»Sie haben Sich zu sehr angestrengt,« sagte die Dame mit ihrem gütigen Ton. »Sie sehen bleich und ermüdet aus. Lassen Sie uns hier ein wenig niedersitzen.«

Ich folgte ihr zu einigen rohen Steinen, welche uns als Bank dienten.

Wenn es nach mir gegangen wäre, würde ich sofort eine Erklärung herbeigeführt haben. Der Gedanke an Eustace hielt mich aber von derselben zurück.

Während ich mich darüber beunruhigte, welche Gründe die alte Dame veranlassen möchten, mich nicht als ihre Schwiegertochter zu betrachten, begann sie wieder freundlich mit mir zu sprechen. Sie sagte, daß sie sich ebenfalls angegriffen fühle, daß sie eine schlechte Nacht am Bett einer nahen Verwandten zugebracht, die hier in Ramsgate wohne. Am gestrigen Tage hätte sie ein Telegramm zu der kranken Schwester gerufen. Gegen Morgen habe sich der Zustand aber gebessert, und der Arzt habe ihr die Versicherung begeben, daß das Schlimmste nicht mehr zu befürchten sei. Da hätte sie es für gut gehalten, einen kleinen Spaziergang am Wasser zu machen, um sich zu erfrischen. Ich hörte die Worte, ich verstand ihren Sinn, aber ich war noch zu verwirrt und eingeschüchtert, um die Unterhaltung fortsetzen zu können.

Die Wirthin brach zuerst wieder das Schweigen. »Dort kommt ein Gentleman,« sagte sie, nach der Richtung von Ramsgate deutend. »Die Damen werden nicht zu Fuß zurückkehren können. Wollen wir den Herrn nicht bitten, daß er von Broadstairs einen Wagen hierher schickt?«

Der Gentleman kam näher und näher.

Die Wirthin und ich erkannten ihn in demselben Moment.

Es war Eustace, der der Verabredung gemäß uns nachgegangen war.

»O, Mrs Woodville, sehen Sie doch, da kommt Mr. Woodville!« rief die Wirthin voller Freude.

Ich blickte noch einmal auf meine Schwiegermutter. Noch einmal machte der Name nicht den geringsten Eindruck auf sie. Ihr Auge war nicht so scharf als das unsere, sie hatte ihren Sohn noch nicht erkannt. Er aber hatte junge Augen wie wir und erkannte sofort seine Mutter. Für einen Moment stutzte er, als wenn der Blitz ihn getroffen. Dann schritt er langsam weiter, sein sonst rothes Antlitz bleich vor niedergekämpfter Erregung, die Augen fest auf seine Mutter gewandt »Du hier!« sagte er.

»Wie geht es Dir, Eustace?« entgegnete sie ruhig und sanft.

»Hast Du schon von Deiner Taute Krankheit gehört? Wußtest Du überhaupt, daß sie in Ramsgate sei?«

Er antwortete nicht.

Die Wirthin, aus den gehörten Worten ihre Schlüsse machend, blickte mit solchem Staunen von mir auf meine Schwiegermutter, daß selbst ihre Zunge gelähmt wurde. Ich wartete, die Augen auf meinen Gemahl gerichtet, was er beginnen würde. Wenn er jetzt gezögert hätte, mich anzuerkennen, würde vielleicht meine ganze Zukunft Meine andere Richtung bekommen haben — denn ich hätte ihn verachtet.

Er zögerte aber nicht. Er trat an meine Seite und nahm meine Hand- »Weißt Du, wer diese Dame ist?« fragte er seine Mutter.

Sie antwortete mit einem freundlichen Neigen des Kopfes gegen mich:

»Eine Dame, die ich am Strande traf, und die so gütig war, einen Brief aufzuheben, den ich hatte fallen lassen. Mich dünkt, ich hörte auch den Namen nennen; Mrs. Woodville, war es nicht so?«

Meines Gatten Finger umschlossen mit so krampfhaftem Druck meine Hand, daß es mich schmerzte. Er belehrte seine Mutter, zu seiner Ehre muß ich es ihm nachsagen, auch ohne einen Moment schurkischen Zögerns »Mutter,« sagte er vollkommen ruhig, »die Dame ist meine Frau.«

Die alte Lady, die bis jetzt ihren Platz behauptet hatte, erhob sich langsam und blickte ihren Sohn schweigend an. Der erste Ausdruck des Staunens wich aus ihren Zügen und verwandelte sich in einen schrecklichen Blick, welcher zugleich Zorn und so tiefe Verachtung ausdrückte, wie ich sie nie zuvor in eines Weibes Auge gesehen.

»Ich bemitleide Dein Weib!« sagte sie.

Mit diesen Worten winkte sie ihm mit der Hand, nicht näher zu treten, und ging dann allein weiter, wie sie allein gekommen.



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel.

Auf dem Heimwege.

Als wir miteinander allein waren, herrschte einen Augenblick Schweigen zwischen uns. Eustace brach es zuerst.

»Bist Du im Stande, zurück zu gehen?« sagte er zu mir, »oder wollen wir nach Broadstairs und von dort mit der Eisenbahn nach Ramsgate?«

Er that diese Fragen mit so ruhiger Fassung, als wenn nichts Bemerkenswerthes vorgefallen wäre. Aber seine Augen und Lippen verriethen ihn. Sie erzählten mir von seinem tiefen inneren Leiden. Die außergewöhnliche Scene, welche soeben ihr Ende erreicht hatte, weit entfernt, den letzten Rest meines Muthes zu erschüttern, hatte vielmehr meine Nerven angespannt und mein Selbstgefühl befestigt.

Ich hätte mehr oder weniger als ein Weib sein müssen, wenn meine Selbstachtung nicht hätte verwundet werden, wenn meine Neugier durch das seltsame Benehmen meines Mannes, während er mich seiner Mutter vorstellte, nicht hatte auf den höchsten Gipfel getrieben werden sollen. Aus welchem Grunde verachtete sie ihn und bemitleidete sie mich? Worin fand ich die Erklärung ihrer unbegreiflichen Gleichgültigkeit, als mein Name zweimal in ihrer Gegenwart genannt wurde? Weshalb hatte sie uns so plötzlich verlassen, als ob der bloße Gedanke, in unserer Gesellschaft zu verharren, ihr Abscheu einflößte? Das Hauptinteresse meines Lebens bestand nun darin, das Geheimniß zu durchdringen. Gehen? Ich befand mich in einer so fieberhaft erwartungsvollen Aufregung, daß mir war, als wenn ich an meines Gatten Seite bis ans Ende der Welt hätte gehen können.

»Mir ist wieder ganz wohl,« sagte ich, »laß uns zu Fuß zurückkehren, wie wir gekommen.«

Eustace warf einen Blick auf die Wirthin. Die Wirthin verstand ihn.

»Ich will Ihnen meine Gesellschaft nicht aufdrängen, Sir,« sagte sie scharf. »Ich habe Geschäfte in Broadstairs, und nun ich so nahe daran bin, will ich die Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Guten Morgen, Mrs. Woodville.«

Sie legte einen starken Druck auf meinen Namen und fügte einen bedeutungsvollen Blick hinzu, den ich in meiner Verwirrung nicht verstand. Es war auch weder Zeit noch Gelegenheit, sie darüber zu befragen. Mit einer leichten steifen Verbeugung gegen Eustace verließ sie uns, wie seine Mutter uns verlassen hatte, und ging mit schnellen Schritten in der Richtung nach Broadstairs zu.

Endlich waren wir allein Ich verlor keine Zeit mit einleitenden Worten, sondern richtete sofort eine klare, deutliche Frage an meinen Gatten:

»Was hat das Betragen Deiner Mutter zu bedeuten?«

Anstatt zu antworten, brach er in ein lautes, heiseres, hartes Gelächter aus, das so gänzlich verschieden von seinen sonstigen Aeußerungen der Heiterkeit war, daß ich erschreckt still stand.

»Eustace, Du bist nicht mehr Du selbst,« sagte ich. »Du flößest mir Entsetzen ein.«

Er achtete nicht aus meine Worte, sondern schien den heiteren Gedanken zu verfolgen, der in seiner Seele aufgetaucht war.

»Das sieht meiner Mutter ganz ähnlich!« rief er, noch immer unter dem Einfluß seines humoristischen Ideenganges. »Erzähle mir, wie das zuging, Valeria.«

»Ich soll Dir erzählen?« wiederholte ich. Nach dem, was vorgefallen wäre es doch wohl Deine Sache, mir Aufklärung zu geben.«

»Du durchschnitt also die Dinge nicht?« sagte er.

»Nein,« entgegnete ich, »ich sehe in Deiner Mutter Sprache und Deiner Mutter Benehmen nur etwas, das mich berechtigt, eine ernstliche Erklärung von Dir zu verlangen.«

»Meine liebe Valeria! Wenn Du meine Mutter kenntest, wie ich sie kenne, würdest Du eine ernstliche Erklärung ihres Benehmens geradezu für eine Unmöglichkeit halten. Meine Mutter ernsthaft nehmen! Das ist ganz köstlich!«

Er brach wiederum in jenes unnatürliche Gelächter aus. »Mein Kind, Du weißt gar nicht, wie Du mich amüsirst.«

Es klang Alles erzwungen und gewaltsam. Er, der feinste, rücksichtsvollste Mann ein Gentleman in des Wortes edelster Bedeutung, benahm sich jetzt roh, laut und gemein. Trotz aller meiner Liebe zu ihm sank mein Herz unter der Last dieses Gedankens. In unaussprechlicher Verzweiflung und Aufregung fragte ich mich selbst: »Beginnt dein Mann bereits, dich zu betrügen, nachdem wir kaum eine Woche verheirathet?«

Ich beschloß, sein Vertrauen ans neue Weise zu gewinnen. Er wollte mir augenscheinlich seine eigene Ansicht von der Sache aufdrängen. Ich meinerseits war geneigt, scheinbar diese Ansicht zu adoptiren.

»Du sagst mir, daß ich Deine Mutter nicht verstände,« begann ich in sanftem Ton »Willst Du mir behilflich sein, sie verstehen zu lernen

»Es ist nicht leicht, Dich eine Frau verstehen zu lehren, die sich selbst nicht versteht,« antwortete er. »Aber ich will dennoch den Versuch machen. Der Schlüssel zu meiner armen Mutter Character ist, mit einem Wort Exzentrizität.«

Wenn ich aus dem ganzen Wörterbuche das allerungeeignetste Wort herausgesucht hätte, um den Character seiner Mutter zu bezeichnen, so würde es das Wort exzentrisch gewesen sein. Wenn ein Kind gesehen hätte, was ich sah, gehört, was ich hörte, so würde es in diesem Augenblicke nicht im Mindesten daran gezweifelt haben, daß er die Unwahrheit sprach.

»Merke Dir, was ich Dir vorhin gesagt, und wenn ich Dir das Benehmen meiner Mutter erklären soll, so theile mir erst mit, was vorgefallen. Wie kamt Ihr mit einander ins Gespräch?«

»Deine Mutter sagte es Dir ja bereits, Eustace. Ich ging hinter ihr, als sie zufällig einen Brief fallen ließ —«

»Das war kein Zufall,« unterbrach er mich. »Das geschah aus Absicht!«

»Ganz unmöglich!« rief ich aus. »Weshalb sollte Dritte Mutter absichtlich einen Brief fallen lassen?«

»Brauche immer den Schlüssel zu ihrem Character, mein Kind. Exzentrizität! Meiner Mutter eigenthümliche Art, Bekanntschaft mit Dir zu machen.«

»Bekanntschaft mit mir zu machen? Ich habe Dir ja eben erzählt, daß ich hinter ihr ging. Sie hatte ja keine Ahnung von mir, ehe ich zu sprechen begann.«

»So glaubst Du, Valeria.«

»Ich bin dessen gewiß.«

»Du kennst meine Mutter nicht, wie ich sie kenne.«

Ich begann, alle Geduld mit ihm zu verlieren.

»Willst Du mir vielleicht weiß machen,« sagte ich, »daß Deine Mutter heute mit der direkten Absicht an den Strand kam, um meine Bekanntschaft zu machen?«

»Ich zweifle nicht im Mindesten daran,« entgegnete er kühl.

»Weshalb erkannte sie denn aber nicht meinen Namen?« rief ich aus. »Zweimal nannte mich die Wirthin Mrs. Woodville, und zweimal machte es nicht den geringsten Eindruck auf Deine Mutter. Sie sah aus, als wenn sie den Namen nie zuvor in ihrem Leben gehört hätte.«

»Komödie!« antwortete er, eben so ruhig und gefaßt als vorhin. »Die Frauen ans der Bühne sind nicht die Einzigen, welche Komödie spielen können. Meiner Mutter Absicht war, Dich rückhaltlos kennen zu lernen, deshalb führte sie sich als Fremde bei Dir ein. Dieser Umweg, eine Schwiegertochter kennen zu lernen deren Wahl sie nicht billigte, sieht ihr durchaus ähnlich; wenn ich nicht zufällig dazu gekommen wäre, würde sie Dich in ein peinliches Verhör genommen haben, und Du hättest ihr in Deiner Unschuld geantwortet, als wenn Du einer Fremden gegenüber ständest. Bedenke, daß meine Mutter nicht Deine Freundin, sondern Deine Feindin ist, daß sie nicht Deine Vorzüge, sondern Deine Fehler entdecken will. Und da wunderst Du Dich, daß Dein Name keinen Eindruck auf sie machte? Zu ihrem größten Mißbehagen störte ich durch mein Hinzukommen Eure Unterhaltung und machte derselben ein Ende, indem ich Euch einander vorstellte. Aus diesem Umstande kannst Du Dir den Grund ihres Zornes erklären.«

Ich hatte ihn sprechen lassen, ohne ihn zu unterbrechen. Ich folgte seinen Worten mit schwerem Herzen und niederdrückender Enttäuschung und Verzweiflung. Das Idol meines Vertrauens, der Gefährte, Führer, Beschützer meines Lebens, wie tief war er gesunken. Konnte es eine schamlosere Entstellung der Thatsachen geben, als diese es war? War ein einziges wahres Wort in seiner ganzen Rede? Ja, wenn ich nicht zufällig das Portrait seiner Mutter entdeckt hätte, war es allerdings richtig, daß mir das Original unbekannt geblieben wäre. Alles Uebrige war Lüge, aus der nur ein Entschuldigungsgrund für ihn sprach, daß er noch nicht an Falschheit und Betrug gewöhnt war. Großer Gott! Wenn meinem Gatten Glauben zu schenken war, hätte uns seine Mutter nachspüren müssen bis London, bis in die Kirche, bis auf den Bahnhof, bis nach Ramsgate. Daß sie aber expreß an den Strand gekommen sein sollte, und den Brief hätte fallen lassen, um meine Bekanntschaft zu machen, gehörte zu den größten Unglaublichkeiten, die man hervorbringen konnte.

Ich vermochte nicht weiter zu sprechen. Ich wandelte schweigend an seiner Seite mit der überzeugenden Gewißheit im Herzen, daß ein Abgrund, in Gestalt eines Familiengeheimnisses, zwischen mir und meinem Gatten gähnte. Geistig, wenn nicht auch körperlich, waren wir bereits von einander getrennt, nachdem wir erst vier Tage verheirathet gewesen.

»Valeria,« fragte er, »hast Du mir nichts zu sagen?«

»Nichts.«

»Bist Du nicht zufrieden mit meiner Erklärung?«

Ich bemerkte ein leises Zittern seiner Stimme, als er diese Frage that. Der Ton bekam wieder eine gewisse Weiche, einen wehmüthigen Schmelz, den ich schon öfter an ihm bemerkt. Unter den hunderttausend geheinmißvollen Einwirkungen, welche dem Manne über das Weib, das er liebt, zu Gebote stehen, ist ohne Zweifel eine der unwiderstehlichsten der Klang seiner Stimme. Ich gehöre nicht zu den Frauen, welche bei geringfügigen Veranlassungen Thränen vergießen; als ich aber jenen Uebergang in seiner Stimme hörte, wanderten meine Gedanken zurück zu dem glücklichen Tage, wo ich mir zum ersten mal gestand, daß ich ihn liebte. Ich brach in Thränen aus.

Plötzlich stand er still, nahm mich bei der Hand und versuchte, mir ins Antlitz zu blicken.

Ich behielt den Kopf gesenkt und die Augen zu Boden gerichtet. Ich schämte mich meiner Schwäche und meines Mangels an Geistesgegenwart.

In dem Schweigen das nun folgte, stürzte er mir plötzlich mit einem Schrei der Verzweiflung zu Füßen, der mir wie ein Messer durch die Seele schnitt.

»Valeria! ich habe Dich betrogen — ich bin Deiner unwürdig! Glaube nicht ein Wort von dem, was ich gesagt; es sind alles elende, verächtliche Lügen! Du weißt nicht, was ich gelitten habe, wie ich gefoltert worden bin. Verachte mich nicht! Ich war von Sinnen als ich vorhin zu Dir sprach. Ich wollte Dir einen Augenblick des Kummers und des Schmerzes ersparen. Ich wollte der Sache einen Mantel umhängen und sie vergessen machen; Ich beschwöre Dich, dringe nicht weiter in mich, Dir noch mehr zu erzählen. Es besteht etwas zwischen meiner Mutter und mir, aber Du brauchst Dich deshalb nicht zu beunruhigen; es ist nur noch eine Erinnerung. Ich liebe Dich, ich bete Dich an; mein ganzes Herz, meine ganze Seele sind Dein! Laß Dir daran genügen. Vergiß das Vorgefallene. Du sollst meine Mutter nie wiedersehen. Wir wollen morgen diesen Ort verlassen. Wir wollen mit unserer Yacht in das weite Meer. Ist es nicht gleichgültig, wo wir leben, wenn wir nur für einander leben? O, Valeria vergieb und vergiß!«

Seine Züge drückten unaussprechliches Elend aus; unaussprechliches Elend lag im Ton seiner Stimme.

»Es ist leicht zu vergeben,« sagte ich traurig. »In Deinem Interesse, Eustace, will ich auch suchen, zu vergessen

Ich zog ihn sanft empor. Er küßte demüthig meine Hände. Unsere gegenseitige Verlegenheit war dermaßen peinlich, als wir langsam neben einander hergingen, daß ich ängstlich nach einem Gegenstande der Unterhaltung suchte, als hätte ich mich in Gesellschaft eines Fremden befunden. Aus Mitleid für ihn bat ich ihn, mir etwas von der Yacht zu erzählen.

Er ergriff das Thema, wie die Hand des Ertrinkenden nach dem Strohhalm greift, um sich zu retten.

Und er erzählte und erzählte von der Yacht mit einer Umständlichkeit und Weitschweifigkeit als wenn sein Seelenheil davon abhinge, mit der Behandlung des Themas den Weg bis Ramsgate auszufüllen. Mir war es schrecklich, ihn anzuhören. Am der Heftigkeit, mit welcher er, ein Gegensatz zu seiner sonstigen Ruhe, die unbedeutendsten Sachen besprach, könne ich ermessen, was er innerlich leiden mußte. Nur mit der größten Mühe bewahrte ich meine Selbstbeherrschung, bis wir die Thür unserer Wohnung erreichten. Hier war ich genöthigt, Unwohlsein vorzuschützen, um ihn zu bitten, mich in mein Zimmer zurückziehen zu dürfen.

»Wollen wir morgen reisen?« rief er mir nach, als ich die Treppe emporstieg.

Schon am nächsten Tage mit ihm in das weite Meer hinaussegeln Wochen und Monate mit ihm allein sein, in den engen Grenzen eines kleinen Fahrzeuges, mit dem entsetzlichen Geheimnis, das uns täglich mehr von einander drängen mußte? Es überlief mich kalt bei dem Gedanken. »Morgen ist es wohl noch etwas früh,« warf ich ein. »Willst Du mir noch einige Tage zur Vorbereitung gönnen?«

»Gewiß, so viel Du willst,« antwortete er mit sichtbarem Widerstreben. »Während Du ruhst, will ich noch einmal nach der Yacht hinunter gehen. Aus Wiedersehen, Valeria!«

»Auf Wiedersehen Eustace.«

Er ging mit eiligen Schritten zum Hafen hinab.

Fürchtete er sich vor seinen eigenen Gedanken, wenn er allein in seinem Zimmer war?«

Nutzlose Frage! Was wußte ich von ihm und seinen Gedanken. Ich verschloß mich in mein Zimmer.



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Fünftes Kapitel.

Die Entdeckung der Wirthin.

Ich setzte mich und versuchte, mein Gemüth zu beruhigen. Nun oder nimmer war es an der Zeit, mich zu entscheiden welche Pflichten ich gegen meinen Gatten und welche ich gegen mich selbst zu erfüllen hatte.

Die Anstrengung war vergebens. Ich vermochte nicht einen klaren Gedanken zu fassen. Mich drückte nur das Gefühl zu Boden daß es mir unmöglich sein würde, die Schatten zu zerstreuen die sich auf unser so heiter begonnenes Eheleben gebreitet hatten. Um dem Schein zu genügen konnten wir ja weiter mit einander leben aber das Geschehene zu vergessen mich in meiner Lage glücklich zu fühlen, ging über die Grenzen meiner Willenskraft hinaus. Meine Ruhe hing einzig und allein davon ab, den Schlüssel zu dem Betragen meiner Schwiegermutter und zu der Erklärung jener wilden Worte der Reue und des Selbstvorwurfes zu finden die ich aus dem Munde meines Gatten gehört.

In vollständiger Rathlosigkeit, wie ich zunächst handeln sollte, warf ich mich auf mein Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Ein Klopfen an der Thür erweckte mich. War es mein Gatte? Bei dem Gedanken sprang ich sofort auf. Sollten meine Geduld und meine Kraft aufs Neue einer Prüfung unterworfen werden? Mit zitternder Stimme fragte ich, wer dort sei.

»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« antwortete mir die Stimme der Wirthin.

Ich öffnete die Thüre Obgleich ich meinen Gatten innigst liebte, muß ich dennoch gestehen daß in dieser schrecklichen Stunde die Enttäuschung eine angenehme war. Ein tröstliches Gefühl beschlich mich, daß Eustace nicht nach Hause gekommen.

Die Wirthin trat ein, nahm ohne daß er ihr angeboten wurde, einen Stuhl und setzte sich dicht neben mich. Sie begann mich als Ihresgleichen zu betrachten. Noch einen Schritt auf der socialen Leiter herabsteigend, stellte sie sich auf den Standpunkt der Beschützerin und blickte auf mich, wie auf einen Gegenstand des Mitleids. »Ich bin eben von Broadstairs zurückgekehrt,« begann sie. »Ich hoffe, Sie werden nicht daran zweifeln daß ich aufrichtig das Geschehene bedaure.«

Ich machte eine Verbeugung und erwiderte nichts.

»Als anständige Frau,« fuhr die Wirthin fort, »und nur durch Familienunglück genöthigt Zimmer zu vermiethen, trotzdem aber immer eine anständige Frau, habe ich aufrichtiges Mitgefühl für Sie. Ich will noch weiter gehen und sagen daß ich Sie selbst nicht tadle. Nein nein! Ich bemerkte recht gut, wie Sie bei dem Betragen Ihrer Schwiegermutter stutzten und erschracken. Sie erschracken beinahe ebenso sehr als ich, und das will viel sagen. Dennoch habe ich eine Pflicht gegen Sie zu erfüllen. Eine unangenehme, aber dennoch unerläßliche Pflicht. Ich bin unverheirathet; nicht etwa, daß es mir an Gelegenheiten gefehlt hatte, meine Lage zu verändern sondern aus freier Wahl. In dieser meiner Stellung wird es Ihnen begreiflich sein, daß ich nur achtbare Personen in meinem Hause empfangen kann. Geheimnißvolle Personen sind nichts für mich. Ein Geheimniß auf einer Person läßt immer, ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll — ich möchte Sie auch nicht gern beleidigen — einen gewissen Flecken zurück. Das ist der Ausdruck. Nun bedenken Sie doch selbst: darf eine Person in meiner Lebensstellung sich selbst beflecken, indem sie eine Befleckte aufnimmt? Ich mache diese Bemerkungen aus der reinsten Menschen- und Christenliebe. Da Sie doch eine Lady vorstellen wollen oder da Sie. . . . «

Hier konnte ich es nicht länger ertragen und unterbrach sie deshalb.

»Ich verstehe,« sagte ich, »daß Sie uns die Wohnung kündigen wollen, wann wünschen Sie, daß wir dieselbe verlassen.«

»Oh!« sagte die Wirthin wieder mit ihrer Protectormiene. »Nicht diesen Ton nicht diese Blicke! Ich verstehe ja vollkommen daß Sie Sich gekränkt fühlen müssen. Versuchen Sie doch Sich wieder zu beruhigen. Sie meinen, wann Sie die Wohnung räumen sollen? Wir wollen sagen in einer Woche. Ich will ja als Freundin an Ihnen handeln obgleich Sie nicht wissen, welch’ ein grausames Opfer ich Ihnen bringe.«

»Sie!« rief ich aus. »Und welches Opfer bringen Sie mir denn?«

»Welches Opfer?« wiederholte die Wirthin. Ich habe mich als anständige Frau herabgesetzt. Ich habe meine Selbstachtung verwirkt.« Sie schwieg einen Augenblick, dann ergriff sie mit einem förmlichen Freundschaftsenthusiasmus meine Hand. »O, Sie armes unglückliches Geschöpf! rief die unleidliche Person, »ich habe Alles entdeckt! Ein Schurke hat Sie betrogen. Sie sind nicht mehr verheirathet als ich es bin!«

Ich zog meine Hand aus der ihren und stand auf.

»Sind Sie wahnsinnig?« fragte ich.

Die Wirthin erhob ihre Augen zur Decke, mit dem Ausdruck, als wenn sie ein wohlverdientes Märtyrerthum erlitte.

»Ja,« sagte sie. »Ich beginne allerdings wahnsinnig zu werden, bei dem Gedanken, daß ich mein hartes Opfer, meine schwesterliche und christliche Liebe an eine Frau wegwarf, die es nicht verdient. Ich werde es aber auch nicht wieder thun. Der Himmel vergebe mir; ich werde es nicht wieder thun!«

»Was wollen Sie nicht wieder thun?« fragte ich.

»Ihrer Schwiegermutter nachgehen,« schrie die Wirthin. »Ich erröthe, wenn ich daran denke. Ich folgte dieser höchst achtbaren Frau auf Schritt und Tritt bis zu ihrer Thür.

Bis hierher hatte mich mein Stolz aufrecht erhalten, jetzt ertrug ich es nicht länger. Ich sank auf meinen Stuhl zurück, in erwartungsvoller Furcht, was nun noch kommen werde.

»Ich warf Ihnen einen Blick zu, als ich Sie am Strande verließ,« fuhr die Wirthin fort, indem sie lauter und lauter, röther und röther wurde. »Eine dankbare Frau würde jenen Blick verstanden haben. In fünf Minuten hatte ich Ihre Schwiegermutter eingeholt. Ich folgte ihr — O, wie ich mich jetzt dadurch gedemüthigt fühle — ich folgte ihr bis zum Bahnhof in Broadstairs. Sie kehrte mit der Bahn nach Ramsgate zurück. Ich ging auch mit der Bahn nach Ramsgate. Sie begab sich zu Fuß nach ihrer Wohnung. Ich begab mich auch nach ihrer Wohnung. Hinter ihr her — wie ein Hund! O, wie ich mich dadurch gedemüthigt fühle! Der Wirth des Gasthofes war zufällig mein Freund und zufällig zu Hause. Was Gäste anbetrifft, haben wir kein Geheimnis vor einander. Deshalb befinde ich mich in der Lage, Madame, Ihnen den wahren Namen Ihrer Schwiegermutter zu nennen. Sie heißt nicht Woodville. Ihr Name, und folglich auch ihres Sohnes Name ist Macallan. Mrs Macallan, Wittwe des verstorbenen Generals Macallan. Ihr Gatte ist also nicht Ihr Gatte! Sie sind weder Mädchen, Frau noch Wittwe. Sie sind schlechter als Nichts, Madame — und Sie müssen mein Haus meiden.«

Ich hielt sie zurück, als sie die Thür öffnete, um das Zimmer zu verlassen. Der Zweifel, den sie auf meine Verheirathung geworfen hatte, war mehr, als menschliche Resignation ertragen konnte.

»Geben Sie mir Mrs. Macallan’s Adresse,« sagte ich.

»Sie wollen doch nicht zu der alten Dame?« entgegnete die Wirthin, vom Zorn zum Staunen übergehend.

»Nur die alte Dame kann mir erzählen, was ich wissen muß,« antwortete ich. »Ihre Entdeckung mag genug sein für Sie; für mich ist sie es nicht. Woher können Sie wissen, daß Mrs. Macallan nicht zweimal verheirathen und daß der Name ihres ersten Gatten nicht Woodville war?«

Das Staunen der Wirthin ging jetzt in Neugier über. Der Grundcharacter der Frau war eigentlich Gutmüthigkeit, und ihre zornigen Aufwallungen besaßen jene Kurzlebigkeit, wie sie bei alten gutmüthigen Menschen vorkommt; schnell erregt und schnell verflogen.

»Daran dachte ich nicht,« sagte sie. »Wenn ich Ihnen die Adresse gebe, wollen Sie mir denn auch Alles erzählen, wenn Sie zurückkommen?«

Ich gab ihr das Versprechen und empfing die Adresse.

»Nichts für ungut,« sagte die Wirthin, plötzlich zu ihrer alten Gutmüthigkeit zurückkehrend.

»Nichts für ungut,« entgegnete ich, so gelassen, wie es mir in diesem Augenblicke möglich war.

Zehn Minuten weiter und ich befand mich vor dem Hause meiner Schwiegermutter.



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Sechstes Kapitel.

Meine eigene Entdeckung.

Glücklicher Weise für mich öffnete mir nicht der Wirth, als ich klingelte. Ein dumm aussehendes Mädchen für Alles, das gar nicht daran dachte, nach meinem Namen zu fragen, ließ mich ein. Mrs. Macallan war zu Hause und allein. Nach diesem Bescheid führte mich das Mädchen eine Treppe hinan und wies mich in das Zimmer, ohne mich vorher angemeldet zu haben.

Meine Schwiegermutter saß am Fenster und häkelte. Als ich in das Zimmer trat, legte sie ihre Arbeit fort, stand auf und deutete mir mit einer gebieterischen Bewegung au, daß sie zuerst zu sprechen wünsche.

»Ich weiß, weshalb Sie zu mir gekommen sind,« sagte sie.

»Sie wollen mir Fragen vorlegen Schonen Sie mich und Sich selbst. Ich sage es Ihnen im Voraus, daß ich keine, Frage in Betreff meines Sohnes beantworten werde.«

Das war fest, aber ohne Härte gesprochen. Ich antwortete in derselben Weise.

»Ich bin nicht hierher gekommen, Madame, um Sie in Betreff Ihres Sohnes zu befragen, sondern in Betreff Ihrer selbst.« Sie stutzte und blickte mich scharf über ihre Brillengläser an; ich hatte sie offenbar in Erstaunen gesetzt.

»Was wünschen Sie zu wissen?« fragte sie.

»Ich höre heute zum ersten Male, Madame, daß Ihr Name Macallan ist,« sagte ich.

»Ihr Sohn hat mich unter dem Namen Woodville geheirathet, die einzige Erklärung dieses Umstandes ist die, daß mein Gatte Ihr Sohn erster Ehe sein könnte. Das Glück meines Lebens hängt davon ab. Wollen Sie gütigst meine Lage in Betracht ziehen. Wollen Sie mir die Frage gestatten, ob Sie zweimal verheirathet waren, und ob Ihr erster Gemahl Woodville hieß?«

Sie überlegte ein wenig, ehe sie antwortete.

»Die Frage ist in Ihrer Stellung eine ganz natürliche,« sagte sie. »Aber ich halte es für besser, sie nicht zu beantworten.«

»Und weshalb nicht?«

»Wenn ich diese Frage beantwortete, würde sie zu anderen führen, über die ich die Antwort verweigern müßte. Es thut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß. Ich wiederhole Ihnen, was ich bereits am Strande gesagt, ich habe kein anderes Gefühl als das der Sympathie für Sie. Hatten Sie mich vor Ihrer Heirath um Rath gefragt, würde ich Ihnen mein volles Vertrauen geschenkt haben. Nun ist es zu spät. Sie sind verheirathet. Ich rathe Ihnen, der Sache die beste Seite abzugewinnen und sich mit der Lage der Dinge zu begnügen, wie sie ist.«

»Verzeihen Sie mir, Madame,« entgegnete ich. »Wie kann ich mich damit begnügen, da ich nicht einmal weiß, ob ich verheirathet bin. Ich weiß nur, daß er mich unter falschem Namen geehelicht. Auf welche Weise kann ich erfahren, ob ich seine rechtmäßige Frau bin?«

»Ich halte es für außer allem Zweifel, daß Sie ihm rechtmäßig angetraut sind,« antwortete Mrs. Macallan. »Uebrigens dürfte es nicht, schwer sein, sachverständige Auskunft darüber zu erhalten. Welches auch die Fehler meines Sohnes sein mögen, so ist er dennoch unfähig, wissentlich ein Mädchen zu betrügen, das ihm liebend vertraute, und wenn er es unwissentlich gethan, wird er den Fehler wieder gut machen. Wenn die sachverständige Auskunft Ihren rechtlichen Ansprüchen zuwider ist, verspreche ich, Ihnen jede Frage zu beantworten, die Sie an mich richten werden. Ich bin überzeugt, daß Sie meines Sohnes rechtmäßige Frau sind. Folgen Sie meinem Rath und begnügen Sie Sich mit Ihres Gatten Liebe. Wenn Seelenfriede und Lebensglück Ihnen etwas werth sind, so stehen Sie davon ab, mehr erfahren zu wollen, als Sie bis jetzt wissen.«

Sie setzte sich mit einer Miene, als hätte sie ihr letztes Wort gesagt.

Da ferneres Fragen mir nutzlos erschien, wandte ich mich zum Gehen.

»Sie sind hart gegen mich, Madame,« sagte ich beim Scheiden. »Ich hänge von Ihrer Barmherzigkeit ab und muß mich fügen.« Sie blickte plötzlich empor und antwortete mir mit seinem Aufleuchten ihres gütigen, hübschen, alten Gesichtes.

»So wahr Gott mein Zeuge, Kind, ich bemitleide Sie aus dem Grunde meines Herzens!«

Nach diesem seltsamen Gefühlsausbruch nahm sie mit der einen Hand ihre Arbeit wieder auf und winkte mir mit der anderen, sie zu verlassen.

Ich verbeugte mich schweigend und ging.

Als ich das Haus betrat, war ich mir völlig im Unklaren, was ich in Zukunft zu thun hätte. Als ich das Haus verließ, hatte ich den festen Entschluß gefaßt, es möge kosten, was es wolle, das Geheimniß zu entdecken, welches Mutter und Sohn vor mir verbargen. Was den Namen anbetrifft, so hatte ich jetzt dieselbe Ansicht darüber, als ich sie das erste Mal gehabt. Wäre Mrs. Macallan zweimal verheirathet gewesen, so würde sie es ohne Zweifel markirt haben, wenn sie mich bei dem Namen ihres ersten Gatten anreden hörte. Soviel stand jedenfalls fest, Eustace hatte mich unter einem angenommenen Namen geheirathet.

Als ich mich der Thür unseres Gasthauses näherte, sah ich meinen Gatten, augenscheinlich in Erwartung meiner Rückkehr, vor derselben auf- und niedergehen.

Als er mich erblickte, trat er mir schnell und aufgeregt entgegen.

»Ich habe eine Gunst von Dir zu erbittert, Valeria,« sagte er. »Willst Du mich mit dem nächsten Zuge nach London begleiten?«

Ich blickte ihn fragend an.

»Es betrifft eine Geschäftsangelegenheit,« fuhr er fort, »die nur mich interessirt und die meine sofortige Gegenwart in London erheischt.«

Ich hatte nichts dagegen einzuwenden; im Gegentheil, die Fahrt war mir angenehm. In London konnte ich die gewünschte Auskunft über die Rechtmäßigkeit meiner Ehe einziehen. In London standen mir Rath und Hilfe des alten Benjamin zur Seite, dem ich vertrauen konnte wie keinem Andern. So sehr ich meinen Onkel Starkweather liebte, widerstrebte es meinem Gefühl, mich jetzt an ihn zu wenden. Seine Frau hatte es für ein schlechtes Beginnen erklärt, als ich den unrichtigen Namen unter die Trauacte gesetzt. Mein Stolz empörte sich dagegen, ihr Recht zu geben, ehe die Flitterwochen vorüber waren.

In zwei Stunden befanden wir uns auf der Eisenbahn. Welcher Contrast zwischen dieser Reise und der vorigen!

Wir begaben uns in ein Privathotel in der Nähe Portland Plato. Nachdem wir am anderen Tage gefrühstückt, kündigte mir Eustace an, daß er mich verlassen müsse, um seinem Geschäft nachzugehen. Ich hatte ihm schon vorher gesagt, daß ich Einkaufe zu machen wünschte. Er bestellte mir den Hotelwagen.

Mein Herz war schwer an jenem Morgen.

Als Eustace bereits die Thür geöffnet hatte, um zu gehen, kehrte er noch einmal zurück und küßte mich. Der kleine Beweis von Zärtlichkeit ließ eine Thräne in mein Auge treten. Der Eingebung des Augenblicks folgend, schlang ich den Arm um seinen Nacken und zog ihn näher an mich.

»Schenke mir Dein Vertrauen, Eustace,« sagte ich.

»Ich weiß, daß Du mich liebst, zeige mir auch, daß Du mir vertraust.« Er seufzte bitterlich und entzog sich meiner Umarmung; nicht zornig, sondern sorgenvoll.

»Ich dachte, wir wären übereingekommen, Valeria, den Gegenstand nicht mehr zu berühren,« sagte er. »Weshalb neue Wolken zwischen uns herauf beschwören?«

Er verließ schnell das Zimmer, und ich ließ den Wagen verfahren, um meinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.«

Nachdem ich meine Einkäufe gemacht, fuhr ich nach Benjamins Villa in einer der Nebenstraßen von St. Johns Wood.

Nach dem ersten Erstaunen, mich so unerwartet zu sehen, bemerkte er mein blasses, angegriffenes Antlitz. Wir setzten uns an den Kamin der kleinen Bibliothek und dort erzählte ich dem alten Freunde auf das Genaueste meinen Kummer und dessen Ursachen.

Er drückte in warmer Theilnahme meine Hand und dankte Gott, daß mein Vater nicht gehört, was seine Ohren jetzt vernommen.

»Macallan?« sagte er dann leise vor sich hin. »Macallan? Wo habe ich denn den Namen schon gehört?«

Dann gab er das vergebliche Forschen auf und fragte, was er für mich thun könne. Ich bat ihn zunächst, mir den schrecklichen Zweifel aufklären zu helfen, ob ich rechtmäßig verheirathet sei oder nicht. Er war sofort zu meinem Dienst bereit.

»Ihr Wagen steht vor der Thür, liebes Kind,« sagte er. »Lassen Sie uns sogleich zu meinem Notar fahren.«

Wir fuhren nach Lincoln's Inn Fields.

Benjamin trug dem Notar die Frage vor, als die Sache meiner Freundin, für die ich mich interessirte. Die Antwort erfolgte unverzüglich. Ich hatte im guten Glauben, daß der angegebene Name der richtige sei, meinen Mann geheirathet, und die Zeugen hattest in demselben Glauben gehandelt. Unter diesen Umständen war meine Ehe eine zweifellos gültige. Macallan oder Woodville, ich war seine Frau.

Diese entschiedene Antwort hob eine Centnerlast von meiner Seele. Ich nahm die Einladung meines alten Freundes an, zu seiner frühen Stunde bei ihm zu speisen. Unterwegs theilte ich ihm meinen Entschluß mit, entdecken zu wollen, weshalb Eustace mich nicht unter seinem wahren Namen geheirathet.

Benjamin schüttelte den Kopf und gab mir seltsamer Weise, fast Wort für Wort, denselben Rath, den ich bereits von meiner Schwiegermutter empfangen: »Lassen Sie die Dinge gehen, wie sie sind. Im Interesse Ihres Seelenfriedens und Ihrer Ruhe begnügen Sie Sich mit der Liebe Ihres Gatten. Sie wissen jetzt, daß Sie sein rechtmäßiges Weib sind, und daß er Sie liebt. Ist das genug?«

Ich hatte nur eine Antwort hierauf: daß das Leben unter solchen Umständen mir geradezu unerträglich sei. Nichts konnte in dieser Beziehung meinen Entschluß ändern. Es handelte sich nur darum, ob Benjamin, auch wenn ich gegen seine Ansicht handelte, mir Rath und Hilfe gewähren wolle.

»Sagen Sie, was Sie von mir begehren,« war Alles, was er darauf erwiderte.

Wir fuhren gerade durch eine Straße in der Gegend von Portman Square. Ich wollte eben wieder zu reden beginnen, als die Worte auf meinen Lippen erstarben. Ich sah meinen Gatten.

Er trat aus einem Hause; seine Blicke waren zu Boden gerichtet, er schenkte dem vorüberfahrenden Wagen keine Aufmerksamkeit. Ich bemerkte, daß die Nummer des Hauses 16 sei. An der nächsten Ecke las ich auch den Namen der Straße. Es war Vivian Place.

»Wissen Sie vielleicht zufällig, wer Vivian Place Nr. 16 wohnt?« fragte ich meinen Begleiter.

»Nein,« entgegnete er erstaunt.

»Weshalb die Frage?«

»Ich sah Eustace eben das Haus verlassen.«

»Und was ist daran Wunderbares?«

»Alles, was mein Mann thut, erregt mein Mißtrauen, Benjamin.«

Benjamin hob seine welken Hände wie zum Gebet und ließ sie dann wieder still in den Schooß sinken.

»Ich wiederhole Ihnen,« fuhr ich fort, »ich kann mit diesem Zweifel gegen den Mann meiner Liebe das Leben nicht länger ertragen. Setzen Sie Sich in meine Lage, was würden Sie thun?«

»Ich würde versuchen, einen intimen Freund Ihres Gatten aufzufinden,« sagte er, »nur ihm einige discrete Fragen vorzulegen.«

Sofort fiel mir der Major Fitz-David ein.

Was konnte es mir schaden, wenn ich den Versuch machte?

Ich wollte mich sofort um seine Adresse bemühen und fragte Benjamin, ob er einen Wohnungsanzeiger zu Hause habe.

Er verneinte, fügte aber hinzu, daß er sofort darnach schicken wolle.

Wir kehrten nach der Villa zurück, und als wir bei Tische saßen, langte auch das Buch an.

Indem ich unter 'F' nach des Majors Namen suchte, wurde ich durch eine neue Entdeckung stutzig gemacht. »Sehen Sie hier,« sagte ich zu Benjamin; »welch’ seltsames Zusammentreffen.«

Major Fitz-David’s Adresse war Nr. 16, Vivian Place. Dasselbe Haus, aus dem ich meinen Gatten hatte kommen sehen, als wir vorüber fuhren.



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel.

Auf dem Wege zum Major.

»Ja,« sagte Benjamin, »das ist allerdings ein seltsames Zusammentreffen Aber ich sehe durchaus nichts Verdächtiges darin, wenn Ihr Gemahl während seiner Anwesenheit in London einen seiner Freunde besucht, und es ist ebenso natürlich, daß wir auf unserm Rückwege vom Notar Vivian Place passieren mußten.«

»Das mag ja sein. Mir sagt aber eine unabweisliche innere Stimme, daß der Besuch beim Major kein zufälliger, sondern ernstlich vorgenommener, war.«

»Lassen wir uns nicht bei unserem Diner stören,« sagte Benjamin.

»Hier ist eine Schnitte Hammelbraten. Darf ich sie Ihnen auf den Teller legen? Oder sehen Sie etwas Verdächtiges darin? Bitte, zeigen Sie mir, daß Sie kein Mißtrauen in den Hammelbraten haben. Und der Wein ist auch ganz offen und ehrlich. Ihr Wohlsein, mein Kind!«

Ich nahm den Humor des alten Mannes an, so gut ich konnte, und wir aßen und tranken und sprachen von vergangenen Zeiten. Für eine kleine Weile fühlte ich mich beinahe glücklich in der Gesellschaft meines väterlichen Freundes, »Weshalb war ich nicht ebenfalls alt? Weshalb hatte ich nicht die Liebe hinter mir, mit ihrem gewissen Elend, ihren vorübergehenden Wonnen und grausamen Verlusten? Die letzten Herbstblumen am Fenster erglänzten matt im herbstlichen Sonnenlicht. Benjamins kleiner Hund verzehrte mit vollkommener Seelenruhe sein Diner unter dem Ofen. Der Papagei im Nebenhanse ließ seine mistönende Stimme erschallen. Ich setze keinen Zweifel darin, daß es ein großes Vorrecht ist, ein menschliches Wesen zu sein. Aber wären wir nicht vielleicht glücklicher als Pflanze oder als Thier? Das kurze Wohlbehagen ging schnell vorüber, und meine früheren Beängstigungen kehrten zurück. Als ich aufstand, um mich zu empfehlen, war ich wieder dasselbe zweifelnde, verzagende unglückliche Geschöpf wie zuvor.

»Versprechen Sie mir, Sich nicht zu übereilen, mein Kind,« sagte Benjamin, als er mir die Thür öffnete.

»Ist es eine Uebereilung, zum Major Fitz-David zu gehen?« fragte ich.

»Wenn Sie allein gehen, ja; Sie können nicht wissen, was für ein Mann es ist, und wie Sie von ihm empfangen werden. Lassen Sie mich jetzt versuchen, Ihnen den Weg zu bahnen.«

Ich überlegte einen Augenblick. Dann faßte ich aber einen entscheidenden Entschluß. Ich wollte die ganze Verantwortung auf meine eigenen Schultern nehmen. Gut oder schlecht, theilnehmend oder grausam, der Major konnte sich immerhin gegen eine Frau nicht vergessen.

Es war nicht leicht, Benjamin dies mitzutheilen, weil es ihn kränken konnte. Ich bat deshalb den alten Mann, am andern Morgen zu mir in’s Hotel zu kommen, damit wir die Angelegenheit noch einmal durchsprächen. Ich muß aber zu meiner Schande gestehen, daß ich bereits mit mir einig war, vorher dem Major meinen Besuch abzustatten.

»Noch einmal, keine Uebereilung, mein Kind,« sagte Benjamin, mir die Hand drückend. »In Ihrem eigenen Interesse, keine Uebereilung.«

Als ich zu Hause kam, wartete Eustace bereits auf mich. Er schien bedeutend besserer Laune, als er bei unserem Scheiden gewesen. Er trat mir freundlich mit einem offenen Bogen Papier in der Hand entgegen.

»Mein Geschäft ist abgethan Valeria,« begann er heiter. »Kannst Du dasselbe von Deinen Einkäufen sagen?«

Ich hatte bereits seiner heiteren Laune mißtrauen gelernt und war deshalb vorsichtig geworden. »Ich bin mit Allem fertig,« entgegnete ich.

»Dann steht unserer Abreise nichts entgegen,« rief er, seinen Arm um meine Taille schlingend, und mir das Blatt Papier zum Lesen vor die Augen haltend. Es war ein Telegramm an den Steuermann der Yacht des Inhalts, daß wir diesen Abend nach Ramsgate zurückkehren und mit Eintritt der nächsten Fluth nach dem mittelländischen Meer absegeln wollten.

»Es thut mir leid, ich kann heute Abend nicht nach Ramsgate zurückgehen,« sagte ich.

»Und weshalb nicht?« fragte er, plötzlich seinen Ton ändernd.

Als er darauf einen Kuß aus meine Stirn drückte, machte er den Entschluß wankend in meiner Seele, zu Major Fitz-David zu gehen. Es bedurfte nur einer einzigen Liebkosung seinerseits, ihm mein Herz wieder ohne Rückhalt zuzuwenden. Als ich aber die Augen zu ihm emporwandte, bemerkte ich ein ungeduldiges Lauern in seinem Blick. Ich wurde sofort wieder eine Andere. Ich fühlte deutlich, daß ich nicht stillstehen dürfe sondern auf meinem Wege vorwärts schreiten müsse.

»Ich sagte Dir ja schon in Ramsgate daß ich noch einer Frist bedürfe, bis wir absegelten,« entgegnete ich ihm.

»Zu welchem Zweck?«

Nicht allein der Ton, sondern auch der Blick, indem er diese Frage an mich that, ließen jeden Nerv in mir erzittern. Die ganze nächste Vergangenheit kam mir wieder frisch ins Gedächtniß. Um aber nichts Uebereiltes zu sagen, schwieg ich lieber. Frauen allein können verstehen, was mich dieses Schweigen kostete, und Männer allein können verstehen, wie dieses Schweigen meinen Gatten irritiren mußte.

»Du brauchst Frist?« wiederholte er.

»Ich frage Dich noch einmal, zu welchem Zweck?«

Meine Selbstbeherrschung bis an die äußerste Grenze getrieben, verließ mich hier. »Ich bedarf der Frist,« sagte ich, »um mich an meinen wahren Namen zu gewöhnen.«

Er trat mit finsterem Blick auf mich zu.

»Was verstehst Du unter Deinem wahren Namen?«

»Das weißt Du ja,« antwortete ich.

»Erst dachte ich, daß ich Mrs. Woodville wäre, jetzt habe ich erfahren, daß ich Mrs. Macallan bin.«

Er schreckte vor seinem eigenen Namen zurück, als wenn ich ihn geschlagen hätte — er wurde so tödtlich bleich, daß ich glaubte, er werde ohnmächtig zu meinen Füßen sinken. — O, meine Zunge, meine Zunge! Weshalb hatte ich meine unglückselige Zunge nicht bemeistert?«

»Ich wollte Dich nicht verletzen, Eustace,« sagte ich. »Verzeihe mir.«

Er winkte ungeduldig mit der Hand, als wenn meine Worte glühende Käfer wären, die er verjagen wollte.

»Was hast Du noch mehr entdeckt?« fragte er mit leiser, ernster Stimme.

»Nichts, Eustace?«

»Nichts?« wiederholte er, indem er seine Hand vor die Stirn preßte, wie um einen Schmerz zu betäuben. »Natürlich nichts,« fügte er noch leiser, wie zu sich selbst sprechend, hinzu, »sonst würde sie ja nicht hier sein.« Er warf einen langen forschenden Blick auf mich.

»Sage das nie wieder, was Du soeben gesagt,« fuhr er dann fort. »Um Deinet- und meinetwillen, Valeria; nie ein Wort mehr darüber.«

Dann sank er in den nächsten Stuhl und sprach nicht mehr.

Ich hatte die Warnung vollständig gehört; aber die einzigen Worte, welche einen wirklichen Eindruck auf mich machten, waren die vorhergehenden, die er zu sich selbst gesprochen hatte: »Natürlich nichts, sonst würde sie ja nicht hier sein.«

Wenn ich also noch etwas Anderes, außer dem falschen Namen, entdeckt hätte, würde es mich verhindert haben, zu meinem Gatten zurückzukehren? Was konnte das Schreckliche sein, das uns auf immer geschieden hätte? Ich stand schweigend an seinem Stuhl und suchte vergebens die Antwort auf meine Fragen in seinem Antlitz. Sonst war es so beredt wenn es mir von Liebe sprach; jetzt sagte es mir Nichts.

Er saß einige Zeit, ohne mich anzublicken, und in tiefe Gedanken versunken.

Dann stand er plötzlich auf und nahm seinen Hut »Der Freund, der mir die Yacht lieh, befindet sich in London,« sagte er, »ich will zu ihm gehen und ihm sagen, daß wir unseren Plan geändert haben.« Er zerriß das Blatt mit einer Art dumpfer Resignation. »Du suchst keinen Aufschub, Du willst überhaupt nicht mit mir zur See gehen,« fügte er hinzu, »es ist also besser, wenn wir es aufgeben.«

»Bestimme darüber, wie Du willst, Eustace,« entgegnete ich traurig. »Jeder Weg durch meine Zukunft scheint mir ein- trostloser. So lange ich von Deinem Vertrauen ausgeschlossen bin, ist es ganz gleich, ob wir auf dem Lande oder der See leben; glücklich werden wir nirgends sein.«

»Wenn Du im Stande wärst, Deine Neugier zu mäßigen,« entgegnete er ernst, »könnten wir glücklich genug leben. Ich glaubte ein Weib geheirathet zu haben, das über den Schwachheiten seines Geschlechtes erhaben wäre. Eine gute Frau sollte etwas Besseres thun, als sich in die Angelegenheiten ihres Gatten drängen, die sie nichts angehen.«

Das war gewiß schwer zu ertragen, aber ich ertrug es.

»Es geht mich also nichts an,« fragte ich freundlich, »wenn ich entdecke, daß mein Gatte mich unter falschem Namen geheirathet? Es geht mich nichts an, wenn ich Deine Mutter sagen höre, daß sie mich bemitleidete? Es ist hart, mich der Neugier zeihen zu hören, weil ich die unerträgliche Stellung nicht annehmen kann, in die Du mich versetzest. Dein grausames Schweigen vergiftet unser Glück und trennt uns von einander, nachdem wir kaum angefangen haben, gemeinsam zu leben. Und dieser Gefühle wegen tadelst Du mich? Du sagst, ich dränge mich in Deine Angelegenheiten? Bedenke daß Deine Angelegenheiten auch die meinen sind. O, Eustace, weshalb läßt Du mich im Dunkeln?«

»Um Deines eigenen Besten willen,« antwortete er mit mitleidsloser Kürze.

Ich wandte mich schweigend von ihm ab. Er behandelte mich wie ein Kind.

Nach einer Weile legte er die Hand auf meine Schulter und zwang mich, ihn wieder anzublicken.

»Höre mich an,« sagte er. »Was ich Dir jetzt mittheilen werde, sage ich Dir zum ersten und zum letzten Male Valeria! Wenn Du jemals entdeckst was ich Deinem Wissen vorenthalte, dann lebst Du von diesem Augenblick an auf der Folter; Deine Ruhe ist dahin für immer. Deine Tage werden Tage des Schreckens sein; Deine Nächte voller entsetzlicher Träume! »Und ohne meine Schuld — bedenke das wohl — ohne meine Schuld! Jeder Tag Deines Lebens wird Dir neuen Kummer bringen, neue Furcht vor mir — und dennoch wirst Du mir fortwährend Unrecht thun. Bei meinem Glauben als Christ, bei meiner Ehre als Mann, wenn Du noch einen Schritt weiter thust in dieser Sache, dann ist unser Glück gemordet bis an unsern Tod! Ziehe ernstlich in Betracht, was ich Dir gesagt habe, und lasse Dir Zeit dazu. Ich gehe nun zu meinem Freunde um ihm zu sagen, daß wir unsern Plan aufgegeben. Ich werde vor Abend nicht zurück sein.« Er seufzte und blickte mich mit unbeschreiblicher Trauer an. »Ich liebe Dich, Valeria,« sagte er. »Trotz Allem, was vorgekommen ist, so wahr Gott mir helfe, ich liebe Dich mehr denn je.«

Mit diesen Worten verließ er mich.

Ich muß die vollständige Wahrheit über mich schreiben. Ich glaube kaum, daß ein anderes Weib in meiner Stelle ebenso gehandelt hätte, wie ich es that. Die entsetzlichen Worte die mein Mann zu mir gesprochen, übten keinen niederschmetternden Einfluß auf mich, im Gegentheil, sie bestärkten mich nur in meinem Entschloß, zu entdecken, was mir verborgen ward. Eustace war noch nicht zwei Minuten fort, als ich den Wagen bestellte, um zu Major Fitz-David zu fahren.

Während ich noch wartete und unruhig auf- und niederging, warf ich zufällig einen Blick in den Spiegel.

Ich erschrak vor meinem eigenen Antlitz, so wild und verstört sah es aus. Konnte ich hoffen, in diesem Zustande den nothwendig günstigen Eindruck auf einen Fremden zu machen? Meine ganze Zukunft hing vielleicht davon ab, wie ich von dem Major Fitz-David aufgenommen wurde.

Ich klingelte nachdem Stubenmädchen und dieses erschien. Ich kann keine bessere Erklärung von der verzweifelten Stimmung geben, in der ich mich befand, als durch das Geständniß, daß ich diese vollständig fremde Person über meine äußere Erscheinung befragte Sie war bereits in mittleren Jahren, und eine lange Lebenserfahrung mit all’ ihrem Elend, allen ihren Täuschungen war deutlich auf ihrem Antlitz geschrieben. Ich gab ihr soviel Geld, daß es ihr Erstaunen erweckte. Sie dankte mir mit cynischem Lächeln indem sie sichtlich meiner Annäherung an sie eine übliche Bedeutung gab.

»Was kann ich für Sie thun, Madame?« fragte sie mit vertraulichem Lächeln. »Sprechen Sie nicht so laut. Es ist Jemand im Nebenzimmer.«

»Ich wünsche hübsch auszusehen,« sagte ich, »und Sie sollen mir dabei behilflich sein.«

»Ich verstehe Madame.«

»Was verstehen Sie?«

»Ich weiß ja mit diesen Sachen Bescheid,« flüsterte sie mit einem bedeutungsvollen Kopfnicken. »Es ist ein Gentleman im Spiel.« Dann sah sie mich mit einem prüfenden Blicke an. »Ich würde meinen Anzug nicht wechseln, wenn ich in Ihrer Stelle wäre,« fuhr sie fort, »denn er steht Ihnen vortrefflich.«

Es war zu spät die Unverschämtheit des Weibes zurückzuweisen, ich konnte nicht anders, als mich ihrer bedienen. Uebrigens hatte sie in Betreff des Anzuges Recht Ich trug ein hellgrünes Seidenkleid, reich mit Spitzen besetzt, ganz entschieden das beste meiner ganzen Toilette. Mein Haar dagegen bedurfte noch der Sorgfalt einer geschickten Hand. Das Mädchen arrangirte es mit bewunderungswürdiger Uebung. Als sie Kamm und Bürste niederlegte blickte sie mich an und suchte emsig auf dem Tische umher.

»Wo haben Sie denn das hingelegt?« fragte sie.

»Ich weiß nicht was Sie meinen.«

»Sehen Sie doch nur Ihr blasses Antlitz, Madame. Er wird erschrecken, wenn er Sie anschaut Sie müssen einen Anflug von Farbe haben. Wo haben Sie es denn hingelegt? Wie? Sie besitzen es nicht? Sie brauchen es nie? O, wie unrecht!«

Damit ging sie hinaus und kam bald mit Schminke und Puder wieder. Ich that nichts, um sie von ihrem Vorhaben zurückzuhalten. Als ich nach einiger Zeit wieder in den Spiegel blickte, hatte mein Antlitz eine falsche Farbe, mein Auge einen falschen Glanz, und ich war weit entfernt mich davor zu entsetzen. Im Gegentheil, ich war sehr zufrieden mit dem abscheulichen Betrug, an dem ich Theil genommen hatte.

Ich war nur darauf bedacht, mir durch irgend welches Mittel das Vertrauen des Majors zu gewinnen. Ich mußte um jeden Preis wissen, was jene letzten Worte meines Gatten bedeuteten?



Kapiteltrenner

Achtes Kapitel.

Der Freund der Frauen.

Es ist mir fast unmöglich, meine Gefühle zu beschreiben während ich nach der Wohnung des Majors Fitz-David fuhr. Von dem Augenblick an, wo ich mich den Händen des Stubenmädchens überlassen schien ich mein früheres Selbst verloren und einen anderen Charakter angenommen zu haben. Sonst hatte ich ein ängstliches und nervöses Temperament das jede Schwierigkeit übertrieb, welche sich mir entgegenstellte. Sonst wenn ich einem bedeutungsvollen Zusammentreffen mit einem Fremden entgegen gegangen wäre, würde ich sorgfältig überlegt haben, was ich zu sagen oder zu verschweigen hätte. Jetzt dachte ich mit keinem Gedanken an den Major; ich fühlte ein unbegrenztes Vertrauen zu mir selbst und setzte ein blindes Vertrauen in ihn. Ich kümmerte mich weder um Vergangenheit oder Zukunft; sondern lebte einzig und allein für die Gegenwart Ich interessirte mich für die Läden und für die vorüber fahrenden Equipagen. Ich bemerkte die bewundernden Blicke, welche mir die Fußgänger zuwarfen und freute mich sogar über dieselben. Ich sagte mir, daß diese Blicke ein günstiges Vorzeichen wären, wie ich von dem Major empfangen werden würde. Als wir vor das Haus Nr. 16 in Vivian Place fuhren, hegte meine Seele nur eine Befürchtung, nämlich die, daß der Major nicht zu Hause sein könne. Die Thür wurde mir von einem alten Diener geöffnet der aussah, als wenn er früher Soldat gewesen wäre. Er betrachtete mich mit ernster Aufmerksamkeit die allmälich in ein pfiffiges Wohlgefallen überging. Ich fragte nach dem Major Fitz-David. Die Antwort war nicht gerade ermuthigend. Der Mann wußte nicht bestimmt ob er zu Hause sei. Ich gab ihm meine Karte mit dem Namen Mrs. Eustace Woodville. Der Diener wies mich in ein Zimmer zu ebener Erde und verschwand mit meiner Karte.

Indem ich mich umblickte gewahrte ich eine Tapetenthür und, bei noch näherer Besichtigung, eine Spalte die groß genug war, um durch dieselbe Alles hören zu können, was im nächsten Zimmer gesprochen wurde.

»Was hast Du ihr gesagt, Oliver?« fragte eine männliche Stimme in leisen Tönen.

»Daß ich nicht gewiß wüßte, ob Sie zu Hause seien,« entgegnete der Diener, der mich eingelassen.

»Ich denke, es ist besser, sie nicht zu empfangen Oliver,« begann die Stimme des Majors wieder.

»Gut, Sir.«

»Sage, ich wäre ausgegangen und Du wüßtest nicht, wann ich zurückkäme,« fuhr der Major fort. »Die Lady möchte so gut sein und mir schreiben.«

»Gut, Sir.«

»Noch einen Augenblick, Oliver. — Ist sie jung?«

»Ja, Sir.«

»Hübsch?«

»Mehr als hübsch, Sir.«

»Fein?«

»Gewiß, Sir.«

»Groß?«

»Beinah’ so groß als ich, Sir.«

»Schlank?«

»Wie eine junge Birke, Sir.«

»Laß sie ein, laß sie ein, Oliver.«

Soviel war mir jetzt klar, ich hatte Recht gethan, das Stubenmädchen kommen zu lassen. Wie würde Olivers Bericht ausgefallen sein, wenn ich mit meinen bleichen Wangen gekommen wäre?«

Der Diener kam zurück und führte mich in das anstoßende Zimmer. Der Major Fitz-David trat mir zum Willkommen entgegen.

Er war ein wohl conservirter Sechziger, klein und schmächtig, und mit einer ganz außerordentlich langen Nase. Auf dem Haupt trug er eine sehr schöne braune Perrücke dann bemerkte ich noch lebhafte, kleine, graue Augen, gesunde Gesichtsfarbe kleinen, braun gefärbten militairischen Schnurrbart weiße Zähne und gewinnendes Lächeln. Er trug einen enganschließenden blauen Frack, mit einer Camelie im Knopfloch und einen prachtvollen Rubin am kleinen Finger seiner rechten Hand.

»Meine theure Mrs. Woodville,« sagte er, nachdem wir Beide Platz genommen »wir gütig von Ihnen, daß Sie mich besuchen. Ich habe mich schon lange darnach gesehnt Sie kennen zu lernen. Eustace und ich sind alte Freunde. Ich beglückwünschte ihn, als er mir seine Verheirathung anzeigte. Jetzt, nachdem ich sein Weib gesehen, beneide ich ihn.«

Meine Zukunft lag vielleicht in dieses Mannes Händen. Ich studierte ihn aufmerksam, um seinen Character aus seinen Zügen lesen zu können.

Die stechenden grauen Augen des Majors wurden sanfter als sie mich anschauten; seine starke rauhe Stimme sank zu leisen zärtlichen Tönen herab, wenn er mit mir sprach; sein Benehmen gegen mich war ein Gemisch von Bewunderung und Achtung. Er zog seinen Stuhl dicht an den meinen. Dann nahm er meine Hand und führte sie mit einem Seufzer an seine Lippen. »Theure Mrs. Woodville,« sagte er dann, meine Hand sanft wieder in den Schooß zurücklegend, »haben Sie Nachsicht mit einem alten Knaben, welcher Ihr bezauberndes Geschlecht verehrt. Wenn Sie wüßten welches Vergnügen ich dabei empfinde wenn ich Sie ansehe!«

Der alte Gentleman hatte gar nicht nöthig, dies kleine Geständniß zu machen. Man sah auf den ersten Blick, daß der Major Fitz-David ein Freund der Frauen war.

»Danke Ihnen Herr Major, für Ihren freundlichen Empfang und Ihr artiges Compliment,« sagte ich, einen so unbefangenen Ton annehmend, wie es mir möglich war. »Darf ich nun auch sprechen?«

Major Fitz-David ergriff noch einmal meine Hand, und rückte seinen Stuhl so dicht wie möglich an den meinen. Ich warf ihm einen ernstem Blick zu und machte einen Versuch, meine Hand zu befreien.

»Ich habe Sie heute zum ersten mal sprechen hören,« sagte der Major. »Ich befinde mich unter dem Einfluß Ihrer bezaubernden Stimme. Haben Sie Nachsicht mit einem alten Knaben Mrs. Woodville. Zürnen Sie mir nicht meiner unschuldigen Vergnügungen wegen. Lassen Sie mir diese allerliebste kleine Hand. Ich kamt weit besser zuhören, wenn ich Ihre Hand zwischen der meinen fühle. Die Damen haben alle Nachsicht mit meiner Schwäche. Sie werden hoffentlich keine Ausnahme machen. Was wollten Sie also die Güte haben, mir zu sagen?«

»Ich wollte sagen, Major, daß ich mich außerordentlich glücklich über Ihre freundliche Bewillkommnung fühle, und daß ich deshalb den Muth gewinne, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten.«

Ich war mir klar bewußt, daß ich zu schnell auf mein Ziel losging; aber des Majors Bewunderung für mich war mir mit noch größerer Schnelle vorangegangen, so daß ich die Nothwendigkeit fühlte, derselben Einhalt zu thun.

»Die Gefälligkeit ist so gut wie bewilligt,« sagte der Major, meine Hand loslassend, »und nun sagen Sie mir, wie befindet sich Eustace?«

»In sehr übler Laune,« antwortete ich.

»Ist sehr übler Laune!« wiederholte der Major. »Der beneidenswerthe Mann, der sich Ihr Gatte nennt, ist übler Laune? ist ja abscheulich! Ich werde ihn aus der Liste meiner Freunde streichen.«

»In diesem Falle müssen Sie mich gleich mit ausstreichen, denn ich bin noch weit mißgestimmter als er. Sie sind der Freund meines Gatten. Ihnen kann ich es also sagen, daß unser junges Eheleben kein glückliches ist.«

»Jetzt schon — nicht glücklich?« sagte der Major, mich erstaunt anblickend. »Ist denn Eustace der gefühlloseste aller Männer?«

»Er ist Deren Bester!« entgegnete ich. »Aber es ruht ein Geheimniß auf seiner Vergangenheit. —« Der Major unterbrach mich mit einer höflichen Geberde, die mir aber sehr verständlich sagte, daß, wenn ich mich auf indiscreten Grund begebe, er mich nicht dorthin begleiten würde.

»Meine theure Freundin!« rief er aus. »Sie besitzen unter tausend anderen entzückenden Eigenschaften eine lebhafte Einbildungskraft. Lassen Sie diese nicht die Oberhand gewinnen. — Womit kann ich Ihnen dienen? Eine Tasse Thee, Mrs. Woodville?«

»Bitte-, nennen Sie mich bei meinem richtigen Namen, Sir,« entgegnete ich. »Ich weiß so gut wie Sie, daß mein Name Macallan ist.«

Der Major stutzte und blickte mich aufmerksam an.

»Darf ich mir erlauben, zu fragen,« sagte er mit ganz verändertem Ton und Wesen, »oh Sie Ihrem Herrn Gemahl bereits die Entdeckung mitgetheilt haben, die Sie eben gegen mich geäußert?«

»Gewiß!« antwortete ich. »Ich habe meinen Gatten um eine Erklärung seines seltsamen Benehmens wegen gebeten, und er hat sie mir in einer Sprache verweigert, die mich erschreckte. Ich habe mich an seine Mutter gewandt, und diese hat mich in einem Ton zurückgewiesen, der mich demüthigte. Herr Major, ich habe keinen Freund als Sie, thun Sie mir den größesten aller Gefallen, sagen Sie mir, weshalb Eustace mich unter falschem Namen geheirathet.«

»Thun Sie mir auch den größesten aller Gefallen,« antwortete der Major, »und verlangen Sie das nicht von mir.«

Trotz seiner abschlägigen Antwort fühlte ich, daß der Major Sympathien für mich hatte, und beschloß daher, mich nicht so schnell aus dem Felde schlagen zu lassen.

»Ich muß es von Ihnen verlangen, Herr Major,« sagte ich. »Bedenken Sie doch meine Lage! Ich möchte lieber das Entsetzlichste hören, als zu fortwährender Ungewißheit verdammt zu sein. Ich liebe meinen Gatten von ganzem Herzen, aber in diesem Dunkel kann ich nicht mit ihm weiter leben. Ich vertraue mich Ihrer Gnade an, Herr Major, bitte, helfen Sie mir.«

Mehr konnte ich nicht sagen. In der furchtbaren Erregung des Augenblicks faßte ich die Hand des Majors und zog sie an meine Lippen. Der alte Gentleman zuckte zusammen, als wenn er einen electrischen Schlag bekommen hätte.

»Meine theure Lady,« rief er aus, »ich kann Ihnen nicht sagen, was ich für Sie empfinde! Sie entzücken mich, Sie überwältigen mich, Sie rühren mir das Herz. Ich kann aber wirklich nichts thun, als Ihre bewunderungswürdige Offenheit erwidern. Sie haben mich von Ihrer Lage unterrichtet. Lassen Sie mich Ihnen die meinige enthüllen. Aber fassen Sie Sich erst wieder! Ich habe hier ein Riechfläschchen für die Damen. Erlauben Sie mir, daß ich es Ihnen anbiete.«

Er brachte mir das Riechfläschchen und stellte eine kleine Bank unter meine Fuße.

»Unseliger Thor!« hörte ich ihn leise vor sich hinmurmeln, als er mich in Agonie befangen glaubte. »Wenn ich in Deiner Stelle ihr Gatte gewesen, ich hätte ihr die Wahrheit gesagt, was auch daraus entstanden wäre.«

Ich zitterte. War er im Begriff, mir das Geheimniß zu enthüllen?

Der aufregende Gedanke beschäftigte noch meinen Geist, als ich durch ein lautes, anmaßendes Klopfen an der Straßenthür erschreckt wurde. Der Major horchte aufmerksam. Einen Augenblick daraus ward die Thür geöffnet, und ich hörte deutlich das Rauschen eines seidenen Kleides auf dem Flur. Der Major eilte, mit der Schnelligkeit eines jungen Mannes nach der Stubenthür. Es war zu spät. Gerade als er die Thür erreicht hatte, wurde sie von der andern Seite heftig aufgerissen. Die Dame mit dem rauschenden Seidenkleid stürzte in’s Zimmer.



Kapiteltrenner

Neuntes Kapitel.

Die Niederlage des Majors.

Major Fitz-David's Besuch erwies sich als ein plumpes, rundäugiges, übermäßig geputztes Mädchen mit rothem Gesicht und strohblondem Haar. Nachdem sie mir einen fast intpertinenten Blick des Erstaunens zugeworfen, entschuldigte sie ihr unangemeldetes Hereinkommen bei dem Major allein. Das Geschöpf hielt mich unzweifelhaft Tür den Gegenstand der jüngsten Neigung des Majors, und sie verbarg deshalb keineswegs ihre mimische Mißbilligung, uns beide zusammen zu sehen.

Major Fitz-David arrangirte die Sache sogleich mit seiner unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit. Er küßte die Hand des geputzten Mädchens mit derselben Ehrfurcht, mit der er die meine geküßt hatte, und sagte ihr, daß sie entzückend aussähe. Dann führte er sie, mit seiner glücklichen Mischung von Bewunderung und Respect, zu der Thür, durch welche sie eingetreten.

»Ich brauche mich wohl nicht zu entschuldigen, mein Kind,« sagte er. »Diese Dame ist in Geschäften bei mir. Sie werden Ihren Gesanglehrer im oberen Salon finden. Beginnen Sie nur immer Ihre Lection, ich werde in wenigen Minuten bei Ihnen sein. Auf Wiedersehen, mein reizender kleiner Zögling!«

Die junge Dame beantwortete diese Anrede mit einem Flüstern, indem sie ihre großen runden Augen noch immer mißtrauisch auf mir ruhen ließ. Dann verließ sie das Zimmer, und der Major Fitz-David hatte nun Gelegenheit, sich mit mir zu arrangiren!

»Diese junge Dame ist meine letzte glückliche Entdeckung,« sagte der alte Gentleman wohlgefällig »Ich kann wohl ohne Uebertreibung äußern, daß sie die schönste Sopranstimme in Europa besitzt. Werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich sie aus einem Bahnhofe fand? Das arme unglückliche Geschöpf stand hinter dem Buffet, spülte Weingläser und sang sich ihr Liedchen dazu. Allmächtiger Gott, welche Stimme! Ihre hohen Töne electrisirten mich förmlich. Ich sagte zu mir selbst: das ist eine geborene Primadonna; die muß der Welt gerettet werden. Das ist nun schon die dritte, die ich habe ausbilden lassen. Später werde ich sie nach Italien schicken. In diesem einfach auftretenden Mädchen sehen Sie die künftige Königin des Gesanges. Hören Sie nur! jetzt beginnt sie ihre Scalen. Welche Stimme! Bravo! bravo! bravissimo!«

Während er so sprach, klangen die Soprantöne der künftigen Königin des Gesanges schmetternd durch das Haus. Laut genug war es jedenfalls, über den Schmelz und die Reinheit der Stimme ließen sich aber wohl bedeutende Zweifel erheben.

Nachdem ich dem Major einige zustimmende Worte gesagt, wie es die Höflichkeit doch erforderte, führte ich den Gegenstand der Unterhaltung zu dem Punkt zurück, bei welchem uns der neue Besuch gestört hatte. Dem Major schien dies keineswegs angenehm zu sein. Er schlug mit dem rechten Zeigefinger fortwährend den Tact zu der Musik über unseren Häuptern, fragte mich, ob ich ebenfalls Stimme habe und bemerkte, daß ihm das Leben ohne Liebe und ohne Kunst ganz unerträglich sein würde. Jeder andere in meiner Stelle würde die Geduld hierbei verloren haben; da ich aber mein festes Ziel im Auge hatte, blieb mein Entschluß unumstößlich. Endlich gelang es mir, ihn von seiner Kunstbegeisterung zurück zu bringen und wieder von Eustace zu sprechen.

»Ich habe ihren Gatten von seinen Knabenjahren an gekannt,« begann er. »In einem gewissen Abschnitt seines Lebens wurde er von einem entsetzlichen Unglück betroffen. Das Geheimniß dieses entsetzlichen Unglücks ist seinen Freunden bekannt und wird auf das Gewissenhafteste von ihnen bewahrt. Es ist dasselbe Geheimniß, das er auch Ihnen vorenthält. So lange er lebt, wird er es Ihnen nicht mittheilen. Was mich betrifft, so ist meine Zunge durch Ehrenwort gebunden. Jetzt kennen Sie die Stellung, die ich Ihrem Gatten gegenüber einnehme. Mehr kamt ich Ihnen nicht sagen, meine liebe Mrs. Woodville.«

»Sie bestehen darauf, mich Mrs. Woodville zu nennen,« sagte ich.

»Ihr Gatte wünscht, daß ich darauf bestehe,« antwortete der Major.

»Er nahm den Namen Woodville an, weil er es nicht wagte, sich unter seinem wahren Namen in Ihres Onkels Hause vorzustellen. Jetzt wird er sich überhaupt zu keinem andern mehr bekennen. Jede Einwendung würde nutzlos sein. Sie müssen dasselbe thun, was wir thun: mit einem unvernünftigen Menschen Nachsicht haben. In jeder andern Beziehung der beste Mann der Welt, in diesem Punkte von einem Starrsinn ohne Gleichen. Wenn Sie mich nach meiner Ansicht fragen, so halte ich es für Unrecht, daß er sich Ihnen unter falschem Namen vorstellte und Sie unter falschem Namen heirathete. Indem er Sie zu seinem Weibe machte, vertraute er Ihnen sein Glück und seine Ehre an. Weshalb konnte er Ihnen nicht ebenso gut die Geschichte seines Unglücks vertrauen? Seine Mutter ist in diesem Punkt ganz derselben Ansicht wie ich. Sie müssen sie nicht tadeln, weil sie nach ihrer Verheirathung Sie von ihrem Vertrauen ausschloß; da war es zu spät. Vor Ihrer Verheirathung that sie, ohne ihr anvertraute Geheimnisse zu verrathen, Alles was sie konnte, um ihren Sohn zu bewegen, daß er rechtlich gegen Sie handle. Ich begehe keine Indiscretion, wenn ich Ihnen erzähle, daß sie sich nur aus dem Grunde Ihrer Heirath widersetzte, weil Eustace sich weigerte, Ihnen seine wahre Lage zu entdecken. Was mich betrifft, so gebrauchte ich meinen ganzen Einfluß, um Mrs. Macallan in ihrem Entschluß zu bestärken. Als Eustace mir schrieb, daß er sich mit der Nichte meines guten Freundes Dr. Starkweather verlobt, und daß er mich vorgeschlagen habe, Auskunft über ihn zu geben, schrieb ich ihm zurück, daß ich nichts mit der Geschichte zu thun haben wollte, es sei denn, daß er seinem künftigen Weibe die volle Wahrheit eingestehe. Er verwarf meinen Rath, wie er den Rath seiner Mutter verworfen und hielt mich fest bei meinem ihm gegebenen Ehrenwort, sein Geheimniß zu bewahren Als Starkweather sich an mich wandte, blieb mir nichts anderes übrig, als in einem so schroffen und zurückhaltenden Ton zu antworten, daß der Briefwechsel damit unter allen Umständen geschlossen werden mußte. Ich befürchte, daß ich hierdurch meinen guten alten Freund beleidigte. Nach dieser Auseinandersetzung wird Ihnen die peinliche Lage klar geworden sein, in der ich mich befinde. Um die Schwierigkeit der Situation noch zu vermehren, war Eustace heute bei mir, um mir zu sagen, daß ich auf meiner Hut sein möge, im Fall Sie das Gesuch an mich richteten, welches Sie vor einer Viertelstunde wirklich über Ihre Lippen gebracht. Er erzählte mir, daß Sie durch einen unglücklichen Zufall mit seiner Mutter zusammengetroffen wären und seinen wirklichen Namen entdeckt hätten. Er fügte hinzu, daß er expreß nach London gekommen sei, um mit mir über diesen ernsten Gegenstand zu sprechen. »Ich kenne Ihre Schwäche den Frauen gegenüber,« sagte er. »Valeria weiß, daß Sie mein alter Freund sind. Sie wird Ihnen gewiß schreiben. Es ist sogar nicht unwahrscheinlich, daß sie Ihnen einen Besuch macht. Erneuern Sie daher Ihr mir gegebenes Ehrenwort Ihren Eid halten und das größte Unglück meines Lebens gegen Jedermann verschweigen zu wollen. Das waren seine Worte. Ich liebe ihn, wie Sie ihn lieben. Was blieb mir also übrig, als den Eid zu erneuern, welcher der Erinnerung eigentlich gar nicht bedurfte. Ich fühle die lebhafteste Sympathie für Sie, meine theure Lady. Von Herzen gern möchte ich Sie von Ihrem Kummer entlasten, aber Sie werden selbst einsehen, daß es unter den obwaltenden Umständen bei dem guten Willen bleiben muß.«

Er hielt inne und wartete auf meine Antwort. Ich hatte ihm zugehört ohne ihn zu unterbrechen. Die außergewöhnliche Veränderung, welche mit seinem ganzen Wesen vorging, als er wieder von Eustace sprach, beunruhigte mich, wie mich bis jetzt noch nichts beunruhigt hatte. Wie schrecklich mußte diese unerzählte Geschichte sein, wenn deren bloße Erwähnung im Stande war, den leichtherzigen Major Fitz-David ernsthaft sprechen zu lassen, ihn zu verhindern, mir auch nur die leiseste Schmeichelei zu sagen und ihn selbst unempfindlich zu machen gegen den Gesang seines Lieblings, der von oben herab ertönte. Das Herz wurde mir schwer in der Brust indem ich diese Schlußfolgerungen machte. Ich war mit meinen Hilfsquellen zu Ende und wußte weder was zu sagen noch was zu thun.

Dennoch behielt ich meinen Platz. Niemals war der Entschluß, das Geheimniß meines Gatten entdecken zu wollen mächtiger in mir gewesen als jetzt. Der Gesang im oberen Salon nahm seinen Fortgang. Major Fitz-David schien wie aus Kohlen zu stehen, um meine Antwort oder meine ferneren Entschlüsse zu hören.

Ehe ich noch mit mir im Klaren war, was ich zunächst beginnen sollte, trat ein anderes häusliches Ereigniß ein. Ein abermaliges Klopfen an der Hausthür kündigte einen neuen Besuch an. Diesmal war es aber keine Dame im rauschenden Seidenkleide, sondern anstatt deren trat der alte Diener mit einem prächtigen Blumenstrauß ein. »Lady Clarinda läßt sich dem Herrn Major bestens empfehlen, und er möchte nicht vergessen was er ihr versprochen.« Wieder eine Lady! Und diesmal eine Lady mit einem Titel Eine große Dame, welche dem Major Blumen sandte. Dieser, nachdem er mich um Entschuldigung gebeten, schrieb einige beantwortende Zeilen und sandte sie dem Boten hinaus. Als die Thür sich wieder geschlossen hatte, wählte er sorgfältig die schönste Blume aus dem Strauß und reichte sie mir mit den Worten: »Darf ich mir die Frage erlauben, ob Sie Sich jetzt von der delikaten Lage überzeugt haben, in der ich mich Ihrem Herrn Gemahl gegenüber befinde?«

So klein die Unterbrechung durch den Blumenstrauß war, hatte sie mir dennoch Gelegenheit geboten mich wieder zu sammeln und dem Major zu verstehen zu geben, daß er seine Auseinandersetzung nicht nutzlos fortgeworfen.

»Ich sage Ihnen meinen besten Dank, Major,« entgegnete ich. »Sie haben mir die Ueberzeugung beigebracht, daß Sie um meinetwillen Ihr meinem Gatten geleistetes Versprechen nicht in den Wind schlagen dürfen. Der Eid ist heilig, und es sei fern von mir, Sie zum Bruch desselben verleiten zu wollen.«

Der Major stieß einen tiefen erleichternden Seufzer aus und klopfte mir auf die Schulter, um mir auszudrücken wie vollständig er meine Worte billigte.

»Außerordentlich hübsch gesagt!« erwiderte er, sofort wieder zu seiner alten lächelnden Freundlichkeit übergehend. »Meine theure Lady, Sie besitzen die Gabe, Sympathien einzuflößen und Ihr scharfer Blick hat sofort meine Situation durchschaut. Sie erinnern mich lebhaft an meine reizende Lady Clarinda. Sie hat ebenfalls die Gabe, Sympathien einzuflößen und meine Lage zu durchschauen. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn es mir gestattet würde, Sie einander vorstellen zu dürfen.«

Trotz der vom Major versuchten Abschweifungen behielt ich mein Ziel fest im Auge.

»Ich freue mich außerordentlich auf die Bekanntschaft der Lady Clarinda,« sagte ich.

Indessen —«

»Ich werde Ihnen ein kleines Diner geben,« unterbrach mich der Major mit aufloderndem Enthusiasmus. »Sie und ich und Lady Clarinda. Unsere junge Primadonna soll am Abend kommen und uns etwas vorsingen. Was meinen Sie, wollen wir gleich das Menü entwerfen? Meine süße Freundin welches ist Ihre Lieblings-Herbstsuppe?«

»Wollen wir nicht lieber noch etwas bei unserm ersten Thema verweilen?« unterbrach ich sein Entzücken.

Des Majors Lächeln starb dahin; seine Hand ließ die Feder sinken, welche den Namen meiner Lieblings-Herbstsuppe unsterblich machen sollte.

»Muß es denn sein?« fragte er bittend.

»Nur für einen Augenblick, Major.«

»Sie erinnern mich lebhaft,« sagte er mit traurigem Schütteln des Kopfes, »an eine andere reizende Freundin von mir — eine Französin, Madame Mirliflore. Sie verfolgt ihre Zwecke ebenso hartnäckig, wie Sie es thun. Glücklicherweise ist sie in London. Wollen wir sie auch zu unserm kleinen Diner bitten?« Die Züge des Majors strahlten bei dem Gedanken und er nahm die Feder wieder auf. »Darf ich mir also noch einmal erlauben, Sie zu fragen, welches Ihre Lieblings-Herbstsuppe ist?«

»Wollen wir nicht erst den andern Gegenstand erledigen?« fragte ich, ihn abermals abkühlend.

Der Major legte zum zweiten Mal die Feder nieder.

»Allerdings!« sagte er mit resignirtem Lächeln. »Sie wollten also bemerken —?«

»Ich wollte bemerken,« entgegnete ich, »daß Ihr Eid Ihnen nur verbietet mir das Geheimniß meines Gatten zu erzählen. Er verbietet Ihnen aber nicht, mir einige Fragen zu beantworten.«

Major Fitz-David erhob warnend seine Hand und warf mir einen eigenthümlichen Blick aus seinen kleinen grauen Augen zu.

»Halt! meine süße Freundin!« sagte er. »Ich weiß ganz genau, wohin mich Ihre Fragen führen werden und welches das Resultat sein wird, wenn ich sie beantworte. Als Ihr Gatte mich heut besuchte, erinnerte er mich daran, daß ich einer schönen Frau gegenüber so weich wie Wasser sei. Er hat ganz Recht. Ich bin so weich wie Wasser; ich kann einem reizenden Weibe nichts abschlagen. Theure, anbetungswürdige Lady, mißbrauchen Sie nicht den Einfluß, den Sie auf mich haben! Lassen Sie einen alten Soldaten nicht seinem Ehrenworte untreu werden!«

Ich versuchte etwas zu erwidern; aber der Major faltete seine Hände und sah mich mit fast rührender Bitte an.

»Weshalb denn die Sache so beeilen?« fragte er.

»Ich leiste ja keinen Widerstand Ich bin ein Lamm — weshalb mich opfern? Ich erkenne Ihre Macht an; ich empfehle mich Ihrem Mitleid. Alle Unglücksfälle meiner Jugend und meines Mannesalters sind mir durch die Frauen gekommen. Jetzt, bereits mit einem Fuß im Grabe, habe ich mich noch nicht im geringsten gebessert. Ich bin ihnen noch ebenso gut wie je und noch ebenso bereitwillig, mich von ihnen mißleiten zu lassen. Sehen Sie diese Narbe!« sagte er, eine Locke seiner Perrücke emporhebend und mir eine schwere Verletzung an der Seite seines Kopfes zeigend. »Diese Wunde entstand durch eine Pistolenkugel. Ich empfing sie nicht etwa im Dienste meines Vaterlandes, sondern im Dienste einer schwer beleidigten Dante von der Hand ihres schurkischen Gatten. Sie war des Opfers aber werth!« Er küßte zärtlich seine Hand, zum Andenken an die todte oder abwesende Dame, und deutete dann auf ein Gemälde in Wasserfarben, das an der Wand gegenüber hing und ein hübsches Landhaus darstellte. »Das schöne Gut gehörte mir einst,« fuhr er fort. »Es ist schon vor manchen Jahren verkauft Und wer hat das Geld bekommen? Die Frauen — Gott segne sie alle! — die liebenswürdigen und reizenden Frauen. Es thut mir nicht leid. Wenn ich noch ein Gut hätte, würde es ohne allen Zweifel denselben Weg gehen. Das Einziges was ich mir bewahrt habe, ist meine Ehre. Und nun ist diese auch in Gefahr. Ja, ja, wenn Sie mit Ihren verführerischen Fragen fortfahren mit Ihren lieblichen Blicken und Ihrer holden Stimme, dann weiß ich genau, was geschehen wird. Sie werden mich des letzten und besten aller Besitzthümer berauben. Habe ich es wohl verdient, so von Ihnen behandelt zu werden?«

Ich machte abermals einen Versuch, zu sprechen, aber der Major Fitz-David vertraute sich noch unschuldiger meiner Gnade denn zuvor an.

»Verlangen Sie von mir, was Sie wollen,« fuhr er fort, »nur nicht einen Freund zu verrathen. Ich bezweifle nicht daß man Ihnen übel mitgespielt; es ist grausam, von einer Frau, wie Sie es sind, zu verlangen, daß sie ihr ganzes Leben im Dunkel bleiben solle. Wenn ich Sie so vor mir sehe, in Ihrer Schönheit und in Ihrem Unglück, möchte ich daran denken daß ein Versprechen selbst ein Eid, seine Grenzen habe wie alles andere in der Welt. Dennoch werde ich mich durch meinen Eid gebunden halten; aber ich würde nicht den kleinen Finger aufheben, um Sie zu verhindern, das Geheimniß selber zu entdecken.«

Er hatte diese Worte mit tiefem Ernst gesprochen und namentlich die Schlußwendung scharf betont. Unwillkürlich sprang ich vom Stuhl empor. Major Fitz-David hatte einen neuen Gedanken in mir erweckt.

»Nun verstehen wir einander!« sagte ich.

»Ich nehme Ihre eigenen Bedingungen an. Ich will nichts weiter von Ihnen verlangen, als was Sie mir soeben aus eigenem Antriebe angeboten.«

»Was ich Ihnen angeboten?« fragte er ein wenig aufgeregt.

»Nichts, das Sie Ursache haben werden, zu bereuen,« antwortete ich; »nichts, das Ihnen schwer werden wird, zu erfüllen. Darf ich mir eine kühne Frage erlauben? Setzen wir den Fall, dies Haus wäre mein, anstatt daß es Ihnen gehört.«

»Betrachten Sie es ganz als das Ihre,« rief der galante alte Gentleman. »Vom Boden bis zur Küche herab, betrachten Sie es ganz als das Ihre!«

»Tausend Dank, lieber Major; für den Augenblick nehme ich Ihr Geschenk an Sie wissen, daß eine Hauptschwäche aller Weiber die Neugier ist. Nehmen wir also an, meine Neugier hätte mich hierher geführt, um mein neues Haus bis in seine geringsten Details kennen zu lernen. Wenn ich nun von Zimmer zu Zimmer, von Schrank zu Schrank ginge, glauben Sie, daß ich Chancen haben würde, um —?«

Der Major verstand mich sogleich und schien ebenfalls von einem neuen Gedanken belebt.

»Würde ich also Chancen haben,« fuhr ich fort, »irgend eine Spur von meines Mannes Geheimniß in diesem Hause zu finden? Ein Wort als Entgegnung, Majors Ja oder nein?«

»Ja,« sagte er nach kurzem Ueberlegen.

Der erste wichtige Schritt war gethan. Er genügte mir aber noch nicht, ich fühlte die unabweisliche Nothwendigkeit, noch weiter zu forschen.

»Bedeutet dieses Ja,« fragte ich weiter, »daß ich hier im Hause einen greifbaren Schlüssel finden könnte?«

Er überlegte abermals. Ich hatte ihn, ohne daß er es klar bemerkt, in meine Interessen gezogen.

»Der Schlüssel, von dem Sie sprechen, existirt allerdings,« sagte er.

»In diesem Hause?« fiel ich schnell ein.

»In diesem Zimmer!« antwortete der Major, mir einen Schritt näher tretend.

In meinen Gedanken begann es zu schwirren; mein Herz schlug mir fast hörbar in der Brust. Ich versuchte zu sprechen; es war vergebens. In dem Schweigen, das nun folgte, hörte ich von oben herab das Klavierspiel der künftigen Primadonna. Dann sang sie die liebliche Arie aus der Somnambula: come per me sereno.

Bis auf den heutigen Tag kann ich niemals das Lied hören, ohne an jenes unglückselige Hinterzimmer in Vivian place erinnert zu werden.

Der Major brach zuerst das Schweigen.

»Setzen Sie Sich wieder,« sagte er; »nehmen Sie aber den bequemen Stuhl. Sie sind sehr aufgeregt und bedürfen der Ruhe.«

Er hatte Recht. Ich konnte mich nicht länger aufrecht erhalten und sank in den Stuhl. Major Fitz-David klingelte und sprach einige leise Worte zu dem eintretenden Diener.

»Ich bin schon so lange hier gewesen,« bemerkte ich schwach.

»Sagen Sie mir aufrichtig, ob ich Sie störe.«

»Stören?« wiederholte er mit seinem unwiderstehlichen Lächeln. »Sie vergessen, daß Sie Sich in Ihrem eigenen Hause befinden.«

Der Diener kehrte mit einer halben Flasche Champagner und einem Teller kleiner Bisquits zurück.

»Das halte ich mir immer für die Damen,« sagte der Major. »Sie müssen mir den Gefallen thun, einige Erfrischungen zu Sich zu nehmen, und dann —« fuhr er, mich eigenthümlich anblickend fort, »und dann werde ich zu meiner Primadonna hinaufgehen und Sie hier allein lassen.«

Ich nahm seine Hand und drückte sie dankbar.

»Die Ruhe meines ganzen Lebens steht auf dem Spiel,« sagte ich. »Wenn Sie mich hier allein lassen, darf ich dann in diesem Zimmer suchen, wie und wo ich will?«

»Trinken Sie erst und essen Sie,« entgegnete er mit bezeichnender Handbewegung; »dann will ich Ihnen Rede stehen.«

Ich that, wie er mir geheißen. Der schäumende Wein belebte mich auf wunderbare Weise.

»Es ist also Ihr ausdrücklicher Wunsch,« fragte er, »daß ich das Zimmer verlassen soll, während Sie suchen?«

»Mein ausdrücklicher Wunsch,« entgegnete ich.

»Ich belaste mich mit einer schweren Verantwortung, indem ich Ihren Wunsch erfülle; aber ich erfülle ihn dennoch, weil ich glaube, daß die Ruhe Ihres ganzen Lebens von der Entdeckung der Wahrheit abhängt.« Indem er diese Worte sprach, nahm er zwei Schlüssel aus seiner Tasche. »Meine verschlossenen Thüren werden Ihnen natürlich verdächtig sein,« fuhr er fort. Die einzigen verschlossenen Räume in diesem Zimmer — sind die Schranke unter dem langen Repositorium und die Thür zu der italienischen Chiffonnière in jener Ecke. Hier sind die Schlüssel dazu.«

Er überreichte mir dieselben.

»Bis hierher,« sagte er, »habe ich das Ihrem Gatten gegebene Versprechen nicht verletzt. Ich werde demselben treu bleiben, welches auch das Resultat Ihres Suchens sein möge. Ich habe meine Ehre verpfändet, Ihnen weder durch Wort noch That beizustehen. Es ist mir nicht einmal gestattet, Ihnen den leisesten Wink zu geben. Nun noch eine letzte Warnung. Wenn Sie durch Zufall den Schlüssel zum Geheimniß finden sollten, wird die Entdeckung eine fürchterliche sein. Wenn Sie nur den geringsten Zweifel in Ihre Fähigkeit setzen, den Schlag ertragen zu können, so lassen Sie um Gottes willen vom ferneren Forschen ab!«

»Ich danke Ihnen für Ihre Warnung, Major; aber ich muß die Entdeckung machen, es koste was es wolle.«

»Gut, das Haus und seine Bewohner stehen vollständig zu Ihren Diensten. Auf einmaliges Klingeln erscheint der Diener, auf zweimaliges die Hausmagd. Von Zeit zu Zeit werde ich mich selbst überzeugen, wie weit Sie sind.«

Er führte meine Hand an seine Lippen und heftete einen letzten beobachtenden Blick auf mein Antlitz.

»Ich denke, ich werde nicht zu viel riskiren,« sagte er mehr zu sich selbst als zu mir. »Die Frauen haben mich zu mancher raschen Handlung verleitet; was Wunder, daß Sie mir die rascheste von allen abnöthigten!« Mit diesen Worten machte er mir eine ernste Verbeugung und ließ mich im Zimmer allein.



Kapiteltrenner

Zehntes Kapitel.

Valeria sucht.

Das Feuer im Kamin war im Erlöschen, und draußen wehte ein kalter Herbstwind; dennoch war mir glühend heiß, als der Major Fitz-David mich verließ. Ich nahm Hut und Mantel ab, zog die Handschuhe aus und öffnete ein wenig das Fenster. Die Aussicht aus demselben war wenig erquickend. Ein öder gepflasterter Hof, auf der andern Seite begrenzt von den Ställen des Majors. Wenige Minuten am offenen Fenster kühlten, meine brennende Stirn und erfrischten mich. Ich schloß es wieder und that meine ersten Schritte zu der Durchsuchung des Zimmers.

Ich war erstaunt über meine Gemüthsruhe. Ich fühlte einen Trost darin, mit mir allein zu sein.

Das Zimmer hatte die Gestalt eines Oblongums. Von den beiden kürzeren Wänden enthielt die eine jene bereits von mir erwähnte Thür mit der Spalte, welche die Verbindung mit dem vorderen Zimmer herstellte; die zweite kurze Wand wurde fast vollständig von einem breiten Fenster eingenommen, das nach dem Hof blickte.

Ich begann mit der Wand, in welche die Thür mit der Spalte eingelassen war. An jeder Seite derselben stand ein Kartentisch. Ueber jedem der beiden Tische befand sich auf einem kunstvoll geschnittenen Consol eine prachtvolle chinesische Vase vom feinsten Porzellan.

Die Schubläden der kleinen Tische enthielten nur Karten und Spielmarken. Mit Ausnahme eines einzigen Spiels waren die Karten sämmtlich neu, als wenn sie eben aus dem Laden gekommen wären. Ich blätterte das bereits benutzte Packet sorgfältig durch, ohne das geringste Verdächtige zu entdecken

Mit Hilfe einer kurzen Leiter, die zu den Repositorien gehörte, blickte ich in die chinesischen Vasen. Beide waren vollkommen leer. In den Ecken der kurzen Wand standen zwei kleine Stühle von eingelegtem Holz und lose Kissen auf den Sitzen. Ich hob sie aus, nichts war darunter.

Ich ging nun zu der entgegengesetzten Wand über, welche hauptsächlich von dem breiten Fenster eingenommen wurde. Der schmale Raum zu beiden Seiten war gerade groß genug für zwei Chiffonnièren von Polysander, deren jede eine Reihe kleiner Fächer sehen ließ.

Mit der Chiffonnière linker Hand beginnend, fand ich in den sechs Schiebläden nur eine Sammlung von Fossilien, welche der Major wahrscheinlich von seinen früheren Reisen mitgebracht.

Ich wandte mich also zu der Chiffonnière rechts, deren Durchsuchung mich längere Zeit kostete.

Die oberste Schieblade enthielt eine Menge Tischlerhandwerkszeug en miniature, jedenfalls aus der Knabenzeit des Majors herrührend. Die zweite Schieblade enthielt Geschenke von zarten Händen. Gestickte Serviettenbänder, Cigarrentaschen, Morgenschuhe, Börsen, und was der Dinge mehr waren. Der Inhalt der dritten Schieblade interessirte mich noch weniger. Er bestand aus alten Rechnungsbüchern, die ziemlich weit bis in frühere Jahre hinaufreichten. Ich schüttelte jedes dieser Hefte, um zu sehen, ob vielleicht ein loses Blatt herausfallen möchte; ganz vergebens. Im vierten Fach lagen quittirte Rechnungen, sauber mit rothen Bändchen zusammengebunden. Die fünfte Schieblade befand sich in trauriger Unordnung. Eine Menge Menüs längst verzehrter Diners, Visitenkarten, Einladungen, Theaterzettel, Textbücher, Pfropfenzieher, ramponirter Cigarretten, ein Bündel rostiger Schlüssel, zwei Cigarrentaschen und ein Plan von Rom. Ich kam nun zu der sechsten und letzten Schieblade, deren Inhalt mich gleichzeitig mit Staunen und Enttäuschung erfüllte: denn er bestand nur in den Fragmenten einer zerbrochenen Vase. Ich hatte mich auf einen niedrigen Stuhl der Chiffonnière gegenüber gesetzt und wollte eben, dem ersten Gefühl des Unwillens folgend, die Schieblade mit dem Fuße zustoßen, als die nach der Halle führende Thür sich öffnete und der Major Fitz-David vor mir stand.

Seine Blicke, die erst den meinigen begegnet waren, glitten dann zu meinem Fuß herab. Als er das noch offene Fach bemerkte, sah ich seine Mienen sich verändern. Es war nur für einen Moment; aber in diesem Moment sprachen ans seinen Augen Verdacht und Staunen, als wenn ich bereits meine Hand auf den Schlüssel des Geheimnisses gelegt.

»Bitte, lassen Sie Sich nicht stören,« sagte Major Fitz-David. »Ich bin nur heruntergekommen, um eine Frage an Sie zu richten.«

»Und die wäre, Major?«

»Es sind Ihnen im Verlauf Ihrer Nachforschungen vielleicht Briefe von mir in die Hand gefallen?«

»Bis jetzt noch nicht. Sollte es aber in Zukunft der Fall sein, werde ich sie selbstverständlich ungelesen lassen.«

»Darum wollte ich Sie eben freundlichst gebeten haben; denn ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß keiner meiner Briefe Sie auch nur um Zollbreite Ihrem Ziele näher führen wird. Sind Sie noch nicht müde vom vielen Suchen? Fühlen Sie Sich noch nicht entmuthigt?«

»Nicht im mindesten, Major. Wenn Sie gütigst erlauben, werde ich meine Forschungen noch einige Zeit fortsetzen.«

Ich hatte das Fach der Chiffonnière noch nicht wieder hineingestoßen und blickte, während ich ihm Antwort gab, mit fingirter Gleichgültigkeit auf die Fragmente der zerbrochenen Vase. Der Major hatte jetzt seine Selbstbeherrschung vollständig wiedergewonnen. Denn er begleitete meinen Blick mit derselben Gleichgültigkeit, die ich zur Schau getragen.

»Das sieht allerdings nicht sehr ermuthigend aus,« sagte er mit mattem Lächeln, indem er auf die Scherben wies.

»Man kann dem Anschein nicht immer Glauben schenken,« entgegnete ich. »Das klügste was ich in meiner gegenwärtigen Lage thun kann, ist, allem zu mißtrauen, selbst einer zerbrochenen Vase.«

»Werden Sie auch nicht von der Musik dort oben gestört?« fragte er, zu einem andern Gegenstande übergehend.

»Nicht im mindesten, Major.«

»Es wird auch gleich vorüber sein. Der Gesanglehrer wird bald gehen und der italienische Professor ist eben gekommen. Ich spare weder Mühe noch Kosten, das Talent des Wunderkindes auszubilden. Nicht allein den Gesang, sie muß auch die Sprache lernen, welche hauptsächlich das Idiom des Gesanges ist. Kann ich noch etwas für Sie thun, ehe ich Sie wieder verlassen muß?«

Ich dankte ihm, er küßte meine Hand und wendete sich zum Gehen. Während er sich langsam der Thür zu bewegte, bemerkte ich, daß sein Blick sich auf eines der Repositorien heftete. Es war nur ein Moment, und im nächsten war er bereits aus dem Zimmer.

Als ich wieder mit mir allein war, schenkte ich diesem Repositorium zum ersten Mal eine große Aufmerksamkeit. Es war von geschnitztem Eichenholz lehnte sich an die Wand, welche das Zimmer von der Halle trennte, und nahm fast den ganzen Raum der ersteren ein. Auf dem obersten Brett standen Vasen, Kandelaber und Statuetten paarweise in eine Reihe gestellt. Diese entlang blickend, bemerkte ich einen leeren Platz am äußersten Ende derselben, zunächst dem Fenster. Die correspondirende Stelle in der Reihe, an dem andern äußersten Ende zunächst der Thür, war von einer schönen seltsam geformten Vase eingenommen. Wo mochte ihr Pendant geblieben sein? Ich kehrte zu der sechsten Schieblade der Chiffonnière zurück und prüfte abermals ihren Inhalt. Es war kein Zweifel mehr, die zerbrochene Vase hatte einst in der von mir bemerkten Lücke auf dem obersten Brett des Repositoriums gestanden.

Nachdem ich diese Entdeckung gemacht, nahm ich die Scherben bis auf den kleinsten Splitter heraus und betrachtete sie einen nach dem andern.

Der Grund war von einem matten Gelb und die Verzierungen bestanden in Blumenzweigen und kleinen Cupidos, welche zwei Medaillons auf jeder Seite der Vase umrankten. Auf einem dieser Medaillons war mit unendlich feinen Zügen ein Frauenkopf dargestellt; das Haupt einer Nymphe, einer Gottheit oder irgend einer berühmten Person. Ich war nicht gelehrt genug, um das unterscheiden zu können. Das andere Medaillon zeigte den Kopf eines Mannes, ebenfalls im klassischen Styl. Freundliche Schäfer und Schäferinnen im Watteau-Kostüm mit ihren Hunden und Schafen bildeten die Zierrathe des Piedestals. So hatte die Vase ausgesehen, als sie noch auf ihrem Platz auf dem obersten Brett des Repositoriums stand. Durch welchen Zufall war sie zertrümmert worden? Und weshalb vor allen Dingen hatte sich die Miene des Major Fitz-David verändert, als er bemerkte, daß ich das zerstörte Kunstwerk entdeckt? Die Trümmer ließen jene wichtigen Fragen unbeantwortet. Und dennoch hegte ich die festeste Ueberzeugung, daß ich in jenen Scherben den Schlüssel zu meinem Geheimniß direkt oder indirekt gefunden habe.

Da ferneres Verbleiben bei dem zerbrochenen Porzellan sich als nutzlos erwies, kehrte ich zum Repositorium zurück, auf das der Blick des Majors mich aufmerksam gemacht.

Ich blickte über die langen Reihen der Bücher hinweg; ich las deren Titel auf dem Rücken. Da stand Voltaire in rothem Maroquin, Shakespeare in Blau, Walter Scott in Grün, die Geschichte von England in Braun. Ich stieß einen Seufzer aus bei dem Gedanken, daß ich alle diese Bücher durchblättern sollte.

Major Fitz-David hatte von einem entsetzlichen Unglück gesprochen, das meines Gatten Vergangenheit getroffen. In welcher Beziehung konnte dieses Unglück mit einem der Bände Shakespeare's oder Voltaire's stehen? Ich war der Ansicht, daß ein bloßer Versuch, alle diese Bücher einer genauen Prüfung zu unterwerfen, eine Thorheit sein würde.

Und dennoch hatte der Major einen verstohlenen Blick nach dem Repositorium geworfen. Und dennoch hatte er sich entfärbt, als er meinen Blick auf die zerbrochene Vase geheftet sah. Diese beiden Dinge mußten also unter allen Umständen in Verbindung mit einander stehen.

Ich stellte mich auf die Zehen und blickte nach den höheren Brettern empor.

Hier herrschte nicht die Sauberkeit wie in den unteren Regionen, die Bände waren nicht so sorgfältig arrangirt und so schön gebunden. Ihr Aeußeres war unscheinbar, sie standen loser an einander gereiht, einige waren vor- oder zurückgewichen, andere umgefallen. Auch zeigten sich leere Raume, aus denen Bände herausgenommen und nicht wieder hineingestellt worden waren. Ich kam zu dem Entschluß, die Prüfung des Repositoriums von oben zu beginnen.

Ich blickte mich nach der Leiter um, deren ich mich vorher bedient hatte, um in die chinesischen Vasen auf den Consolen zu gucken. Indem ich meinen Kopf rückwärts wandte, hörte ich ein Geräusch in dem anstoßenden Zimmer, das auf die Straße ging. Ein heller schmaler Lichtstrahl, der durch die schon öfter erwähnte Spalte fiel, brachte mich auf den Gedanken, daß ich bei meiner Arbeit belauscht werden könnte. Leise schlich ich auf den Zehen durch das Zimmer nach der Thür und drückte sie schnell nach der andern Seite hin auf. Ich stand dem Major gegenüber. Er hatte mich augenscheinlich belauschen wollen.

Der Hut in seiner Hand zeigte an, daß er im Begriff war, ausgehen zu wollen, und er benutzte sofort diesen Umstand zu seiner Entschuldigung.

»Ich habe Sie doch hoffentlich nicht erschreckt?« sagte er.

»Ein wenig allerdings, Major.«

»O, das thut mir so leid und ich fühle mich so beschämt! Ich war eben im Begriff, die Thür zu öffnen, um Ihnen zu erzählen, daß ich einen kleinen Gang thun müsse. Ich habe einen pressirenden Auftrag von einer Dame erhalten Ein reizendes Wesen — ich wünschte wohl, daß ich sie Ihnen vorstellen könnte! Die Arme befindet sich in augenblicklicher Verlegenheit. Kleine Rechnungen — unverschämte Lieferanten, die ihr Geld haben wollen — und ein Gemahl, der ihrer ganz unwürdig ist. Ein höchst interessantes Geschöpf. Sie erinnern mich etwas an sie — namentlich im Blick und in der Haltung des Kopfes. Ich bleibe höchstens eine halbe Stunde fort. Kann ich noch etwas für Sie thun, ehe ich gehe? Nein? Dann versprechen Sie mir zu klingeln, wenn Sie etwas bedürfen sollten. Auf Wiedersehen, meine schöne Freundin, auf Wiedersehen!«

Als er fort war, überließ ich mich erst meinen Reflexionen. Es stand fest, er hatte mich beim Repositorium beobachtet. Der Mann, der meines Gatten Vertrauen besaß, der Mann, welcher wußte, wo der Schlüssel meines Geheimnisses lag, hatte mich bei seinen Büchern beobachtet! Ohne es zu wollen, hatte er mir das Versteck gezeigt, in dem sich das Gespenst meines Lebens verborgen hielt. Von diesem Augenblick an hatten die übrigen in dem Zimmer befindlichen Dinge wenig oder gar kein Interesse mehr für mich. Selbst den Portraits an den Wänden, größtentheils Frauenköpfe und Gegenstände früherer Verehrung des Majors, schenkte ich keine Aufmerksamkeit. Ich erhob mich von neuem zur Arbeit und ging nach der Leiter, um sie an das Repositorium zu stellen.

Auf dem kurzen Wege, den ich machen mußte, um sie zu holen, sah ich die Schlüssel auf dem Tisch liegen, welche der Major zu meiner Verfügung gestellt hatte. Der Verdacht, den man gewöhnlich gegen verschlossene Raume hegt, brachte mich zu dem Entschluß, erst diese zu prüfen, ehe ich mich wiederum zu den Büchern wandte.

Die Schranke, welche unter dem Repositorium angebracht waren, hatten drei Thüren. Als ich die erste derselben öffnete, hörte der Gesang oben auf. Es lag für mich etwas Schauerliches in dem plötzlichen Uebergang von dem laut tönenden Clavierspiel zur absoluten Stille. Ich stand einen Augenblick wie festgebannt. Das nächste Geräusch, das ich vernahm, waren die knarrenden Stiefel, wahrscheinlich des Gesanglehrers, der die Treppe hinabging. Gleich darauf fiel die schwere Hausthür hinter ihm ins Schloß; dann herrschte tiefes Schweigen wie zuvor. Ich machte eine gewaltsame Anstrengung, meine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen und kehrte zu dem ersten Schrank unter dem Repositorium zurück.

Er war in zwei Hälften getheilt.

Die obere Hälfte enthielt nichts als Cigarrenkisten, während in der unteren sich eine Muschelsammlung befand. Sonst war in dem ersten Schrank nichts Verdächtiges zu entdecken.

Als ich den zweiten Schrank öffnete, fiel es mir plötzlich auf, daß es dunkel geworden war.

Ich sah nach dem Fenster. Es war mittlerweile Abend geworden. Die plötzliche Verfinsterung war durch Wolken hervorgebracht worden, die sich am Himmel zusammengezogen hatten. Schwere Regentropfen schlugen gegen die Fensterscheiben; der Herbstwind pfiff traurig durch die Raume des öden Hofes. Ich schürte das Feuer ein wenig an, ehe ich meine Nachforschungen erneuerte.

Trotz des wieder auflodernden Feuers war mir eiskalt, als ich zu dem Repositorium zurückkehrte. Meine Hände zitterten, ich wußte mir die Ursache dieser plötzlichen Nervenverstimmung nicht zu erklären.

Das zweite Spind enthielt in seiner oberen Hälfte einige sehr schöne, aber nicht geschnittene Kameen. In einer Ecke bemerkte ich ein sauber geschriebenes Manuscript. Ich griff schnell danach, aber nur um einer neuen Enttäuschung zu begegnen. Das Manuseript enthielt nichts als einen Katalog über die Kameen.

Zu der unteren Hälfte übergehend fand ich schon kostbarere Kuriositäten, schön geschnittene Elfenbeinsachen aus Japan und feine Lacksachen aus China. Die Durchsuchung der Schätze des Majors begann mich abzuspannen. Als ich das zweite Spind schloß, empfand ich kaum Neigung, das dritte zu öffnen. Endlich that ich es dennoch.

Auf dem obersten Fach entdeckte ich ein einziges großes prachtvoll gebundenes Buch, in blauem Sammet mit zierlich ciselirten Klammern, die so fest in ihre Oesen gedrückt waren, als hätten sie die Ausgabe, den Inhalt des Bandes vor neugierigen Augen zu schützen.

Die Blätter waren vom feinsten Velimpapier, rund herum mit geschmackvoll gezeichneten Illustrationen. Und was enthielten diese kostbar geschmückten Seiten? Zu meinem unaussprechlichen Erstaunen, zu meinem tiefsten Widerwillen enthielten sie nur Haarlocken welche in der Mitte eines jeden Blattes mit zierlichen Seidenstichen befestigt waren Unter denselben bemerkte ich Zuschriften welche mir bewiesen daß die verschiedenen Haarlocken Liebes- und Erinnerungszeichen von Damen waren, welche des Majors leicht entzündliches Herz in verschiedenen Perioden bezaubert hatten Die Unterschriften waren außer in der englischen in verschiedenen anderen Sprachen geschrieben.

So zeigte die erste Seite eine Locke vom allerhellblondesten Haar mit der Unterschrift: »Meine angebetete Madeleine Ewige Treue. 22. Juli 1839!« Andere Locken in Braun, Schwarz und Roth trugen italienische, französische und spanische Unterschriften. Endlich legte ich das Buch entrüstet nieder und war eben im Begriff, mich dem Repositorium zuzuwenden, als ich fast instinctiv den Band noch einmal in die Hand nahm.

Ich wandte alle Blätter um, bis ich zu dem ersten leeren gelangte. Nachdem ich die Entdeckung gemacht, daß die folgenden Blätter ebenfalls nicht von Locken beschwert waren, faßte ich das Buch vorsichtig an beiden Seiten des Rückens und schüttelte es in der Hoffnung, daß vielleicht lose Blätter darin sein möchten die ich beim ersten Durchsehen nicht entdeckt.

Diesmal wurde meine Geduld durch eine Entdeckung belohnt, welche mich unbeschreiblich irritirte und betrübte.

Eine kleine Photographie in Visitenkartenformat fiel aus dem Buch.

Bei dem ersten flüchtigen Blick bemerkte ich sofort die Portraits zweier Personen auf der Karte.

In der einen dieser Personen erkannte ich meinen Gatten.

Die andere Figur stellte eine Frau dar.

Ihr Antlitz war mir vollständig unbekannt. Sie war nicht mehr jung. Sie saß auf einem Stuhl, und mein Gatte stand hinter ihr und beugte sich über sie, indem er eine ihrer Hände hielt. Die Züge der Frau waren hart geschnitten und häßlich, mit unverkennbaren Zeichen heftiger Leidenschaften und großer Willenskraft. Trotz ihrer großen Häßlichkeit preßte mir die Eifersucht das Herz zusammen als ich den ruhig gütigen Blick meines Mannes bemerkte, der auf sie gerichtet war.

Eustace hatte mir in den Zeiten unseres Verlobtseins die Mittheilung gemacht, daß er sich früher, ehe er mich gekannt, öfters in dem Glauben befunden habe, verliebt zu sein. Sollte dies so wenig anziehende Weib ein Glied in der Kette jener Damen bilden denen er früher seine Bewunderung geschenkt? Hatte sie ihm nahe genug gestanden um ihn zu dem Entschluß zu bringen sich Hand in Hand mit ihr photographiren zu lassen? Je länger ich die beiden Portraits anschaute, desto weniger vermochte ich ihren Anblick zu ertragen. Ich warf die Photographie unwillig in eine Ecke des Schrankes. Ich war ernstlich böse aus meinen Gatten; ich haßte von ganzem Herzen und von ganzer Seele jenes Weib, dessen Hand er in der seinen hielt, jenes unbekannte Weib mit den harten häßlichen Zügen.

Während dieser ganzen Zeit wartete der untere Raum des Schrankes vergebens auf Besichtigung. Ich kniete nieder, um das Versäumte nachzuholen und um durch andere Eindrücke die entwürdigende Eifersucht zu verbannen die von meinem ganzen Wesen Besitz genommen.

Unglücklicherweise enthielt die untere Abtheilung des Schrankes nichts als Reliquien aus, des Majors militärischer Vergangenheit Degen, Pistolen, Epauletten, Schärpen u.s.w. u.s.w., was Wunder, daß meine Augen wieder nach dem oberen Raum wanderten und daß meine Hände die Photographie wieder herausholten, deren Anblick mich sofort aufregte und verletzte. Dies-mal bemerkte ich, was ich vorhin unbeachtet gelassen, einige von Frauenhand geschriebene Zeilen auf der Rückseite der Karte:

»Dein Major Fitz-David mit zwei Vasen Von seinen Freunden S. und E. M.«

War eine von diesen Vasen vielleicht die zerbrochene gewesen? Hatte die Veränderung der Miene, die ich am Major bemerkte, hiermit in Zusammenhang gestanden? Weit mehr als die Beantwortung dieser beiden Fragen beschäftigten mich die Initialen auf der Rückseite der Karte.

»S. und E. M.?« Die letzteren beiden Buchstaben konnten für die Initialen des wahren Namens meines Mannes gelten: Eustace Macallan In diesem Fall bedeutete wohl der erstere Buchstabe S. ihren Namen. Mit welchem Recht durfte sie sich in dieser Weise mit meinem Manne associiren? Ich dachte einen Augenblick nach. Mein Gedächtniß half mir, Eustace hatte mir ja erzählt daß er Schwestern besäße. War ich thöricht genug gewesen mich seiner Schwestern wegen mit Eifersucht zu martern? Es mochte wohl sein. Das S. bedeutete jedenfalls den Vornamen einer seiner Schwestern. Ich fühlte mich tief beschämt nach dieser Reflexion. Welch ein Unrecht hatte ich in Gedanken Beiden zugefügt! Bereuend und traurig ließ ich noch einmal einen Blick auf die beiden Portraits fallen um sie diesmal mit milderem Urtheil zu prüfen.

Ich konnte auch nicht die geringste Familienähnlichkeit zwischen den beiden Köpfen finden. Im Gegentheil sie waren einander so verschieden wie es Gesichter überhaupt nur sein können. War sie denn überhaupt seine Schwester? Ich blickte genauer auf die Hände Ihre rechte Hand war von der meines Gatten umschlossen die linke ruhte auf ihrem Schooß. Auf dem dritten Finger derselben trug sie einen Trauring. War denn eine der Schwestern meines Mannes verheirathet? Ich hatte ihm früher diese Frage vorgelegt und ich entsann mich jetzt deutlich, daß er sie verneinte.

Sollte meine erste instinctive Eifersucht mich dennoch auf den richtigen Weg geführt haben? Wenn dem so war, welcher Zusammenhang bestand zwischen den drei Initialen? Was bedeutete der Trauring? Gott im Himmel! Blickte ich auf das Portrait einer Nebenbuhlerin in meines Gatten Neigung, und war diese Nebenbuhlerin sein Weib?

Mit einem Schrei des Entsetzens warf ich die Photographie von mir. Für den ersten Moment glaubte ich den Verstand zu verlieren. Die Liebe zu Eustace ließ mich meine Geistesgegenwart und Vernunft behalten. Meine besseren und edleren Gefühle gewannen die Oberhand. War der Mann den ich in meines Herzens Herz eingeschlossen der elenden Handlung fähig, mich neben einer zweiten geheirathet zu haben? Nein! Ich war die Elende, die nur für einen Augenblick sich durch einen solchen Gedanken erniedrigen konnte.

Ich nahm die unglückliche Photographie vom Boden auf und legte sie in das Buch zurück. Hastig schloß ich den Schrank wieder zu, holte die kurze Leiter und lehnte sie gegen das Repositorium. Ich wollte durch neue Eindrücke den Rest der schlimmen Zweifel verbannen, die sich in mein Herz und meine Seele geschlichen. Die Bücher! Die Bücher! ehe jene entsetzlichen Gedanken zurückkommen. Ich hatte bereits einen Fuß auf der Leiter, als ich die Thür öffnen hörte, die nach der Halle führte In der Erwartung, den Major zu sehen wandte ich mich um.

Anstatt dessen erblickten meine Augen die zukünftige Primadonna, welche soeben eingetreten war und mich fest anstarrte.

»Ich kann ein gutes Theil vertragen,« begann das Mädchen mit kühlem fast herausforderndem Ton; »aber dies ist mir denn doch zu viel

»Was ist Ihnen zu viel?« fragte ich.

»Ja, wenn Sie hier einige Minuten geblieben wären; aber nun sind es bald zwei volle Stunden,« entgegnete sie. »Das gefällt Ihnen wohl, so ganz allein in des Majors Studirzimmer? Ich habe Anlage zur Eifersucht wissen Sie, und ich muß Sie fragen was das zu bedeuten hat.« Mit drohendem Blick und hochrother Wange trat sie mir einige Schritte näher. »Will er Sie vielleicht auch auf die Bühne bringen?« fuhr sie fort.

»O nein.«

»Auch nicht verliebt in Sie — was?«

Unter anderen Umständen als die obwaltenden es waren würde ich der Dirne die Thür gewiesen haben. In meiner gegenwärtigen Lage aber und in dem kritischen Moment war die bloße Gegenwart eines menschlichen Wesens schon ein Trost für mich.

Selbst dieses Mädchen mit seinen aberwitzigen Fragen und seinem rohen Benehmen war eine willkommene Störerin meiner Einsamkeit; sie bot mir eine Zuflucht vor mir selbst.

»Ihre Frage ist gerade nicht sehr höflich,« sagte ich. »Dennoch entschuldige ich sie. Es ist Ihnen ohne Zweifel unbekannt daß ich verheirathet bin.«

»Ach! Als wenn das etwas damit zu thun hätte!« entgegnete sie. »Verheirathet oder unverheirathet das ist dem Major alles egal. Der alte unverschämte Drache, der sich Lady Clarinda nennt ist auch verheirathet, und dennoch schickt sie ihm dreimal wöchentlich ihre verdammten Bouquets. Es ist nicht etwa, weil ich mir etwas aus dem alten Narren mache! Er hat mich aber um meine Stellung auf dem Bahnhof gebracht und meine Zukunft liegt nun in seiner Hand; da muß man sich um seine Angelegenheiten bekümmern und nicht dulden, daß sich andere Frauenzimmer dazwischen drängen. Das ist es, wo mich der Schuh drückt verstehen Sie mich? Das kann mir doch nicht gefallen, daß ich Sie so allein hier herumwirthschaften sehe. Keine Entschuldigungen bitte! Erst ausreden lassen! Ich will wissen was Sie hier zu suchen haben! Wie sind Sie mit dem Major zusammengekommen? Ich habe ihn früher nie von Ihnen sprechen hören!«

Unter der rauhen Oberfläche von Rohheit und Selbstsucht war bei diesem Mädchen doch eine gewisse Offenheit und Freiheit bemerkbar, welche nicht unerheblich zu ihren Gunsten sprach. Ich antwortete ihr ebenso frei und offen wie sie mich gefragt.

»Major Fitz-David ist ein alter Freund meines Gatten,« sagte ich, »deshalb hat er mir erlaubt hier in diesem Zimmer. . . «

Ich unterbrach mich, weil ich nicht wußte, durch welche Beschäftigungen ich meine Anwesenheit motiviren sollte und welche zugleich geeignet waren meine eifersüchtige Gesellschafterin zu beruhigen.

»Nun was hat er Ihnen in diesem Zimmer erlaubt?« fragte sie ungeduldig.

Ihr Auge fiel auf die kurze Leiter, die gegen das Repositorium lehnte und neben welcher ich noch stand.

»Sie wollen Sich wohl ein Buch holen?« begann das Mädchen wieder.

»Ja,« sagte ich, darauf eingehend. »Ich will mir ein Buch holen.«

»Haben Sie es noch nicht gefunden?«

»Nein!«

Sie blickte mich scharf an, als ob sie in meinen Zügen lesen wollte, ob ich die Wahrheit sprach oder nicht.«

»Sie scheinen ein gutes Frauenzimmer zu sein,« sagte sie nach kurzer Ueberlegung. »Sie haben nichts Verdächtiges in Ihrem Gesicht. Wenn ich kann, will ich Ihnen helfen. Ich habe in diesen Büchern schon tüchtig herumrumort und weiß besser in ihnen Bescheid als Sie Was für ein Buch wünschen Sie?«

Als sie jene Frage that bemerkte sie zum ersten Mal das Bouquet von Lady Clarinda, das noch auf derselben Stelle war, wo der Major es hingelegt. Mich und die Bücher gänzlich vergessend, stürmte das seltsame Mädchen wie eine Furie auf die Blumen los und trat sie so lange mit Füßen bis das Bouquet ganz breit gedrückt war.

»So!« schrie sie mit gellender Stimme »Wenn Lady Clarinda hier wäre würde ich sie ebenso behandelt haben.«

»Was wird aber der Major dazu sagen?« fragte ich.

»Das ist mir ganz gleichgültig! Glauben Sie vielleicht daß ich mich vor ihm fürchte? Erst vorige Woche habe ich solch’ Ding da oben entzwei geschmissen und auch nur wegen Lady Clarinda’s Blumen!«

Sie deutete bei diesen Worten nach der bekannten Lücke auf dem obersten Brett des Repositoriums dicht am Fenster. Mein Herz begann sofort heftig zu klopfen als meine Augen der Richtung ihres Fingers folgten. Sie also hatte die Vase zerbrochen! Sollte die Entdeckung meines Geheimnisses durch dieses Mädchen angebahnt werden? Ich hatte kein Wort der Erwiderung für sie; all’ mein Denken war jetzt in meine Blicke gelegt.

»Ja!« sagte sie. »Da stand das Ding. Er weiß, wie ich die Blumen hasse, deshalb stellte er das Bouquet so hoch in jene Vase, damit ich es nicht erreichen sollte. Es war ein Frauengesicht auf das Porzellan gemalt und er erzählte mir, daß es ihr Antlitz wäre; sah ihr aber nicht ähnlicher als ich selbst. Ich befand mich in solcher Wuth, daß ich das Buch, in welchem ich gerade las, nach dem verhaßten Gesicht auf der Vase warf. Ich hatte gut getroffen die Vase fiel herunter, und kracht zerbrach sie auf den Dielen. Ach! was fällt mir denn da eben ein! Sollte das vielleicht das Buch gewesen sein nach dem Sie suchen? Sie sind wohl wie ich? Sie lesen auch wohl gerne Gerichtsverhandlungen?«

Gerichtsverhandlungen? Hatte ich denn recht gehört? Ja wohl, sie hatte es ja klar und deutlich ausgesprochen.

Ich antwortete durch ein bejahendes Nicken meines Kopfes. Ich war noch immer sprachlos. Das Mädchen schlenderte in ihrer kühlen Manier nach dem Kamin nahm die Feuerzange und kehrte mit derselben zum Repositorium zurück.

»Hier muß das Buch hingefallen sein,« sagte sie — »in den Raum zwischen dem Bücherschab und der Wand. Ich werde es gleich herausholen.«

Ich wartete ohne eine Muskel zu bewegen ohne ein Wort zu äußern. Nach weniger als einer Minute kam sie auf mich zu geschritten in der einen Hand die Feuerzange in der andern das Buch.

»Ist das der Band, den Sie suchen?« sagte sie. »Machen Sie es auf und lesen Sie den Titel.

Ich nahm ihr das Buch aus der Hand.

»Es ist ganz furchtbar interessant,« fuhr sie fort. »Ich habe es schon dreimal durchgelesen. Sie mögen es mir glauben oder nicht. Und wenn die Leute noch so viel reden, ich für meine Person glaube doch, daß er es gewesen ist.«

Gewesen ist? Was gewesen ist? Wovon plauderte denn eigentlich das Mädchen? Ich faßte einen gewaltsamen Entschluß, sie danach zu fragen »Was meinen Sie, wovon sprechen Sie denn?« brachte ich mühsam heraus.

Sie schien alle Geduld mit mir zu verlieren Sie riß mir das Buch aus der Hand, schlug den Titel auf und hielt denselben gegen das Licht.

»Natürlich!« rief sie. »Ich habe mich nicht geirrt. Sie sind aber auch so unverständig wie ein kleines Kind.«

Dann hielt sie mir das Buch vor die Augen.

»Da! Ist das das Buch oder ist es nicht das Buch?«

Ich las die ersten Zeilen des Titelblattes:

Ausführlicher Bericht
über
die Verhandlungen
in Untersuchungssachen
gegen
Eustace Macallan,

Ich stutzte und sah das Mädchen an Sie fuhr mit einem Schrei des Entsetzens von mir zurück. Ich blickte noch einmal auf den Titel und las die Schlußzeilen:

beschuldigt des Verbrechens,
seine Frau
vergiftet zu haben.

Die Sinne schwanden mir, und ich sank in Ohnmacht.



Kapiteltrenner

Elftes Kapitel.

Die Rückkehr zum Leben.

Mein erstes Gefühl, als ich wieder zu mir kam, war das Gefühl heftigen Schmerzes, als wenn jeder Nerv meines Körpers verwundet worden sei. Mein ganzes Wesen zitterte und bebte unter dem dumpfen schrecklichen Protest der Natur gegen die Anstrengung, mich in’s Leben zurückzurufen. Ich würde meine Seligkeit darum gegeben haben hätte ich mich so recht ausweinen, hätte ich Gott bitten können, mich dem Tode wieder in den Arm zu legen Wie lange diese sprachlose Agonie mich gefangen hielt, vermag ich nicht zu sagen. Nach einer ganzen Weile hörte ich wieder meinen eigenen Athem; ich fühlte, wie meine Hände sich schwach und mechanisch bewegten gleich denen eines Kindes. Ich öffnete die Augen und blickte um mich.

Die erste Person die ich zu Gesicht bekam, war ein Fremder. Er trat langsam von mir fort und winkte anscheinend einer andern Person zu, die ich nicht sehen konnte.

Langsam und, wie es schien, widerwillig näherte sich jene andere Person dem Sopha auf welchem ich lag. Ein schwacher Freudenschrei entrang sich meiner Brust; ich machte einen Versuch, ihm meine Hände entgegenzustrecken jene andere Person, die sich mir näherte, war mein Gatte.

Ich blickte ihn fest an. Er gab mir meinen Blick nicht zurück. Die Augen zu Boden geheftet mit einer seltsamen Mischung von Kummer und Verwirrung auf seinem Antlitz begab er sich ebenfalls wieder aus meinem Gesichtskreis. Der unbekannte Mann, den ich zuerst bemerkt hatte, folgte ihm aus dem Zimmer.

»Eustace!« rief ich ihm mit schwacher Stimme nach. Er antwortete weder, noch blickte er sich nach mir um. Mit einer Anstrengung bewegte ich den Kopf auf dem Kissen um auch nach der andern Seite hin sehen zu können. Da trat mir ein anderes bekanntes Antlitz entgegen. Mein guter alter Benjamin saß auf der andern Seite des Sophas und betrachtete mich mit Thränen in den Augen.

Als ich ihn anblickte stand er auf und nahm schweigend meine Hand.

»Wo ist Eustace?« fragte ich. »Weshalb hat er mich verlassen?«

Ich war noch sehr schwach. Als ich jene Frage that wanderten meine Augen mechanisch durch das Zimmer. Ich erblickte den Major Fitz-David. Ich sah den Tisch, an welchem die Primadonna das Buch geöffnet hatte, um es mir zu zeigen. Ich sah auch das Mädchen selbst wie es allein in einer Ecke saß und, das Taschentuch vor den Augen leise weinte. Bei ihrem Anblick kehrte jenes entsetzliche Titelblatt mit allen seinen Schrecken in meine Erinnerung zurück.

Das einzige Gefühl, welches jetzt meine Seele beherrschte, war die Sehnsucht meinen Gatten bei mir zu haben, mich in seine Arme zu werfen und ihm zu sagen, wie fest ich an seine Unschuld glaubte und wie sehr ich ihn liebte. Ich ergriff eine von Benjamins Händen »Bringen Sie ihn mir zurück!« rief ich wild, »wo ist er? Helfen Sie mir auf!«

Eine fremde Stimme antwortete mir fest aber freundlich: »Fassen Sie Sich erst etwas mehr, Madame Mr. Woodville wartet im anstoßenden Zimmer, bis Sie Ihre Kraft wiedergewonnen haben werden.«

Ich blickte den Sprecher an und erkannte in ihm den Herrn der meinen Gatten aus dem Zimmer begleitet. Weshalb war er allein zurückgekommen? Weshalb war Eustace nicht bei mir wie die Anderen? Ich versuchte aufzustehen; aber der Fremde drückte mich leise wieder auf das Kissen zurück.

»Sie müssen noch ein wenig ruhen,« sagte er. »Sie müssen ein Glas Wein trinken wenn Sie nicht gewärtigen wollen, in Ihre Ohnmacht zurückzusinken.

Der alte Benjamin beugte sich über mich und flüsterte mir einige Worte der Erklärung zu.

»Es ist der Doctor mein Kind. »Sie müssen seine Vorschriften befolgen.«

Der Doctor? Sie hatten den Doctor gerufen, um mir behilflich zu sein? Ich begann einzusehen, daß meine Ohnmacht doch ernsterer Natur gewesen sein müsse, als es sonst in der Regel bei Damen der Fall zu sein pflegt.

»Weshalb ließen Sie meinen Gatten aus dem Zimmer gehen?« fragte ich den Arzt. »Wenn ich nicht zu ihm kann weshalb bringen Sie ihn nicht zu mir?«

Der Doctor schien in Verlegenheit zu sein was er mir antworten sollte. Er blickte auf Benjamin und sagte: »Wollen Sie nicht zu Mrs. Woodville sprechen?«

Benjamin seinerseits blickte wieder auf den Major Fitz-David und bat diesen die Aufgabe zu übernehmen. Der Major bedeutete Beide, uns zu verlassen. Sie folgten seiner Aufforderung und begaben sich in das vordere Zimmer. Als die Thür hinter ihnen zugefallen war, erhob sich das Mädchen, welches mir auf so seltsame Weise das Geheimniß meines Gatten enthüllt hatte, aus seiner Ecke und näherte sich dem Sopha.

»Es ist wohl besser, wenn ich mich auch entferne?« redete sie den Major Fitz-David an.

»Wenn Sie so gut sein wollen,« entgegnete dieser mit kühlem Ton. Sie schüttelte den Kopf und drehte ihm indignirt den Rücken zu. »Ich muß ein Wort für mich reden!« rief das seltsame Geschöpf mit einem hysterischen Ausbruch von Energie »Ich muß ein Wort reden oder ich platze.«

Mit dieser außerordentlichen Vorrede trat sie plötzlich auf mich zu und überschüttete mich mit einem wahren Strom von Worten.

»Sie hören, wie der Major zu mir spricht!« begann sie. »Er macht mich armes unschuldiges Geschöpf für alles verantwortlich, was geschehen ist. Ich bin so schuldlos wie ein neugeborenes Kind. Ich dachte, Sie wollten das Buch haben. Ich weiß noch jetzt nicht weshalb Sie in Ohnmacht sanken, als ich Ihnen den Titel zeigte; aber der Major schilt mich. Ich bin nicht von der schwachherzigen Sorte, die so leicht in Ohnmacht fällt; aber ich fühle es, kann ich Ihnen sagen. Ich bin von anständigen Eltern müssen Sie wissen. Mein Name ist Hoighty. Ich besitze ein ganz Theil Selbstachtung; aber die ist verletzt worden. Ich kann es nicht leiden wenn ich unverdient getadelt werde. Sie verdienen den Tadel, aber nicht ich. Sagten Sie mir nicht daß Sie nach einem Buch suchten? Und gab ich es Ihnen nicht mit den besten Absichten? Das können Sie doch nicht leugnen seit Sie wieder zur Besinnung gekommen sind. Nun könnten Sie doch auch ein gutes Wort einlegen für ein armes Mädchen das zu Tode gequält wird mit Singen und Sprachen lernen und wer weiß was allem — für ein armes Mädchen das Niemand hat, der sich ihrer annimmt. Ich bin ebenso anständig wie Sie, können Sie glauben Mein Name ist Hoighty — Miß Hoighty. Meine Eltern sind Geschäftsleute und meine Mama hat bessere Tage gesehen und sich in der besten Gesellschaft bewegt.«

Hier führte Miß Hoighty noch einmal das Taschentuch an die Augen und brach in einen Strom von Thränen aus.

Es war entschiedenes Unrecht, sie für das Geschehene verantwortlich zu machen. Ich bat daher den Major Fitz-David, wieder freundlich gegen das Kind zu sein und ihm gut zuzureden. Was er zu ihr sprach, konnte ich nicht hören. Schließlich schien ihm aber doch sein Trosteswerk gelungen zu sein, denn sie ließ sich von ihm die Hand küssen, und dann führte er sie aus dem Zimmer, als wenn sie eine Herzogin gewesen wäre.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen wie sehr ich das Geschehene bedaure,« sagte der Major, zu meinem Sopha zurückkehrend. »Sie werden sich erinnern daß ich Sie warnte. Und dennoch, hätte ich vorhersehen können —«

Ich ließ ihn nicht weiter fortfahren. Keine menschliche Vorsicht wäre im Stande gewesen, das Geschehene zu verhindern. Außerdem, so entsetzlich die Entdeckung auch gewesen war, so sehr ich unter derselben gelitten und noch litt ich würde sie dennoch nicht gegen das Dunkel zurückgetauscht haben, in dem ich mich früher befand. Das erzählte ich dem Major. Dann lenkte ich die Unterhaltung auf meinen Gatten zurück.

»Wie kam er hierher?« fragte ich.

»Mit Mr. Benjamin kurz nachdem ich selbst heimgekommen.« entgegnete der Major.

»Und der Arzt?«

»Ich schickte sofort nach ihm, als ich Sie in Ohnmacht liegend fand.«

»Was brachte Eustace hierher? Hatte er mich im Hotel vermißt?«

»Ja. Er kehrte früher zurück, als er beabsichtigt hatte.«

»Glaubte er, daß ich hier sein könne? Kam er direct vom Hotel zu Ihnen?«

»Nein. Er scheint erst zu Mr. Benjamin gegangen zu sein und ihn befragt zu haben. In dessen Gesellschaft kam er hierher.

Diese kurze Erklärung genügte mir vollständig. Die Anwesenheit meines Gatten im Hause des Majors war mir erklärt. Sein seltsames Benehmen aber, als er das Zimmer in demselben Augenblick verließ, wo ich wieder zu mir selbst kam, bedurfte noch der Erörterung. Major Fitz-David zeigte eine sehr verlegene Miene, als ich diese Frage an ihn richtete.

»Ich weiß wirklich nicht, I was ich Ihnen sagen soll,« entgegnete er. »Eustace hat mich in Erstaunen gesetzt und enttäuscht.«

Er sprach sehr ernst Seine Blicke erzählten mir mehr als seine Worte; seine Blicke erschreckten mich.

»Hat Eustace Ihnen Vorwürfe gemacht?« fragte ich.

»O nein!«

»Er sieht ein daß Sie ihr Versprechen nicht gebrochen haben?«

»Gewiß. Meine junge Sängerin erzählte dem Doctor auf das Genaueste was geschehen, und der Doctor wiederholte es in ihrer Gegenwart Eustace.«

»Sah der Doctor das Buch?«

»Weder der Doctor, noch Mr. Benjamin. Ich habe es eingeschlossen. Das Geheimniß ist immer noch so streng bewahrt wie früher. Benjamin scheint allerdings Verdacht zu hegen; aber der Doctor und Miß Hoighty haben keine Ahnung von der Ursache Ihrer Ohnmacht. Beide glauben, daß Sie nervösen Anfällen unterthan sind, und daß der Name Ihres Gatten wirklich Mr. Woodville ist. Ich habe gethan, was nur der treueste Freund thun konnte, um Eustace zu schonen, dessen ungeachtet tadelt er mich, weil ich Sie mein Haus betreten ließ. Und was noch weit schlimmer, er erklärt daß dies traurige Ereigniß Sie ihm entfremdet habe. Nun ist es mit meinem Eheleben zu Ende, sagte er zu mir, denn sie weiß nun, daß ich der Mann bin, der zu Edinburgh vor Gericht stand, unter der Anklage, sein Weib vergiftet zu haben.«

Ich sprang entsetzt vom Sopha.

»Großer Gott!« rief ich aus, »glaubt Eustace etwa, daß ich seine Unschuld bezweifle?«

»Er stellt geradezu die Möglichkeit in Abrede, daß Sie oder irgend Jemand seine Unschuld glauben könnte,« entgegnete der Major.

»Helfen Sie mir zu der Thür,« sagte ich.

»Wo ist er? Ich muß und will ihn sehen!«

Ich sank erschöpft auf das Sopha zurück, als ich diese Worte gesprochen.

Major Fitz-David goß ein Glas Wein ein und bat mich, es zu trinken.

»Sie sollen ihn sehen,« sagte er. »Ich verspreche es Ihnen. Der Doctor hat ihm verboten, das Haus zu verlassen, ehe er Sie gesehen. Warten Sie nur noch ein wenig, bis Sie Sich gekräftigt haben.«

Mir blieb nichts anders übrig, als ihm zu gehorchen. O diese unglückselige Hilflosigkeit auf dem Sopha! »Bitte, bringen Sie ihn hierher,« sagte ich.

»Ja, wenn das in meiner Kraft stände!« entgegnete der Major traurig. »Was könnte ich, was könnte irgend ein Anderer mit einem Manne beginnen, der im Stande war, Sie zu verlassen, als Sie die Augen wieder aufschlugen! Ich versuchte seinen Zweifel zu erschüttern, den er in Ihren Glauben an seine Unschuld gesetzt; ich wendete alle Mittel an, ihn umzustimmen, doch ganz vergebens. Er hatte nur eine Antwort auf das alles. Er verwies mich auf das schottische Verdict.«

»Das schottische Verdict?« wiederholte ich. »Was ist das?«

Der Major blickte mich bei dieser Frage erstaunt an.

»Haben Sie wirklich nie etwas von der Untersuchung gehört?« sagte er.

»Niemals.«

»Ich wunderte mich,« fuhr er fort, »daß Sie bei der Entdeckung des wahren Namens Ihres Gatten nicht an jenes entsetzliche Ereigniß erinnert worden waren. Es ist noch nicht drei Jahre her, daß ganz England von Ihrem Gatten sprach. Man kann den armen Menschen wahrlich nicht verdammen, daß er unter einem andern Namen Schutz vor der allgemeinen Aufmerksamkeit suchte. Wo sind Sie denn aber zu jener Zeit gewesen?«

Ich dachte einen Augenblick nach.

»Ich glaube diese seltsame Unwissenheit meinerseits vollständig erklären zu können. Vor drei Jahren lebte mein Vater noch; wir bewohnten ein Landhaus in Italien, oben in den Bergen bei Siena. Wir bekamen niemals eine englische Zeitung zu Gesicht, noch begegneten wir einem englischen Reisenden. Es mag auch möglich sein, daß in irgend einem der Briefe, die mein Vater aus England erhielt, des Prozesses erwähnt wurde. Wenn dem so war, sprach er mir nicht davon, und wenn er es gethan, habe ich es jedenfalls gleich nachher vergessen. Bitte, erzählen Sie mir aber, in welcher Beziehung steht das Verdict mit meines Gatten entsetzlichem Zweifel an uns? Eustace ist ein freier Mann. Das Verdict lautete natürlich auf Nicht schuldig?«

Major Fitz-David schüttelte traurig den Kopf.

»Eustace stand in Schottland vor Gericht,« sagte er.

»Dem schottischen Gesetz ist ein Verdict gestattet, welches, so viel ich weiß, von keinem Gesetz irgend eines civilisirten Volkes erlaubt wird. Wenn der Gerichtshof in Zweifel ist, ob er verdammen oder freisprechen soll, ist es der schottischen Jury gestattet, diesen Zweifel in Form eines Mittelweges auszudrücken. Wenn auf der einen Seite nicht Evidenz genug für das Schuldig und auf der andern Seite nicht Evidenz genug für das Nichtschuldig ist, dann ziehen sich die Richter durch das Verdict »Nicht bewiesen« aus der Verlegenheit.

»War das das Verdict in meines Mannes Prozeß?« fragte ich.

»Ja.«

»Der Gerichtshof war also nicht ganz überzeugt, daß mein Mann schuldig, und auch nicht ganz, daß er unschuldig sei. Ist das der Sinn des schottischen Verdict?«

»Allerdings. Seit drei Jahren ist der Zweifel des Gerichtshofes an der Unschuld des Vorgeladenen vom Publikum als authentisch angenommen worden.«

O mein armer unschuldiger Märtyrer! Nun erst verstand ich ihn ganz. Der falsche Name, unter dem er mich geheirathet, die entsetzlichen Worte, die er sprach, als er mich warnte, sein Geheimniß zu bewahren, alles das trat jetzt dicht an meine Sympathien heran. Ich erhob mich noch einmal von dem Sopha, gestärkt durch einen waghalsigen Entschluß, den das schottische Verdict in mir erzeugt, einen Entschluß, so verzweifelt und so heilig zugleich, daß er für den ersten Augenblicks nur für meines Gatten Ohr bestimmt sein konnte.

»Führen Sie mich zu Eustace,« sagte ich.

»Ich bin stark genug, alles zu ertragen.«

Nachdem der Major noch einen beobachtenden Blick auf mich geworfen, bot er mir seinen Arm und führte mich aus dem Zimmer.



Kapiteltrenner

Zwölftes Kapitel.

Das schottische Verdict.

Wir gingen bis zu dem entferntesten Winkel der Halle. Major Fitz-David öffnete die Thür eines langen schmalen Zimmers, das einen Seitenflügel des Hauses bildete und als Rauchzimmer benutzt wurde.

Mein Gatte befand sich allein in dem Gemach. Er saß in Gedanken versunken am Kamin. Als ich eintrat, sprang er auf und blickte mich schweigend an. Der Major machte leise die Thür wieder zu und entfernte sich. Eustace kam mir keinen Schritt entgegen. Ich rannte auf ihn zu, schlang meine Arme um seinen Hals und küßte ihn.

Die Umarmung wurde nicht erwidert, der Kuß nicht zurückgegeben. Er duldete meine Liebkosung, weiter nichts.

»Eustace!« sagte ich. »Ich liebte Dich niemals mehr, als ich Dich in diesem Augenblick liebe!«

Er befreite sich sanft aus meiner Umarmung. Dann deutete er, wie ein Fremder es gethan haben würde, aus einen Stuhl.

»Ich danke Dir, Valeria,« antwortete er mit kaltem, gemessenem Ton; »nach dem, was geschehen, konntest Du mir weder weniger sagen, noch mehr; ich danke Dir.«

Wir standen vor dem Kamin. Er verließ mich und ging mit gesenktem Haupt durch das Zimmer, wahrscheinlich in der Absicht, mich noch ein Mal zu fliehen. Ich folgte ihm und stellte mich zwischen ihn und die Thür.

»Weshalb verläßt Du mich?« sagte ich. »Weshalb sprichst Du zu mir in dieser grausamen Art? Habe ich Dich beleidigt, Eustace? Wenn dem so ist, bitte ich Dich, mir zu vergeben.«

»Es ist an mir, Dich um Vergebung zu bitten,« entgegnete er; »verzeihe mir, Valeria, daß ich Dich zu meinem Weibe machte.«

Er sprach diese Worte mit einer so hoffnungslosen demüthigen Stimme, daß sie Einem das Herz brechen konnte.

»Eustace, sieh mich an!« sagte ich, die Hand auf seine Brust legend.

Langsam hob er die Augen zu meinem Antlitz empor, Augen, kalt und klar und thränenlos, die mich in trauriger Resignation in unwandelbarer Verzweiflung anblickten. Mein Blut erstarrte ebenfalls unter diesem Blick.

»Ist es möglich,« sagte ich, »daß Du meinen Glauben an Deine Unschuld bezweifelst?«

Er ließ die Frage unbeantwortet und stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Armes Weib!« sagte er, wie ein Fremder gesagt haben könnte, der mich bemitleidete. »Armes Weib!«

Mein Herz schwoll mir, als wenn es bersten wollte. Ich nahm meine Hand von seiner Brust und legte sie ihm auf die Schulter, um einen Stützpunkt zu gewinnen.

»Ich verlange nicht Dein Mitleid, Eustace, sondern Deine Gerechtigkeit. Du läßt mir keine Gerechtigkeit widerfahren. Wenn Du mir in den Tagen, wo wir einander unsere Liebe gestanden Dein volles Vertrauen geschenkt, ja wenn Du mir mehr gesagt hättest, als ich jetzt erfahren so wahr der Himmel mein Zeuge, ich hätte Dich dennoch geheirathet! Bezweifelst Du nun noch, daß ich Dich für unschuldig halte?«

»Ich bezweifle es nicht,« sagte er. »Alle Deine Eingebungen sind groß und ehrenwerth, Valeria. Du fühlst und sprichst edel. Tadle mich nicht, wenn ich weiter sehe, als Du es thust, mein Kind, wenn ich in die grausame Zukunft blicke.«

»Die grausame Zukunft?« wiederholte ich. »Was meinst Du damit?«

»Du glaubst an meine Unschuld, Valeria. Der Gerichtshof, vor dem ich in Untersuchung stand, bezweifelte diese Unschuld und machte seine Meinung identisch mit der des Publikums. Welchen Grund hast Du dem Verdict gegenüber für Deine Ansicht, daß ich unschuldig sei?«

»Ich bedarf keines Grundes! Ich glaube an Dich trotz des Gerichtshofes und trotz des Verdicts.«

»Und werden Deine Freunde mit Dir übereinstimmen? Wenn Dein Onkel und Deine Tante früher oder später das Geschehene erfahren was werden sie dazu sagen? Sie werden sagen es hat einen schlechten Anfang genommen er verbarg es vor unserer Nichte, daß er schon ein Mal verheirathet gewesen, er ehelichte sie unter falschem Namen. Er mag behaupten daß er unschuldig ist; wir haben keinen Beweis dafür als sein anzuzweifelndes Wort. Der Gerichtshof hat das Verdict »Nicht bewiesen« abgegeben. »Nicht bewiesen« kann uns nicht genügen. Wenn der Gerichtshof ihm Unrecht gethan, wenn Eustace unschuldig ist, möge er es beweisen. Das ist es, was Deine Verwandten denken und sagen würden. Die Zeit wird kommen, Valeria wo Du selbst Du, fühlen wirst, daß Jene Recht hatten und daß Du Dich in einer Täuschung befandest.«

»Die Zeit wird niemals kommen!« entgegnete ich warm. »Du thust mir Unrecht, Du beleidigst mich, indem Du das für möglich hältst.«

Er nahm meine Hand von seiner Schulter und trat mit bitterem Lächeln einen Schritt zurück.

»Wir sind nur wenige Tage verheirathet gewesen Valeria. Deine Liebe für mich ist noch neu und jung. Die Zeit, welche alles abschwächt, wird auch die Gluth dieser Liebe mildern.«

»Niemals, niemals!«

Er zog sich noch weiter von mir zurück.

»Blicke um Dich in der Welt!« sagte er.

»Selbst bei den glücklichsten Ehepaaren findet man Stunden Minuten in denen eine Wolke über den klaren Himmel zieht. Diese Stunden und Minuten sind unausbleiblich und wenn sie auch für uns kommen dann werden die Zweifel und Befürchtungen denen Du jetzt noch fern stehst, den Weg in Dein Herz und in Deine Seele finden. Wenn die Wolken sich auch über unserem Eheleben aufthürmen, wenn mein erstes hartes Wort gefallen ist, das Deine schnelle Entgegnung hervorrief, dann in der Einsamkeit Deines Zimmers, in der Stille der schlaflosen Nacht wirst Du an meines ersten Weibes elendes Ende denken. Es wird Dir vorschweben daß ich dafür zur Verantwortung gezogen und daß meine Unschuld nicht bewiesen wurde. Du wirst Dir sagen: bei der Ersten begann er auch vielleicht nur mit harten Worten welche eine rasche Entgegnung hervorriefen. Wird es eines Tages mit mir enden wie der Gerichtshof fürchtete, daß es mit Jener geendet? Schlimme Fragen für ein junges Weib! Im Anfang wirst Du vor deren Beantwortung zurückschrecken, Du wirst einzuschlafen versuchen; aber wenn der nächste Morgen kommt, wirst Du auf Deiner Hut sein und ich werde es bemerken und in meinem innersten Herzen wissen was es bedeutet. Erbittert durch diese Kenntniß, wird mein nächstes hartes Wort ein noch härteres sein und Deine zu Boden gedrückten Zweifel werden erst leise, dann immer mehr und mehr ihre giftigen Häupter erheben. Dein Gatte war angeklagt, sein Weib vergiftet zu haben und seine Unschuld hat niemals bewiesen werden können. Da mischt sich schon das Material für die Hölle im häuslichen Leben. Kann ich jemals an Deinem Bett sitzen wenn Du Dich krank oder unwohl befindest, ohne Dich selbst bei den unschuldigsten Dingen daran zu erinnern was sich an jenem andern Bett ereignete, mit jener andern Frau, die ich vor Dir geheirathet? Wenn ich Dir einen Löffel Medizin eingieße, begehe ich eine verdächtige Handlung, denn sie sagten ich hätte sie vergiftet in ihrer Medizin. Wenn ich Dir eine Tasse Thee bringe, belebe ich die Erinnerung eines entsetzlichen Zweifels; denn sie sagten ich hätte Arsenik in ihre Tasse geschüttet. Küsse ich Dich, wenn ich das Zimmer verlasse, gebe ich Dir Gelegenheit, daran zu denken daß man mich beschuldigte, sie ebenfalls geküßt zu haben, um auf mich ein gutes, auf die zurückbleibende Pflegerin ein schlechtes Licht zu werfen. Können wir unter solchen Bedingungen mit einander leben? Kein Sterblicher würde im Stande sein das Elend eines solchen Daseins zu ertragen. Erst heute sagte ich Dir: wenn Du noch einen Schritt weiter in dieser Sache thust, dann ist es mit unserem Glück zu Ende für den Rest des Lebens. Du hast diesen Schritt gethan und das Ende unseres Glückes ist gekommen. Der tödtliche Wurm sitzt in unserm Herzen und wird es langsam oder schnell zu Tode nagen.«

Soweit hatte ich ihm gezwungen zugehört. Bei den letzten Pinselstrichen die er an dem Gemälde unserer Zukunft machte, konnte ich es nicht länger ertragen.

»Du sprichst entsetzliche Worte,« sagte ich.

»Noch so jung an Jahren sollten wir Beide schon mit Liebe und Hoffnung abgerechnet haben? Es heißt Liebe und Hoffnung schmähen wenn man diesen Ausspruch thut!«

»Warte, bis Du den Prozeß gelesen hast,« antwortete er. »Denn Du wirst ihn doch lesen?«

»Jedes Wort!«

»Du wirst aus dem Prozeß ebenso wenig Trost schöpfen wie das ganze Publikum gethan. Meine erste Frau starb vergiftet, und der Gerichtshof sprach mich nicht von dem Verdacht frei, die That begangen zu haben. So lange Du mein Geheimniß nicht kanntest, so lange lag das Glück noch in unserm Bereich. Jetzt, da Du es weißt, ist es uns für immer entschwunden.«

»Nein,« sagte ich. »Jetzt, seit ich weiß, hat unser Eheleben erst begonnen begonnen mit einem neuen Grunde für die Ergebenheit Deiner Frau, mit einem neuen, edlen Reizmittel für Deines Weibes Liebe!«

»Was meinst Du damit?«

Ich trat zu ihm und nahm seine Hand.

»Was hast Du mir von dem Urtheil der Welt erzählt?« fragte ich, »was hast Du mir erzählt von dem Urtheil meiner Freunde? Der Urtheilsspruch »Nicht bewiesen« wurde ihnen nicht genügen. Wenn der Gerichtshof ihm Unrecht gethan wenn Eustace nicht schuldig ist, möge er es beweisen. Das waren die Worte, die Du meinen Freunden in den Mund legtest. Ich adoptire sie als die meinigen Ich sage: »Nicht bewiesen« genügt auch mir nicht. Mache Dein Recht klar, Eustace, an dem Verdict »Nichtschuldig!« Deshalb hast Du drei Jahre vergehen lassen ohne es zu thun? Soll ich Dir sagen weshalb? Du wartetest auf Dein Weib, Dir zu helfen Hier ist sie jetzt, zu jedem Beistand bereit mit Herz und Seele. Hier ist sie, von nur einer Lebensaufgabe durchdrungen der Welt und dem schottischen Gerichtshofe zu zeigen, daß Eustace Macallan unschuldig ist!«

Die Worte hatten mich sehr erregt; meine Pulse klopften meine Stimme hallte laut durch den Raum. Hatte ich ihn ebenfalls erwärmt?

»Lies den Prozeß,« das war seine ganze Antwort.

Ich ergriff ihn beim Arm. In meiner Indignation und Verzweiflung schüttelte ich ihn mit meiner ganzen Kraft. Gott vergebe es mir, ich hätte ihn schlagen können für den Ton, in dem er zu mir gesprochen für den Blick, den er mir zugeworfen.

»Ich glaube Dir gesagt zu haben daß ich den Prozeß lesen werde,« sagte ich. »Ich werde ihn mit Dir zusammen lesen Zeile für Zeile. Ein nicht zu entschuldigender Irrthum wird vorgefallen sein. Zu Deinen Gunsten sprechende Umstände sind nicht aufgefunden worden. Das Zeugenverhör ist ein mangelhaftes gewesen. Zu Deinen Ungunsten sprechende Umstände wurden zu leicht genommen Eustace! In meiner Seele lebt die feste Ueberzeugung, daß von Dir oder von Anderen irgend ein schwer ins Gewicht fallendes Versehen begangen ist. Als ich das fatale Buch in die Hand bekam, war es mein erster Entschluß, das Verdict des Gerichtshofes zu corrigiren. Wir wollen das zusammen thun wir müssen es thun um unseretwillen, um unserer Kinder willen wenn wir mit ihnen gesegnet werden sollten O sieh mich nicht mit diesen kalten Augen an! Sprich nicht zu mir in diesem harten Ton!«

Ich hatte ihn noch immer nicht erwärmt. In seine nächsten Worte war ein wenig Mitleid gemischt, das war alles.

»Meine Vertheidigung wurde von den größten Juristen des Landes geführt,« sagte er. »Nachdem diese Männer vergebens ihre Schuldigkeit gethan meine liebe Valeria was bleibt uns da noch zu thun übrig? Wir können uns nur unterwerfen und dulden!«

»Niemals!« rief ich. »Die größten Rechtsgelehrten sind auch nur Sterbliche; die größten Rechtsgelehrten haben auch schon Irrthümer begangen, weshalb sollten sie es nicht jetzt gethan haben?«

»Lies den Prozeß.«

Zum dritten Mal sprach er die entsetzlichen Worte und keines mehr.

Verzweifelnd über das Mißlingen meiner Versuche, ihn zu rühren ihn von meiner grenzenlosen Liebe und Ergebenheit zu überzeugen, fielen meine Gedanken auf den letzten Bundesgenossen den Major Fitz-David. In der Aufregung, in der ich mich befand, nahm ich keine Rücksicht darauf, daß der Major ebenfalls schon einen Mißerfolg gehabt. Dem entsetzlichen Factum gegenüber setzte ich noch immer eine große Hoffnung in seinen alten Freund.

»Warte einen Augenblick auf mich,« sagte ich. »Ich will noch ein anderes Urtheil hören.«

Ich verließ ihn und begab mich in das andere Zimmer. Major Fitz-David war nicht anwesend. Ich klopfte an die Verbindungsthür mit dem Vordergemach. Sie wurde sofort vom Major selbst geöffnet. Der Arzt war bereits gegangen Benjamin noch da.

»Wollen Sie mit Eustace sprechen?« begann ich. Bevor ich noch etwas hinzufügen konnte, hörte ich die Hausthür öffnen und sich wieder schließen. Der Major und Benjamin hörten es ebenfalls und blickten einander schweigend an.

Ehe mich der Major daran verhindern konnte, rannte ich zu dem Zimmer, in welchem ich Eustace zurückgelassen Es war leer. Mein Gatte hatte das Haus verlassen.



Kapiteltrenner

Dreizehntes Kapitel.

Die Entscheidung des Mannes.

Meine erste Eingebung war die, Eustace aus die Straße hinaus zu folgen.

Der Major und Benjamin setzten diesem Entschluß lebhaften Widerspruch entgegen. Ihre Berufung auf meinen gesunden Menschenverstand, meine Selbstachtung ging spurlos an mir vorüber.

Als sie mich jedoch baten, aus Mitleid für Eustace noch eine halbe Stunde zu warten ließ ich mich dazu bewegen. Wenn er binnen dieser Frist nicht zurückkehrte, versprachen sie mir, mich zum Hotel zu begleiten.

Was ich während dieser mir aufgedrungenen Zeit litt, können Worte nicht wiedergeben.

Benjamin war der erste, der mich fragte, was zwischen mir und meinem Gatten vorgegangen.

»Sie können ganz offen zu mir sprechen liebes Kind,« sagte er. »Ich weiß alles. Sie werden Sich entsinnen, daß ich gleich anfangs bei dem Namen Macallan stutzte. Jetzt habe ich mir Rechenschaft darüber gegeben.«

Dies hörend, erzählte ich ihnen rückhaltlos, was ich zu Eustace gesprochen und wie er mir geantwortet habe. Zu meiner unaussprechlichen Enttäuschung stellten sich Beide auf die Seite meines Mannes und sagten was er gesagt hatte: »Sie haben nicht den Prozeß gelesen.«

»Ich bedarf des Prozesses nicht,« entgegnete ich. »Ich weiß, daß er unschuldig ist. Weshalb ist seine Unschuld nicht bewiesen? Wenn der Prozeß mir erzählt, daß dies nicht geschehen könne, so verweigere ich es, dem Prozeß zu glauben. Wo ist das Buch, Major? Lassen Sie mich selbst sehen ob die Juristen seinem Weibe nichts zu thun übrig gelassen haben. Liebten sie ihn etwa, wie ich ihn liebe? Geben Sie mir das Buch!«

»Es wird sie nur von Neuem aufregen wenn ich ihr das Buch gebe,« sagte der Major, indem er Benjamin anblickte. »Sind Sie nicht auch meiner Meinung?«

Ich kam Benjamin's Antwort zuvor. »Wenn Sie mir meine Bitte verweigern Major,« sagte ich, »dann werden Sie mich zwingen zum nächsten Buchhändler zu gehen mit dem Auftrage, mir den Band zu verschaffen; denn ich bin fest entschlossen ihn zu lesen.«

Diesmal stand Benjamin ans meiner Seite.

»Schlimmer als es ist, kann es ja nicht werden,« sagte er. »Meine Ansicht ist, daß wir sie ihren eigenen Weg gehen lassen.«

Der Major stand auf und nahm das Buch aus der italienischen Chiffonnière, in die er es verschlossen hatte.

»Meine junge Sängerin erzählte mir, was sie Ihnen von ihrem neulichen Zornesausbruch mitgetheilt,« sagte er, mir den Band einhändigend. »Bis dahin wußte ich nicht, mit welchem Buche sie nach der Vase warf, die dort oben auf dem Repositorium stand. Als ich Sie allein ließ, glaubte ich, daß der Bericht über den Prozeß noch auf seiner gewohnten Stelle saß und es beschlich mich die Neugier, ob Sie wohl aus dem obersten Brett suchen würden. Die zerbrochene Vase vervollständigte einst ein Paar, welches ich von Ihrem Gatten und seiner ersten Frau wenige Wochen vor dem schrecklichen Tode der letzteren zum Geschenk erhielt. Schon als ich Sie die Fragmente jener Vase anblicken sah, empfand ich ein Vorgefühl, als wenn Sie der Entdeckung auf der Spur seien und ich glaube, ich verrieth mich in jenem Augenblick; Sie schienen das bemerkt zu haben.«

»Ich hatte es bemerkt, Major. Auch ich hatte eine schwache Ahnung, ich könne der Entdeckung auf den Fersen sein. Wollen Sie einmal nach der Uhr sehen? Ist dir halbe Stunde noch nicht verflossen?«

Meine Ungeduld hatte mich mißleitet, die Marter jener halben Stunde war noch nicht vollendet.

Langsam und immer langsamer schlichen die Minuten dahin, und keine brachte mir ein Zeichen von meines Gatten Wiederkehr. Wir versuchten die Unterhaltung wieder aufzunehmen; es war vergebens. Ein dunkles Vorgefühl lag auf meiner Seele. Je näher der Zeiger seinem Ziele rückte, desto mehr überkam mich der eisige Gedanke, daß unser Eheleben nun beendet, daß Eustace mir entflohen sei.

Der Major sah, was Benjamin entgangen war, daß meine Kraft unter der Marter des Wartens zu sinken begann.

»Kommen Sie!« sagte er. »Wir wollen nach dem Hotel gehen.«

Es fehlten höchstens noch fünf Minuten an der halben Stunde Ich dankte dem Major mit einem Blick, daß er mir diese erspart. Schweigend bestiegen wir ein Cab und fuhren nach dem Hotel.

Die Wirthin begegnete uns auf dem Flur. Eustace war nicht anwesend; aber ein Brief von ihm sollte oben auf dem Tisch liegen. Er war vor fünf Minuten durch einen Boten überbracht worden.

Athemlos rannte ich die Stufen empor; die beiden Gentlemen folgten mir. Das Herz schmerzte mir in der Brust, als ich seine Hand auf der Adresse erkannte. Ich war nicht in Zweifel, wes Inhalts der Brief sein konnte. Es war sein Abschied von mir. Ich saß mit dem Brief im Schooß, unfähig, ihn zu öffnen.

Der alte Benjamin versuchte mich zu trösten; aber der Major ermahnte ihn, jetzt nicht zu sprechen sondern mir noch Zeit zu gönnen.

Mit einem instinctiven Entschluß hielt ich ihm den Brief hin, während er sprach. Selbst ein Augenblick konnte hier entscheidend sein, wenn es galt, Eustace zurückzurufen. Mir Zeit lassen mochte vielleicht gleichbedeutend sein mit dem Versäumniß der Gelegenheit, ihn mir wiederzubringen.

»Lesen Sie mir den Brief vor, Major,« sagte ich.

Fitz-David zerriß die Enveloppe und las das Schreiben erst für sich. Als er damit fertig war, warf er es mit beinahe verächtlicher Geberde auf den Tisch.

»Es giebt nur eine Entschuldigung für ihn,« sagte er. »Der Mann ist wahnsinnig.«

Die Worte erklärten mir alles. Ich wußte nun das Schlimmste und konnte daher den Brief auch lesen. Er lautete folgendermaßen:

»Meine geliebte Valeria!

Diese Zeilen enthalten meine Abschiedsworte an Dich. Ich kehre zu dem einsamen, freund- und freudelosen Leben zurück, das ich führte, ehe ich Deine Bekanntschaft machte. Dir ist übel mitgespielt worden, mein Kind. Dein böses Schicksal hat Dich an einen Mann verheirathet, der angeklagt wurde, seine erste Frau vergiftet zu haben und dessen Unschuld nicht — genügend bewiesen wurde. Kannst Du unter den gegebenen Verhältnissen mit mir weiterleben? Wenn Dir die Wahrheit fern gehalten wurde, war ein Glück noch zu ermöglichen; nun sind wir damit zu Ende. Die einzige Buße, die ich mir auferlegen kann, ist die, daß ich Dich verlasse; die einzige Chance für Dein künftiges Glück ist die, von meinem entehrten Leben losgerissen zu werden. Ich liebe Dich, Valeria, treu, ergeben leidenschaftlich. Aber das Gespenst des vergifteten Weibes steht zwischen uns. ist gleichgültig, ob ich selbst im Gedanken schuldlos gegen meine erste Frau war. In dieser Welt kann meine Unschuld nicht mehr bewiesen werden. Du bist noch jung, liebevoll, hoffnungsreich. Beglücke Andere, Valeria mit den seltenen Eigenschaften Deines Körpers und Deines Geistes. Ich darf mich an deren Genusse nicht mehr erfreuen; das vergiftete Weib steht zwischen uns. Wenn Du jetzt mit mir weiter leben wolltest, würdest Du sie sehen, wie ich sie sehe. Zu dieser Tortur will ich Dich nicht verdammen. Ich verlasse Dich, weil ich Dich liebe. Halte mich nicht für hart und grausam. Warte ein wenig, und die Zeit wird Deine Denkungsart ändern. Nach Jahren wirst Du Dir einst selber sagen: obgleich er mich betrog, war doch eine gewisse Großmuth in seiner Seele. Er war Mann genug, mich ans freiem Willen aufzugeben. Ja, Valeria, aus freiem Willen gebe ich Dich auf. Wenn es möglich ist, unsere Ehe nichtig zu machen laß es geschehen. Suche Deine Freiheit wiederzugewinnen und sei meiner unbedingten Einwilligung gewiß. Meine Advocaten haben die nöthigen Instructionen hierüber in Händen. Dein Onkel braucht sich nur mit ihnen in Verbindung zu setzen, und ich denke, er wird meinem Entschluß Gerechtigkeit widerfahren lassen. Das einzige Interesse, das ich noch am Leben nehme, ist das Deiner zukünftigen Wohlfahrt, Deines zukünftigen Glückes. Diese beiden Güter kannst Du aber unmöglich länger in Deiner Verbindung mit mir finden. Ich vermag nicht mehr zu schreiben Jeder Versuch, meinen Aufenthaltsort zu erfahren wird ein vergebener sein. Ich kenne meine eigene Schwäche. Mein Herz gehört ganz Dir; ich möchte wieder in Deine Arme eilen, wenn ich zugäbe, daß Du mir noch einmal vor Augen trätest. Zeige diesen Brief Deinem Onkel und allen Freunden, deren Urtheil Dir etwas werth ist. Mir bleibt jetzt weiter nichts übrig, als meinen entehrten Namen zu unterzeichnen, und Jedermann wird die Motive, die meine Hand geleitet, versichert und als gerechtfertigt erkennen. Mein Name rechtfertigt den Brief. Vergieb, vergiß und lebe wohl!

Eustace Macallan«

Mit diesen Worten nahm er Abschied von mir, nachdem wir gerade sechs Tage verheirathet gewesen.



Kapiteltrenner

Vierzehntes Kapitel.

Die Antwort der Frau.

Bis hierher habe ich über mich selbst mit völliger Offenheit geschrieben und, ich glaube auch hinzufügen zu können mit einigem Muthe. Wenn ich jetzt auf den Abschiedsbrief meines Gatten zurückblicke, entsinkt mir jene Offenheit und jener Muth, und ich werde schwach wie ein Kind.

Als ich nach der Lectüre jenes entsetzlichen Schreibens wieder einige Kraft gesammelt hatte, ging ich an die Beantwortung desselben.

Ich hatte das Hotel verlassen und mich der väterlichen Sorge des alten Benjamin anvertraut. Er trat mir ein Zimmer in seiner kleinen Villa ab. Hier verbrachte ich die erste Nacht nach der Trennung von meinem Gatten. Gegen Morgen schliefen meine milden Lebensgeister ein.

Zur Frühstückszeit ließ sich der Major Fitz-David bei mir melden. Er hatte schon am vergangenen Tage mit den Advocaten meines Gatten gesprochen. Diese hatten zugegeben Eustaces Aufenthalt zu kennen; aber sie fügten hinzu, daß es ihnen verboten sei, ihn mir und jedem Andern namhaft zu machen. Was die bereits erwähnten Instructionen betraf, so brauchte ich mich nur an sie zu wenden, um eine Copie derselben übermittelt zu erhalten.

Das waren des Majors Neuigkeiten. Nachdem er sich noch nach meinem Befinden erkundigt, verabschiedete er sich für heute von mir. Dann hatten er und Benjamin noch eine lange Unterredung in dem Garten der Villa.

Ich begab mich in mein Zimmer und schrieb an meinen Onkel Starkweather, indem ich ihm ausführlich das Geschehene mittheilte und eine Abschrift von meines Mannes Brief beilegte.

Nachdem dies geschehen schöpfte ich einen Augenblick frische Luft, würde aber bald müde und ging in mein Zimmer zurück.

Am Nachmittag fühlte ich mich bereits etwas gestärkt. Ich konnte schon an Eustace denken, ohne in Schluchzen auszubrechen und mit Benjamin sprechen, ohne ihn zu erschrecken.

In der Nacht hatte ich schon etwas mehr Schlaf. Am nächsten Morgen war ich bereits stark genug, den Brief meines Gatten zu beantworten. Ich schrieb folgendermaßen:

»Ich bin noch zu schwach und krank, Eustace, um viele Zeilen an Dich zu richten Mein Geist ist aber klar und ruhig. Ich habe mir meine eigene Ansicht über Dich und Deinen Brief gebildet und ich weiß genau, was Du mir zu thun übrig gelassen. Andere Frauen in meiner Lage würden vielleicht denken daß Du alles Recht auf ihr Vertrauen verloren. Ich denke anders. Höre mich ruhig und aufmerksam an.

Du sagst, daß Du mich liebst — und mich deshalb verläßt. Ich verstehe es nicht wie man ein Weib lieben und es verlassen kann. Was mich betrifft so werde ich trotz der harten Dinge, die Du mir gesagt, trotz der Grausamkeit, mit der Du mich behandelt dennoch fortfahren Dich zu lieben, und nie darin willigen Dich aufzugeben. So lange ich lebe, gedenke ich Dein Weib zu sein. Setzt Dich dies in Erstaunen? Mich setzt es in Erstaunen. Wenn ein anderes Weib in dieser Weise an ihren Gatten schriebe, der sie behandelt hätte, wie Du mich behandelt hast, so würde ich in Verlegenheit sein, ihrem Betragen einen Namen zu geben. Auch für mein Benehmen finde ich keinen Ausdruck. Ich sollte Dich hassen und kann nicht anders als Dich lieben. Ich schäme mich vor mir selbst; aber es ist dennoch so. Du brauchst keine Befürchtungen zu hegen daß ich Deinen Aufenthalt erspähen oder Dich überreden möchte, zu mir zurückzukehren Dazu bin ich nicht thöricht genug. Und Du bist zu einem solchen Schritt noch nicht reif. Wenn jener Zustand der Reife eintritt, wirst Du von selbst kommen; und ich werde schwach genug sein, Dir zu vergeben.

Aber was thun, um Dich wieder aus die richtige Bahn zu lenken.

Ich habe Tag und Nacht meinen armen Kopf zermartert und bin endlich zu der Ansicht gekommen, daß Du ohne meine Hilfe nimmer zurückfinden werdest.

Und wie kann ich Dir helfen? Die Frage ist leicht beantwortet. Was das Gesetz unterlassen hat, für Dich zu thun, Dein Weib wird es nachholen. Wie ich Dir bereits im Hause des Majors Fitz-David gesagt, wiederhole ich Dir heute: Dein Weib wird das schottische Verdict umstoßen. Dein Brief hat mich nur noch mehr in diesem Entschluß bestärkt. Die einzige Chance, die ich sehen kann, um Dich mir als liebenden Gatten zurückzugewinnen, ist die, das oberflächliche schottische Verdict von »Nicht bewiesen« in einen ehrlichen englischen Wahrspruch von »Nicht schuldig« umzuwandeln.

Erstaune nicht über einen solchen Entschluß Deines jungen Weibes. Die Noth hat mich das Gesetz verstehen gelehrt; das Gesetz und das Weib haben begonnen, einander zu verstehen. Mit kurzen Worten, ich habe einen Blick in Ogilvie's Dictionnaire gethan, und Ogilvie erzählt mir: ein Verdict von »Nicht bewiesen« will nur sagen, daß in der Meinung des Gerichtshofes ein Mangel in der Evidenz obwaltet, den Angeklagten zu überführen. Ein Verdict von »Nicht schuldig« thut die Meinung des Gerichtshofes kund, daß der Angeklagte unschuldig ist.

Eustace, das letztere soll die Ansicht der Welt im Allgemeinen und die des schottischen Gerichtshofes im Besonderen über Dich werden. Dieser einzigen Aufgabe widme ich mein Leben, so lange es mir der Herr noch erhalten möge!

Wer mir helfen wird, wenn ich der Hilfe bedarf, ist mehr, als ich bis jetzt weiß. Ich glaubte einst, wir würden Hand in Hand diesen Kampf bestehen. Diese Hoffnung ist in mir gescheitert. Ein Mann, welcher denkt, wie Du denkst, kann in seiner Hoffnungslosigkeit Niemand helfen. Ich muß also für zwei hoffen, für zwei wirken.

Ich sage Dir noch nichts über meine Pläne, denn ich habe den Prozeß noch nicht gelesen. Für mich ist es vorläufig genug, zu wissen, daß Du unschuldig bist. Wenn aber ein Mann unschuldig ist, dann muß es einen Weg geben, dies zu beweisen. Es kommt also hauptsächlich darauf an, diesen Weg zu finden. Früher oder später wird mir diese Aufgabe mit oder ohne Beistand gelingen.

Du wirst über mein blindes Selbstvertrauen lachen; vielleicht daß Du auch Thränen darüber vergießt. Ich verlange nicht, zu wissen, ob ich lächerlich oder des Mitleids bedürftig erscheine. Ich bin mir nur einer Sache klar bewußt, daß ich Dich zurückgewinnen will, gereinigt vor den Augen der Welt, ohne Fleck auf Character und Namen, und das alles bewerkstelligt durch Dein Weib.

Schreibe mir zuweilen, Eustace, und glaube, mir, daß ich immer und ewig bin

Deine treue Valeria.«

Das war meine Antwort. Es war der ehrenwerthe Ausdruck dessen, was ich wirklich glaubte und fühlte.

Ich las Benjamin den Brief vor.

»Viel zu voreilig, viel zu rasch!« sagte der alte Mann.

»Ich habe noch niemals gehört Valeria, daß eine Frau that, was Sie Sich vorgenommen zu thun. Gott stehe uns bei! Ich wünschte, Ihr Onkel Starkweather wäre hier. Ich bin neugierig, was er dazu sagen würde. Wollen Sie denn den Brief wirklich absenden?«

Zu meines alten Freundes unaussprechlichem Erstaunen sagte ich, daß ich sofort ausgehen und den Brief selbst besorgen würde. Dabei konnte ich gleich die Advocaten meines Mannes besuchen, um von deren Instructionen Kenntniß zu nehmen.

Die Firma bestand aus zwei Partnern, welche mich gleichzeitig empfingen Der eine war ein sanfter, magerer Mann mit einem sauren Lächeln. Der andere war groß und fett und hatte übellaunig zusammengezogene Augenbrauen. Beide Männer waren mir zuwider; auf ihrer Seite schien dasselbe Gefühl obzuwalten. Sie zeigten mir meines Gatten Instructionen in Bezug auf mich, welche unter anderen ebenso gleichgültigen Sachen die Bestimmung enthielten, daß mir für Lebenszeit die Hälfte seines ganzen Einkommens ausgezahlt werden sollte. Ich verweigerte sofort die Annahme des Geldes.

Die Advocaten schienen höchlich erstaunt über diesen Entschluß. Sie setzten mir ihre Bedenken auseinander. Der Partner mit den übellaunig zusammengezogenen Augenbrauen wünschte meine Gründe zu wissen; der Partner mit dem sauren Lächeln entgegnete ihm darauf, daß ich ein Weib sei und deshalb keine Gründe anzugeben brauche. Ich antwortete: »Haben Sie die Freundlichkeit meinen Brief zu bestellen Gentleman,« und verließ sie.

Es sei fern von mir, mir in diesen Blättern ein Lob zusprechen zu wollen, das ich nicht verdiene; aber ich konnte unmöglich von Eustace etwas annehmen nachdem er mich verlassen. Mein eigenes kleines Vermögen (800 Pfund jährlich) war mir bei meiner Verheirathung sicher gestellt worden. Das war mehr als ich bedurfte. Benjamin hatte mir ein Asyl in seinem Hause geboten, und so konnte ich meine ganzen Einkünfte auf meine Kleidung und die Kosten verwenden, welche die Nachforschungen in Betreff meines Mannes etwa erfordern dürften.

Wenn ich mich stets bemüht habe, meine Fehler und Schwächen in das richtige Licht zu stellen, so muß ich auch hinzufügen daß, so sehr ich meinen armen, unglücklichen Mann auch liebte, ich ihm einen Fehler nur schwer vergeben konnte.

Ich konnte ihm nur schwer vergeben, daß er mir seine erste Ehe geheim gehalten. Ich glaube, daß die Eifersucht auf dem Grunde dieses Gefühls lag. Selbst jetzt, da ich Kenntniß von dem schrecklichen Ende des armen Weibes hatte, konnte ich noch nicht mit Gewißheit behaupten, ob ich nicht auch jetzt von Eifersucht beherrscht sei. Was würde Eustace gesagt haben, wenn er eine Wittwe geheirathet hätte, ohne es zu wissen?

Als ich gegen Abend nach Hause zurückkehrte, schien mich Benjamin schon am Gartenthor er wartet zu haben.

Bereiten Sie Sich aus eine Ueberraschung vor, mein Kind,« sagte er. »Ihr Onkel Dr. Starkweather ist angekommen. Heute Morgen empfing er Ihren Brief, und jetzt ist er mit dem nächsten Zuge schon da.«

In der nächsten Minute war ich von meines Onkels starken Armen umschlossen. Seine hingebende Liebe preßte mir Thränen des Dankes aus, die mir sehr wohlthaten.

»Ich bin gekommen, Dich zurückzunehmen zur alten Heimath,« sagte er. »Ich brauche Dir wohl nicht die Versicherung zu geben wie dringend Deine Tante und ich gewünscht, daß Du uns nie verlassen. Aber was hilft’s. Das Uebel ist geschehen und wir müssen jetzt daran denken es wieder gut zu machen. Ehe ich es vergesse, Deine Tante schickt Dir ihre schönsten Grüße. Sie ist abergläubischer, als sie es je gewesen. Dein schreckliches Eheunglück überrascht sie nicht im mindesten. Sie sagt, das hätte ja nicht anders kommen können, da Du einen Irrthum bei der Unterschrift des Trauactes begangen. Sie ist ein thöricht Weib, aber sie meint es gut. Sie wäre gern mitgekommen wenn ich es ihr erlaubt s hätte; aber sie muß doch nach dem Hause und der Wirthschaft sehen. Du bekommst Dein altes Zimmer wieder, Valeria, mit den weißen Gardinen und den blauen Franzen daran. Ich denke, wir nehmen morgen früh den Zug um 9 Uhr 40.«

Jetzt mit meinem Onkel zurückkehren? Das s war ganz unmöglich.

»Ich danke Dir von ganzem Herzen Onkel,« sagte ich. »Aber ich kann augenblicklich London nicht verlassen.«

»Du kannst augenblicklich London nicht verlassen?« wiederholte er.

»Was meint sie damit, Mr. Benjamin?«

»Sie ist mir ja auch herzlich willkommen,« entgegnete dieser ausweichend.

»Das ist keine Antwort,« polterte mein Onkel. »Was hält Dich in London zurück?« wandte er sich dann an mich. »Das muß doch einen Grund haben!«

Ich nahm meinen ganzen Muth zusammen und erzählte ihm offen und frei, welche Ausgabe ich mir gestellt.

»Gott sei ihr gnädig!« rief der würdige Mann als ich geendet. »Das arme Kind hat den Verstand verloren!«

»Ja, ja, ich mißbillige es ebenfalls,« sagte Benjamin in seiner zögernden milden Weise.

»Mißbilligen ist nicht das richtige Wort,« brauste der Vicar auf. »Ich nenne es geradezu Wahnsinn!«

Er stellte sich vor mich hin und blickte mich an wie er es zu thun pflegte, wenn er ein widerspenstiges Kind katechisirte. »Es ist aber wohl nicht Dein Ernst was Du gesprochen?«

»Es thut mir leid, Deine gute Meinung über mich abschwächen zu müssen, Onkel,« entgegnete ich. »Ich habe in vollständigstem Ernst geredet.«

»Du bildest Dir also ein,« polterte der Vicar weiter, »daß Du vollbringen wirst, was den größesten Juristen Schottlands mißlang? Ihre ganze Gemeinschaft konnte die Unschuld jenes Mannes nicht beweisen und Du einzelnes armes Wurm unterfängst Dich, dies thun zu wollen? Auf mein Wort Du bist ein wundervolles Frauenzimmer! Da muß ein einfacher Landgeistlicher schon seine Segel streichen, wenn er solchem weiblichen Advocaten gegenübersteht!«

»Ich werde mit Lesung des Prozesses beginnen Onkel,« entgegnete ich sehr ruhig.

»Hübsche Lectüre für ein junges Weib! Und wenn Du damit zu Ende bist was dann?« Haft Du das auch schon bedacht?«

»Ja, Onkel. Meine erste Sorge wird sein, nachdem ich den Prozeß gelesen meinen Verdacht auf die Person zu lenken die wirklich das Verbrechen begangen. Dann werde ich mir eine Liste der Zeugen entwerfen welche zu Gunsten meines Gatten gesprochen. Ich werde jeden dieser Zeugen besuchen, ihm sagen wer ich bin und was ich beabsichtige. Ich werde alle möglichen Fragen an sie richten welche ernste Juristen für unter ihrer Würde halten könnten zu thun. Die zu erhaltenden Antworten werden meine fernere Handlungsweise bestimmen. Welche Hindernisse sich mir auch entgegenstellen dürften, ich werde nicht vor ihnen zurückschrecken. Das sind vorläufig meine Pläne.«

Der Vicar und Benjamin sahen einander an als wenn sie ihren Sinnen nicht trauten.

»Willst Du mir vielleicht damit sagen,« begann der Erstere, »daß Du Dich auf der Landstraße umhertreiben und allen Menschen zur Last fallen oder deren Mitleid erbetteln wirst? Ein junges Weib, von ihrem Mann verlassen Niemand, es zu beschützen! Ich weiß wirklich nicht ob ich wache oder träume. Und das spricht sie alles so unbefangen hin, als wenn es sich von selbst verstände! Was, um des Himmels willen soll ich mit ihr anfangen?«

»Laß mich mein Experiment versuchen Onkel, so seltsam es Dir auch erscheinen mag,« sagte ich. »Nichts anderes in dieser Welt wird mir Trost gewähren und Gott weiß, wie sehr ich des Trostes bedarf.«

Der Vicar blickte mich mit ironischer Miene an.

»Schon manches Weib vor mir,« fuhr ich fort »hat ernsten Schwierigkeiten gegenüber gestanden und sie um des Mannes Willen besiegt den sie liebte.«

»Was muß ich hören!« sagte mein Onkel, sich langsam von seinem Sitz erhebend. »Willst Du damit sagen daß Du Deinen Mr. Macallan noch immer liebst?«

»Ja,« antwortete ich.

»Den Helden des großen Vergiftungsprozesses?« fuhr mein Onkel fort. »Den Mann der Dich betrog und Dich verlassen? Den liebst Du noch?«

»Noch inniger als sonst.«

»Mr. Benjamin!« sagte der Vicar. »Wenn sie bis morgen ihre fünf Sinne wiederbekommt, dann schicken Sie sie mir morgen früh um 9 mit ihrem Gepäck nach Loxley's Hotel, wo ich abgestiegen bin. Gute Nacht Valeria. Mehr habe ich Dir nicht zu sagen.«

»Giebst Du mir keinen Kuß zum Abschied, Onkel?«

»O ja, so viel Du willst. Ich werde an meinem Geburtstag 65, und ich glaubte immer, einige Menschenkenntniß erworben zu haben; es ist aber nicht wahr. Also nach Loxley’s Hotel, Mr. Benjamin Gute Nacht.«

Benjamin blickte sehr ernst, als er, nachdem er den Doctor hinausbegleitet zu mir zurückkehrte.

»Ich habe nicht von Ihnen verlangt, daß Sie meinem Rathe unbedingt folgen sollten,« begann er; »aber Ihres Onkels Ansicht von der Sache ist doch immer der Ueberlegung werth.«

Ich antwortete nicht; es war nutzlos, noch etwas hinzuzufügen.

»Gute Nacht mein lieber alter Freund,« war alles, was ich erwiderte.

Dann begab ich mich mit Thränen in den Augen in mein Schlafzimmer.

Die Jalousien waren in die Höhe gezogen und das herbstliche Mondlicht schien hell und klar in mein kleines Gemach.

Als ich so hinausblickte, kam die Erinnerung an eine andere Mondnacht mir zurück, an jene Nacht in welcher Eustace und ich vor unserer Verheirathung in dem Pfarrgarten auf- und nieder gingen. Wir sprachen von den Hindernissen die sich schon damals unserer Verbindung entgegensetzten. Ich sah sein liebes treues Antlitz wieder, als er beim Mondlicht mir in’s Auge schaute; ich hörte seine Stimme und die meine. »Vergieb mir,« hatte er gesagt »daß ich Dich geliebt habe mit Leidenschaft und aufrichtigster Ergebung; vergieb mir und laß mich von hinnen gehen.«

Und ich hatte darauf geantwortet: »O Eustace, ich bin nur ein Weib, mach’ mich nicht wahnsinnig! Ich kann nicht ohne Dich leben, ich muß und will Deine Frau werden.« Und nun, nachdem das Ehebaud uns umschlossen waren wir von einander getrennt. Getrennt obgleich wir uns noch ebenso leidenschaftlich liebten als vorher. Und weshalb getrennt? Weil er eines Verbrechens angeklagt war, das er nimmer begangen und weil es dem schottischen Gerichtshofe nicht gelungen seine Unschuld darzuthun.

Da entbrannte ein neuer Eifer in meiner Brust »Nein,« sagte ich zu mir selbst »Weder Verwandte noch Freunde werden mich je zurückhalten für meinen Gatten in den Kampf zu gehen. Die Bestätigung seiner Unschuld ist die Aufgabe meines Lebens, und diese Nacht schon will ich sie beginnen.«

Ich zog die Jalousien herunter und zündete die Kerzen an. In der ruhigen Nacht allein und ohne Hilfe, that ich den ersten Schritt auf dem mühevollen und schrecklichen Wege, der vor mir lag. Von dem Titelblatt bis zum Schluß las ich, ohne eine Pause zu machen ohne ein Wort zu übersehen den gegen meinen Mann angestrengten Vergiftungsprozeß.



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