Zwei Schicksalswege

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Ein Gespräch mit Frau van Brandt

Die Wirtin stand vor der Tür als ich an dem Hause anlangte. Was sie mir auf mein Befragen berichtete bestätigte meine freudigsten Erwartungen. Die arme Mieterin sah schon »wie ein anderer Mensch« aus, und das Kind befand sich eben auf der Treppe, um die Rückkehr ihres »neuen Papas« zu erwarten.

»Etwas aber möchte ich Ihnen noch sagen, mein Herr, ehe Sie hinauf gehen,« fuhr die Frau fort. »Geben Sie der Dame nicht mehr Geld auf einmal, als für die Ausgaben des Tages erforderlich ist. Wenn sie etwas übrig hat so verschwendet sie es aller Wahrscheinlichkeit nach an ihren Taugenichts von Mann.«

Ich hatte über die höheren und teueren Interessen, die alle meine Gedanken erfüllten, ganz vergessen an das Dasein von Herrn van Brandt zu denken.

»Wo ist er?« fragte ich.

»Wo er hingehört,« war die Antwort. »Im Schuldgefängnis.«

In jener Zeit, war jemand, der wegen Schulden verhaftet war, nicht selten lebenslang ein Gefangener. Ich brauchte also nicht zu fürchten, dass mein Besuch durch Herrn van Brandts Erscheinen abgekürzt werden könnte.

Als ich die Treppe hinauf stieg, fand ich das Kind das mich auf dem Flur mit einer zerrissenen Puppe im Arm erwartete. Ich hatte unterwegs einen Kuchen für sie gekauft. Sogleich überließ sie mir die Sorge für ihre Puppe und lief mit dem Kuchen in der Hand vor mir her ins Zimmer, wo sie mein Erscheinen mit den Worten ankündigte: »Mama mir gefällt dieser Papa besser als der andere. Du hast ihn wohl auch lieber?«

Das abgehärmte Gesicht der Mutter errötete für einen Augenblick und erblasste dann, als sie mir die Hand entgegen streckte. Ich sah sie prüfend an und entdeckte deutlich die willkommenen Anzeichen der Genesung. Ihre großen, grauen Augen ruhten wieder mit einem Schimmer ihres alten Lichtes auf mir. Die Hand, die in der letzten Nacht so kalt in der meinen lag, hatte nun wieder Leben und Wärme.

»Wäre ich gestorben ehe der Tag anbrach, wenn Sie nicht gekommen wären?« fragte sie leise. »Haben Sie mir zum zweiten Mal das Leben gerettet? Ich will es gern glauben!«

Ehe ich mich dessen versah, neigte sie ihren Kopf über meine Hand und berührte sie zärtlich mit ihren Lippen.

»Ich bin wahrlich nicht undankbar,« flüsterte sie, »und doch weiß ich nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Das Kind blickte schnell von seinem Kuchen auf. »Warum gibst Du ihm keinen Kuss?« fragte das süße, kleine Geschöpf mit einem langen Blick voller Erstaunen.

Ihr Kopf sank auf die Brust. Sie seufzte schwer.

»Nun nichts mehr von mir!« sagte sie, indem sie ihre Selbstbeherrschung wieder erlangte und sich plötzlich zwang zu mir aufzusehen. »Sagen Sie welch glücklicher Zufall Sie diese Nacht hierher führte?«

»Derselbe Zufall,« erwiderte ich, »der mich nach St. Antonius Brunnen leitete.«

Sie erhob sich heftig in ihrem Stuhl.

»So bin ich Ihnen also wiederum erschienen, wie einst in dem Lusthause beim Wasserfall!« rief sie aus. »Geschah das wieder in Schottland?«

»Nein. In einer größeren Entfernung als Schottland ist - es geschah auf Shetland.«

»O erzählen Sie mir davon! Bitte, bitte erzählen Sie mir Alles!«

Ich erzählte so genau als möglich Alles, was sich ereignet hatte, nur über einen Punkt bewahrte ich natürlich das tiefste Schweigen. Ich veranlasse sie zu der Annahme, dass der Herr des Hauses der Einzige war, der mich dort empfing und mit dem ich während meines Aufenthalts bei Mr. Dunroß verkehrte, des Vorhandenseins seiner Tochter erwähnte ich gar nicht.

»Wie seltsam!" rief sie aus, nachdem sie mich bis zu Ende angehört hatte.

»Was ist seltsam?« fragte ich.

Sie zögerte, indem sie meine Züge mit ihren großen, grauen Augen genau zu erforschen suchte.

»Ich spreche nur ungern darüber,« sagte sie »und doch darf ich Ihnen über diesen Punkt nichts vorenthalten. Ich verstehe Alles, was Sie mir gesagt haben bis auf Eines. Es erscheint mir unwahrscheinlich, dass Sie in dem Hause auf Shetland nur einen alten Mann als Gesellschafter gehabt haben wollen.«

»Von welcher anderen Gesellschaft erwarteten Sie zu hören?« fragte ich.

»Ich glaubte Sie würden mir von einer Dame sprechen, die im Hause war.«

Diese Antwort überraschte mich im Grunde nicht, aber sie veranlasste mich genau zu überlegen ehe ich weiter sprach. Aus den früheren Vorgängen wusste ich, dass sie mich während meiner Abwesenheit wiederum in einer Verzückung oder in einem Traume gesehen hatte. Hatte sie auch Miss Dunroß, meine treue Gefährtin während des Aufenthalts in Shetland gesehen?

Ich ließ es mir, durch die Weise wie ich sie befragte offen, ob ich sie rückhaltlos in mein Vertrauen ziehen wollte oder nicht.

»Nicht wahr, ich irre nicht,« begann ich, »wenn ich annehme, dass Sie von mir träumten, während ich in Shetland war, wie sie einst in meinem Hause in Pertshire von mir geträumt?«

»Sie haben recht,« antwortete sie. »Es geschah dieses Mal gegen Abend. Ich schlief ein oder verlor das Bewusstsein - ich weiß nicht wie mir war, und Sie erschienen mir in einem Traum oder in einer Vision.«

»Wo sahen Sie mich?«

»Zuerst sah ich Sie auf jener Brücke über dem Flusse in Schottland, gerade da, wo ich Ihnen an dem Abend begegnete, als Sie mir das Leben retteten. Nach einer Weile verschwand der Fluss und die Landschaft und mit ihnen versanken auch Sie in Dunkelheit. Ich wartete ein wenig - da lichtete sich das Dunkel allmälig. Mir war's als stünde ich in einem Sternenschein vor einem Fenster; hinter mir lag ein See, vor mir ein verfinstertes Gemach. Ich blickte in das Gemach und der Lichtschein um mich her, ließ mich Sie erkennen.«

»Wann geschah das? Entsinnen Sie sich des Datums?«

»Dass es zu Anfang des Monats war, weiß ich. Die schrecklichen Ereignisse, durch die ich seitdem in dieses Elend geraten bin, hatten sich damals noch nicht zugetragen - und dennoch, als ich Sie dort erblickte, ahnte mir, dass ich einem trüben Geschick entgegen ging. Das Gefühl, dass es allein in Ihrer Macht stehen würde, mir zu helfen, überkam mich wieder voll und ganz, wie in jenem Traum in Schottland. Ich tat genau, was ich damals tat. Ich legte meine Hand auf Ihre Brust und sagte: »Gedenke mein. Komm zu mir« ich schrieb selbst -«

Sie hielt schaudernd inne, als ob eine plötzliche Furcht sie beschlich. Besorgt um die Folgen, die eine heftige Erregung für sie haben konnte, wollte ich sie, als ich das sah, veranlassen, an diesem Tage nicht weiter über den Gegenstand zu sprechen.

»Nicht doch,« antwortete sie bestimmt. »Damit dass Sie mir Zeit lassen wollen, ist nichts gewonnen. Der Traum hat in mir eine entsetzliche Erinnerung zurück gelassen. Ich glaube ich werde, so lange ich lebe, erbeben, wenn ich daran denke, was ich neben Ihnen in dem dunklen Gemach erblickte.«

Sie schwieg wiederum. Wollte sie mir von der verhüllten Gestalt mit dem schwarz verschleierten Kopfe reden?

Wollte Sie mir schildern, wie sie durch ihren Traum die Existenz von Miss Dunroß erfahren hatte?

»Beantworten Sie mir nun zuerst eine Frage,« fuhr sie fort. »War Alles, was ich Ihnen bis jetzt sagte, richtig. Waren Sie in einem dunklen Zimmer, als Sie mich sahen?«

»Es ist Alles richtig.«

»War es an einem Tage zu Anfang des Monats und um die Abendstunde?«

»Ja.«

»Sagen Sie mir die Wahrheit. Waren Sie allein im Zimmer?«

»Ich war nicht allein.«

»War der Hausherr bei Ihnen oder befanden Sie sich in Gesellschaft eines anderen?«

Sie zu täuschen wäre nach dem, was ich soeben gehört hatte, mehr als nutzlos gewesen.

»Es war jemand anderes bei mir,« antwortete ich. »Die Person die sich mit mir im Zimmer befand war eine Frau.«

Während sie sprach, sah ich an ihrem Gesicht, dass dieselbe schreckliche Erinnerung, deren sie eben erwähnt hatte, sie wiederum durchschauerte. Nachgerade wurde es mir nun selbst schwer meine Fassung zu bewahren, dennoch war ich entschlossen kein Wort über meine Lippen kommen zu lassen, dass meine Gefährtin zu irgend einer Vermutung veranlassen konnte.

Ich fragte darum nur: »Wollen Sie noch irgend etwas Anderes von mir wissen?«

»Eines noch,« antwortete sie. »War an der Kleidung Ihrer Gefährtin irgend etwas Ungewöhnliches?«

»Ja. Sie trug einen langen schwarzen Schleier, der über Kopf und Gesicht weit herab bis über ihre Taille hing.«

Frau van Brandt lehnte sich in ihren Stuhl zurück und bedeckte sich das Gesicht mit den Händen.

»Ich begreife den Grund, weshalb Sie mir verschwiegen, dass dieses elende Weib in jenem Hause lebte,« sagte sie. »Es ist wohlgemeint wie Alles, was Sie für mich tun, aber es ist nutzlos. Ich sah in meinem Traume Alles genau so, wie es in der Wirklichkeit ist und auch ich erblickte das entsetzliche Gesicht!«

Diese Worte elektrisierten mich vollständig.

Augenblicklich fiel mir das Gespräch wieder ein, das ich diesen Morgen mit meiner Mutter hatte. Ich sprang auf.

»Großer Gott!« rief ich aus, »was meinen Sie damit?«

»Verstehen Sie mich denn noch nicht?« fragte sie, ihrerseits voller Erstaunen. »Muss ich noch deutlicher werden? Bemerkten Sie, dass ich schrieb, als Sie meine Erscheinung sahen?«

»Ja. Sie schrieben auf einem Briefe, den die Dame für mich verfasste. Ich sah später die Worte, die Sie geschrieben und eben diese Worte führten mich in der letzten Nacht hierher. Am Ende des Monats im Schatten von St. Paul.«

»In welcher Weise schien es, dass ich auf dem unvollendeten Brief schrieb?«

»Sie nahmen die Schreibmappe, auf der Brief und Feder lagen, vom Schoß der Dame und stützten die Mappe während Sie schrieben, auf ihre Schulter.«

»Konnten Sie wahrnehmen ob sie es bemerkte, dass ich die Mappe nahm?«

»Ich sah nicht dass sie es bemerkte,« antwortete ich, »denn sie blieb regungslos in ihrem Stuhl.«

»Mein Traum zeigte mir das anders. Danach hob sie die Hand hoch, freilich nicht die Hand, die Ihnen zunächst war, sondern die an meiner Seite. Als ich die Schreibmappe hob, erhob sie die Hand und zog die Falten des Schleiers von ihrem Gesichte zurück - ich konnte Alles deutlicher sehen als Sie. Es war nur ein Augenblick, wo mir gestattet war zu schauen, was der Schleier barg. Lassen Sie uns davon schweigen! Sie müssen von dem entsetzlichen Anblick in der Wirklichkeit zurückgeschaudert sein, wie ich es im Traume tat. Sie müssen sich, wie ich mich, gefragt haben, ob keine barmherzige Hand dem furchtbaren Geschöpf Gift reichen will um sie mitleidig im Grabe zu verbergen?«

Bei diesen Worten hielt sie plötzlich inne. Mir versagte die Sprache - meine Züge waren beredter als meine Lippen. Als sie mein Entsetzen sah, vermutete sie die Wahrheit.

»Gütiger Himmel!« rief sie aus. »Sie haben sie nicht gesehen! Sie hat Ihnen ihr Gesicht hinter dem Schleier verborgen! Ach, warum, warum verleiteten Sie mich davon zu sprechen? Nie will ich wieder dessen erwähnen. Sehen Sie, wir ängstigen das Kind! Komm her, mein Liebling und fürchte Dich nicht. Komm und bringe Deinen Kuchen her. Du bist nun eine Dame und gibst ein großes Diner und wir sind Deine beiden Freunde, die Du eingeladen hast, die Puppe ist Dein kleines Mädchen, die nach dem Essen hereinkommt und vom Obst und Dessert bekommt!«

So fuhr sie fort mit dem Kinde allerlei Spielereien zu treiben, in der vergeblichen Hoffnung, mich dadurch den Schmerz vergessen zu machen, den sie mir bereitet hatte.

Als ich einigermaßen meine Fassung wiedererlangt hatte, tat ich mein Möglichstes ihr in ihrem Bestreben behilflich zu sein. Bei ruhiger Überlegung sagte ich mir, dass sie vielleicht einer Selbsttäuschung unterlag, indem sie das entsetzliche Bild, das sie in ihrer Vision gesehen, nun auch wirklich vorhanden glaubte. Unmöglich konnte ich, wenn ich Miss Dunroß nur die allgemeine Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte, einzig auf das Zeugnis eines Traumes hin, die Überzeugung von ihrer Ungestaltenheit in mir Wurzel schlagen lassen und doch, so vernünftig diese Ansicht war, blieben in meinem Herzen, nach dem was ich gehört hatte, gewisse Zweifel zurück. Des Kindes richtiger Instinkt entdeckte bald, dass seine Mutter und ich schlechte Spielgefährten wären, die sich nicht mit ganzer Seele der Sache widmeten. Sie entließ die vorgeblichen Gäste ohne Umstände und kehrte mit ihrer Puppe nach dem Flur vor der Tür zurück, wo ich sie vorgefunden hatte und wo sie am liebsten spielte. Es gelang weder ihrer Mutter noch mir, sie durch irgend welche Überredungskünste zurückzulocken. Wir blieben uns selbst überlassen und setzten uns nun ratlos gegenüber, indem das verbotene Thema über Miss Dunroß zwischen uns stand.


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