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Das Eismeer



Kapitel Fünf

Der Morgen des nächsten Tages – der Morgen, an dem die Schiffe absegeln sollten – brach klar und windig an. Mrs. Crayford, die abgemacht hatte, ihrem Gatten zur Küste zu folgen, um ihn ein letztes Mal zu sehen, bevor er sich einschiffte, betrat Claras Zimmer auf ihrem Weg aus dem Haus, begierig darauf, zu hören, wie ihre junge Freundin die Nacht verbracht hatte. Zu ihrer Verwunderung stellte sie fest, daß Clara aufgestanden war und ebenso wie sie selbst zum Ausgehen gekleidet war.

„ Was bedeutet das, meine Liebe? Nach dem, was du am letzten Abend erlitten hast – nach dem Schock, diesen Mann zu sehen – warum nimmst du nicht meinen Rat an und ruhst dich in deinem Bett aus?“

„ Ich kann nicht ausruhen. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Bist du bereits fort gewesen?“

„ Nein.“

„ Hast du irgend etwas von Richard Wardour gesehen oder gehört?“

„ Was für eine außergewöhnliche Frage!“

„ Beantworte meine Frage! Spaße nicht mit mir!“

„Beruhige dich, Clara. Ich habe von Richard Wardour weder etwas gesehen noch etwas gehört. Nimm mein Wort darauf, er ist inzwischen weit genug fort.“

„ Nein! Er ist hier! Er ist in unserer Nähe! Die ganze Nacht lang hat mich die Vorahnung verfolgt – Frank und Richard Wardour werden sich begegnen.“

„ Mein liebes Kind! Woran denkst du nur? Sie sind einander völlig fremd.“

„ Etwas wird geschehen, das sie zusammenbringt. Ich fühle es! Ich weiß es! Sie werden sich begegnen – es wird einen tödlichen Streit zwischen ihnen geben – und ich werde die Schuldige sein. Oh, Lucy! warum habe ich nicht deinen Rat angenommen? Warum war ich verrückt genug, Frank wissen zu lassen, daß ich ihn liebe? Gehst du zum Landungssteg? Ich bin fertig – ich muß mit dir gehen.“

„ Daran darfst du nicht denken, Clara. Es wird Gedränge und Durcheinander am Meeresufer geben. Du bist nicht kräftig genug, um es auszuhalten. Warte – ich werde nicht lange fort sein – warte, bis ich zurückkomme.“

„ Ich muß und werde mit dir gehen! Gedränge? Er wird in dem Gedränge sein! Durcheinander? In diesem Durcheinander wird er seinen Weg zu Frank finden! Bitte mich nicht darum, zu warten. Ich werde wahnsinnig, wenn ich warte. Ich werde keine ruhige Minute haben, bis ich Frank gesehen habe, mit meinen eigenen Augen, sicher im Boot, welches ihn zu seinem Schiff bringt! Du hast deine Haube auf; worauf warten wir noch? Komm! oder ich werde ohne dich gehen. Schau auf die Uhr; wir haben nicht einen Moment zu verlieren!“

Es war sinnlos, mit ihr zu streiten. Mrs. Crayford gab auf. Die beiden Frauen verließen zusammen das Haus.

Der Landungssteg war, wie Mrs. Crayford vorausgesagt hatte, gedrängt voll von Zuschauern. Nicht nur die Verwandten und Freunde der Arktisreisenden, sondern Fremde ebenso, hatten sich in großer Zahl versammelt, um die Schiffe absegeln zu sehen. Claras Augen wanderten erschrocken hin und her unter den fremden Gesichtern in der Menge; suchend nach dem einen Gesicht, das zu sehen sie fürchtete, und fand es nicht. Ihre Nerven waren so vollkommen überfordert, daß sie mit einem Schreckensschrei zurücksprang, als sie plötzlich Franks Stimme hinter sich hörte.

„ Die Boote der Seemöwe warten“, sagte er. „Ich muß gehen, Darling. Wie fahl du aussiehst, Clara! Bist du krank?“

Sie antwortete nicht. Sie fragte ihn mit verstörtem Blick und zitternden Lippen.

„ ist dir etwas passiert, Frank? Irgend etwas außergewöhnliches?“

Frank lachte ob der seltsamen Frage.

„ Irgend etwas außergewöhnliches?“, wiederholte er. „Nichts, von dem ich wüßte, außer, daß ich zu den arktischen Meeren segle. Dies ist etwas außergewöhnliches, vermute ich – nicht wahr?“

„ hat irgend jemand mit dir gesprochen seit letzte nacht? Ist dir irgendein Fremder auf der Straße gefolgt?“

Frank wandte sich in blankem Erstaunen um zu Mrs. Crayford.

„ Was um alles in der Welt bedeutet das?“

Mrs. Crayfords lebhafte Erfindungsgabe versah sie spornstreichs mit einer Antwort.

„ Glauben Sie an Träume, Frank? Natürlich nicht. Clara hat von Ihnen geträumt; und Clara ist töricht genug, um an Träume zu glauben. Das ist alles – es ist nicht wert, darüber zu sprechen. Horcht! Man ruft Sie. Sagen Sie lebewohl, oder Sie werden zu spät zum Boot kommen!“

Frank nahm Claras Hand. Lange danach – an den dunklen arktischen Tagen, in den trostlosen arktischen Nächten – erinnerte er sich, wie kalt und teilnahmslos diese Hand in der seinen gelegen hatte.

„ Mut, Clara!“, sagte er fröhlich. „Der Schatz eines Seemannes muß sich an Abschiede gewöhnen. Die Zeit wird schnell vorübergehen. Lebwohl, mein Darling. Lebwohl, meine Gattin!“

Er küßte die kalte Hand; er schaute zum letzten Mal – für manch ein langes Jahr vielleicht! – auf das fahle und wunderschöne Gesicht. ‚Wie sehr sie mich liebt!’, dachte er. ‚Wie der Abschied sie bedrückt!’ Er hielt noch immer ihre Hand; er hätte noch länger verweilt, wenn Mrs. Crayford nicht vernünftigerweise auf alle Zeremonien verzichtet und ihn fortgedrängt hätte.

Die beiden Ladies folgten ihm in sicherer Entfernung durch die Menschenmenge, und sahen ihn in das Boot steigen. Die Riemen schlugen auf das Wasser; Frank winkte Clara mit seiner Mütze zu. Nach einem weiteren Moment verbarg ein vor Anker liegendes Schiff das Boot vor dem Betrachter. Sie hatten ihn zum letzten Mal gesehen auf seinem Weg zum Eismeer!

„ Kein Richard Wardour im Boot“, sagte Mrs. Crayford. „Kein Richard Wardour am Ufer. Laß dir dies eine Lektion sein, mein Liebes. Sei niemals wieder so töricht, an Vorahnungen zu glauben.“

Claras Augen wanderten noch immer argwöhnisch inmitten der Menschenmenge hin und her.

„ Bist du noch nicht zufriedengestellt?“ fragte Mrs. Crayford.

„ Nein“, antwortete Clara, „ich bin noch nicht zufriedengestellt.“

„ Was! du suchst immer noch nach ihm? Das ist wirklich zu absurd. Hier kommt mein Ehemann. Ich werde ihm sagen, er soll eine Droschke rufen, und dich nach Hause bringen lassen.“

Clara ging einige Schritte zurück.

„ Ich werde nicht im Weg sein, während du Abschied nimmst von deinem lieben Ehemann, Lucy“, sagte sie. „ich werde hier warten.“

„ Hier warten? Worauf?“

„ Auf etwas, das ich noch sehen könnte; oder auf etwas, das ich noch hören könnte.“

„ Richard Wardour?“

„ Richard Wardour.“

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Mrs. Crayford zu ihrem Ehemann um. Claras Verblendung war jenseits der Reichweite jeglichen Einwands.

Die Boote der Wanderer nahmen den Platz am Landungssteg ein, den die Boote der Seemöwe geräumt hatten. Ein Ausbruch des Jubels unter den äußeren Reihen der Menschenmenge kündigte die Ankunft des Kommandanten der Expedition auf dem Schauplatz an. Captain Helding erschien, und hielt links und rechts Ausschau nach seinem Ersten Lieutenant.

Crayford bei seiner Ehefrau findend, bat der Captain auf seine charmanteste Art um Verzeihung für die Störung.

„ Geben Sie ihn für einige Minuten frei für seine beruflichen Pflichten, Mrs. Crayford, und Sie werden ihn für eine halbe Stunde wiederbekommen. Die Arktisexpedition ist schuld, meine teure Lady – nicht der Captain – daran, daß Mann und Frau sich trennen. An Crayfords Stelle hätte ich es den Junggesellen überlassen, die Nordwest-Passage zu finden, und wäre zu Hause bei Ihnen geblieben!“

Sich mit solch plump-schmeichelhafter Ausdrucksweise entschuldigend, zog Captain Helding den Lieutenant einige Schritte beiseite, wobei er zufällig eine Richtung einschlug, welche die beiden Offiziere nahe zu der Stelle führte, wo Clara stand. Beide, der Captain und der Lieutenant, waren zu vollkommen in ihre berufliche Angelegenheit vertieft, um sie zu bemerken. Weder der eine noch der andere hatte die leiseste Ahnung, daß sie jedes Wort des Gesprächs, das zwischen ihnen stattfand, hören konnte und hörte.

„ Sie haben meine Mitteilung heute morgen erhalten?“ begann der Captain.

„ Sicher, Captain Helding, oder ich wäre schon vorher an Bord gewesen.“

„ Ich selbst gehe sofort an Bord“, fuhr der Captain fort, „doch ich muß Sie bitten, Ihr Boot für eine weitere halbe Stunde warten zu lassen. Um so länger werden Sie bei Ihrer Gattin sein, wie Sie wissen. Dies hatte ich im Sinn, Crayford.“

„ Ich bin Ihnen sehr verbunden, Captain Helding. Ich vermute, es gibt einen anderen Grund, um die übliche Reihenfolge der Dinge umzustellen und den Lieutenant am Ufer zu lassen, nachdem der Captain an Bord ist?“

„ Völlig richtig! es gibt einen anderen Grund. Ich möchte, daß Sie auf einen neuen Freiwilligen warten, der uns beigetreten ist.“

„ Ein Freiwilliger!“

„ Ja. Er muß sich eilends seine Ausrüstung besorgen, und er könnte eine halbe Stunde zu spät kommen.“

„ Ein ziemlich plötzlicher Entschluß, nicht wahr?“

„ Ohne Zweifel. Sehr plötzlich.“

„ Und – verzeihen Sie – es ist eine ziemlich lange Zeit (in der schwierigen Lage, in der wir uns befinden), um die Schiffe warten zu lassen auf einen einzigen Mann?“

„ Wieder völlig richtig. Doch ein Mann, der es wert ist, ihn zu haben, ist ein Mann, der es wert ist, auf ihn zu warten. Dieser Mann ist es wert, ihn zu haben; dieser Mann ist sein Gewicht in Gold wert für so eine Expedition wie die unsere. Gewöhnt an jedes Klima und an alle Strapazen – ein starker Bursche, ein tapferer Bursche, ein cleverer Bursche – im Kurzen, ein exzellenter Offizier. Ich kenne ihn gut, sonst hätte ich ihn niemals genommen. Das Land gewinnt eine Menge Leistung von unserem neuen Freiwilligen, Crayford. Er ist erst gestern vom Auslandsdienst zurückgekehrt.“

„ Er ist erst gestern vom Auslandsdienst zurückgekehrt! Und er meldet sich heute morgen freiwillig, um der Arktisexpedition beizutreten? Sie verblüffen mich.“

„ Das glaube ich wohl, daß ich das tue! Sie können nicht verblüffter sein, als ich es war, als er sich in meinem Hotel einfand und mir mitteilte, was er wollte. «Warum, guter Mann, Sie sind eben erst nach Hause gekommen», sagte ich. «Sind Sie Ihrer Freiheit nach nur wenigen Stunden Erfahrung damit wieder müde?» Seine Antwort erschreckte mich eher. «Ich bin meines Lebens müde, Sir. Ich bin heimgekehrt und fand ein Unglück vor, mich Willkommen zu heißen, welches mir beinahe das Herz bricht. Wenn ich nicht Zuflucht suche in Abwesenheit und harter Arbeit, bin ich ein verlorener Mann. Werden Sie mir eine Zuflucht geben?» Das ist es, was er gesagt hat, Crayford, Wort für Wort.“

„ Haben Sie ihn gebeten, sich näher zu erklären?“

„ Nicht ich! Ich kannte seinen Wert, und ich nahm den armen Teufel auf der Stelle, ohne ihn mit irgendwelchen weiteren Fragen zu bedrängen. Nicht nötig, ihn zu bitten, sich zu erklären. In diesen Fällen sprechen die Fakten für sich selbst. Die alte Geschichte, mein guter Freund! Der wahre Grund dafür ist natürlich eine Frau.“

Mrs. Crayford, die auf die Rückkehr ihres Gatten wartete, so geduldig, wie sie konnte, wurde aufgeschreckt, als sie den Druck einer Hand fühlte, die plötzlich auf ihre Schulter gelegt wurde. Sie schaute sich um und stand Clara gegenüber. Ihr erstes Gefühl der Überraschung wechselte sogleich zu Erschrecken. Clara zitterte von Kopf bis Fuß.

„ Was ist los? Was hat dich erschreckt, mein Liebes?“

„ Lucy! Ich habe von ihm gehört!“

„ Wieder Richard Wardour?“

„ Erinnere dich, was ich dir erzählte. Ich habe jedes Wort der Unterhaltung zwischen Captain Helding und deinem Ehemann gehört. Ein Mann kam an diesem Morgen zum Captain und hat sich freiwillig gemeldet, um auf der Wanderer anzuheuern. Der Captain hat ihn genommen. Der Mann ist Richard Wardour.“

„ Das kann nicht dein Ernst sein! Bist du sicher? Hast du gehört, daß Captain Helding seinen Namen erwähnte?“

„ Nein.“

„ Woher weißt du dann, daß es Richard Wardour ist?“

„ Frag mich nicht! Ich bin mir dessen so sicher, wie ich hier stehe! Sie gehen zusammen fort, Lucy – fort zum unendlichen Eis und Schnee. Meine Vorahnung ist wahr geworden! Die beiden werden sich begegnen – der Mann, der mich heiraten soll, und der Mann, dessen Herz ich gebrochen habe!“

„ Deine Vorahnung ist nicht wahr geworden, Clara! Die Männer sind sich hier nicht begegnet – die Männer werden sich höchstwahrscheinlich auch nirgendwo anders begegnen. Sie sind auf verschiedenen Schiffen eingesetzt. Frank gehört zu der Seemöwe, und Wardour zu der Wanderer. Sieh! Captain Helding ist fertig. Mein Ehemann kommt hierher. Laß mich mir Gewißheit verschaffen. Laß mich mit ihm sprechen.“

Lieutenant Crayford kehrte zu seiner Gattin zurück. Sie sprach augenblicklich mit ihm.

„ William! Ihr habt einen neuen Freiwilligen, welcher der Wanderer beigetreten ist?“

„ Was! du hast dem Captain und mir zugehört?“

„ Ich möchte seinen Namen wissen.“

„ Wie um alles auf der Welt hast du es fertiggebracht, zu hören, was wir zu einander sagten?“

„ Sein Name? Hat der Captain dir seinen Namen genannt?“

„ Reg dich nicht auf, mein Liebes. Sieh! du erschreckst Miß Burnham völlig. Der neue Freiwillige ist ein vollkommen Fremder für uns. Dort steht sein Name – der letzte auf der Schiffsliste.“

Mrs. Crayford schnappte ihrem Gatten die Liste aus der Hand und las den Namen:

„ Richard Wardour.“


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