John Jagos Geist



Achtes Kapitel - Das Bekenntnis

Meine Antworten auf die Fragen des Advokaten stimmten vollkommen mit meinen Überzeugungen überein. Die Geschichte, welche uns Ambrosius erzählt, hatte in meinen Augen ganz den Anschein einer erdichteten und zwar einer plump erdichteten, mit der er den einfachen Tatbestand, wie er aus den Zeugenaussagen hervorging, in Verwirrung zu bringen hoffte. Ich kam mit Widerstreben und Bedauern zu diesem Schluß um Naomis Willen und suchte so viel als möglich ihr absolutes Vertrauen auf die Entlassung der Gefangenen beim nächsten Verhör zu erschüttern.

Der Tag desselben rückte heran.

Naomi und ich begaben uns wieder zusammen nach dem Gerichtssaal, Mr. Meadowcroft war heut nicht im Stande das Haus zu verlassen, aber seine Tochter war anwesend, und wie sie allein hingekommen war, so hatte sie auch einen Platz für sich allein.

Bei seinem zweiten Erscheinen vor den Schranken zeigte sich Silas gefasster und mehr wie sein Bruder. Die Anklage rief keine weiteren Zeugen auf. Die Sitzung wurde mit dem medizinischen Gutachten über die verbrannten Knochen eröffnet und wir trugen bis zu einem gewissen Grade den Sieg davon; in andern Worten wir zwangen die Ärzte zu dem Bekenntnis, daß sie in ihren Ansichten weit auseinander gingen. Drei gestanden, daß sie ihrer Sache nicht sicher wären. Zwei gingen noch weiter und erklärten, daß die Knochen von einem Tiere und nicht von einem Menschen herrührten. Wir zogen so viel Vorteil daraus, als wir konnten, und gingen dann auf Ambrosius Meadowcrofts Erzählung gestützt, zur Verteidigung über.

Natürlich konnten von unserer Seite keine Zeugen beigebracht werden. Ob dieser Umstand ihn entmutigte oder ob er meine Ansicht über die Behauptungen seines Klienten innerlich teilte, genug, der Verteidiger brachte keine Wirkung mit seiner Rede hervor. Er tat sein Bestes ohne Zweifel, aber ohne innere Überzeugung und Ernst. Naomi warf einen ängstlichen Blick auf mich, als er sich setzte. Des Mädchens Hand war eiskalt., als ich sie ergriff.Sie sah in dem Gesicht und dem Benehmendes öffentlichen Anklägers deutlich., daß die Verteidigung fehlgeschlagen war, aber sie wartete entschlossen, bis der Präsident seinen Entscheid abgab. Ich hatte nur zu richtig dasjenige vorausgesehen, was er für seine Pflicht halten würde. Naomis Kopf sank auf meine Schulter, als er die schrecklichen Worte aussprach, welche Ambrosius und Silas Meadowcroft wegen Mordes vor die Geschworenen verwies.

Ich führte sie aus dem Gerichtssaal an die frische Luft. Als wir an der Anklagebank vorüber kamen, sah ich Ambrosius totenblass uns nachsehen; die Entscheidung des Präsidenten hatte ihn offenbar unerwartet getroffen. Sein Bruder Silas war vor Schrecken auf den Stuhl des Gefängniswärters gesunken und der elende Mensch zitterte und bebte wie ein geschlagener Hund.

Miß Meadowcroft kehrte mit uns heim, ohne auf dem ganzen Wege das Schweigen zu brechen. Ich konnte in ihrem Benehmen nichts entdecken, was auf ein Gefühl des Mitleids mit den Gefangenen in dieser harten, verschlossenen Natur gedeutet hätte. Nachdem sich Naomi auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte, blieben wir einige Augenblicke mit einander allein und da zeigte es sich zu meinem Erstaunen, daß die äußerlich herzlose Frau doch auch eine Tochter Evas war und wie Andere empfinden und leiden konnte, wenn auch in ihrer eigenen harten Weise. Sie trat plötzlich ganz dicht an mich heran und fragte, indem sie mir die Hand auf den Arm legte:

»Sie sind ein Jurist, nicht wahr?«

»Ja.«

»Haben Sie schon Erfahrungen in Ihrem Berufe ?«

»Die Erfahrungen einer zehnjährigen Praxis.»

»Glauben Sie also —« sie brach plötzlich ab, ihre harten Züge nahmen einen mildern .Ausdruck an, ihre Blicke senkten sich zu Boden. »Aber nein,« sagte sie verwirrt, »ich bin von all’ dem Elend ganz außer mir, obwohl man mirs nicht ansieht. Geben Sie nicht Acht auf mich.«

Sie wandte sich weg. Ich wartete in der festen Überzeugung, daß die unausgesprochene Frage sich dennoch binnen Kurzem über ihre Lippen drängen würde. Ich hatte Recht. Sie kam, obgleich widerstrebend, zu mir zurück, wie von einem Impulse beherrscht und getrieben, dem zu widerstreben all ihre Willenskraft nicht fähig war. .

»Glauben Sie, daß John Jago noch unter den Lebenden weilt?«

Sie tat die Frage mit einer Hast, als ob ihr die Worte wider ihren Willen entschlüpftem «

»Ich glaube es nicht,« erwiderte ich.

»Bedenken Sie, was John Jago von meinen Brüdern zu erdulden gehabt hat. Könnte er nicht den plötzlichen Entschluss gefasst haben, die Farm zu verlassen? Ist Ihnen dergleichen nicht schon vorgekommen?«

Ich antwortete so offen wie vorher, daß mir dergleichen nicht vorgekommen wäre. Sie stand eine Weile da und sah mich mit einer Miene heller Verzweiflung an, dann neigte sie schweigend ihr graues Haupt und verließ mich. Im Hinausgehen sah ich sie noch aufwärts blicken und hörte sie die leisen Worte murmeln: »Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.«

Das war die Totenmesse John Jagos, gehalten von der Frau, die ihn liebte.

Als ich sie wiedersah, trugen ihre Züge den alten steinernen Ausdruck, Miß Meadowcroft war wieder sie selbst. Sie konnte mit unerschütterlicher Ruhe dabei sitzen, während die Rechtsgelehrten über die schreckliche Lage ihrer Brüder diskutierten — mit dem Schafott als einem der möglichen Ausgänge des Prozesses vor Augen.

Mir selbst überlassen.. fing ich an, mich wegen Naomi zu beunruhigen. Ich ging hinauf, klopfte sachte an ihre Tür und fragte von draußen, wie es ihr ginge.

»Ich suche mich an den Gedanken zu gewöhnen, ich möchte Sie nicht betrüben, wenn wir uns wieder begegnen,« sagte ihre klare jugendliche Stimme.

Ich stieg wieder hinunter, zum ersten Male argwöhnisch über die wahre Natur meines Interesses für die junge Amerikanerin. Warum hatte ihre Antwort mir Tränen ins Auge gelockt? Ich ging allein spazieren, um ungestört meinen Gedanken nachhängen zu können.Warum tönte mir ihre Stimme auf dem ganzen Wege im Ohr? Warum fühlte ich noch den letzten leisen Druck ihrer Hand, mit dem sie mir gedankt, als ich sie aus dem Gerichtssaal hinausgeführt hatte?

Ich fasste plötzlich den Entschluss, nach England zurückzukehren.

Als ich nach der Farm heimkam, war es Abend. Die Lampe in der Halle war noch nicht angezündet, und wie ich stehen blieb, um meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, hörte ich die Stimme des Advokaten, den wir zum Verteidiger genommen hatten, sehr ernst mit Jemand sprechen.

»Ich habe keine Schuld,« sagte die Stimme.

»Sie nahm mir das Papier aus der Hand, noch ehe ich es gewahr wurde.«

»Wollen Sie es zurück haben?« fragte die Stimme Miß Meadowcrofts.

»Nein, es ist nur eine Kopie. Wenn der Besitz desselben zu ihrer Beruhigung beiträgt, so mag sie es jedenfalls behalten. Guten Abend.«

Bei diesen letzten Worten näherte sich mir der Advokat, um zum Hause hinaus zu gehen.Ich hielt ihn sofort fest. Ich empfand eine unbesiegbare Neugierde mehr zu erfahren.

»Wer nahm Ihnen das Papier aus der Hand?« fragte ich ohne Umschweife.

Der Advokat fuhr überrascht zurück., denn er hatte mich dort nicht vermutet, und die Gewohnheit seines Berufs, erst zu überlegen, ehe er sprach, machte, daß er auch jetzt nicht sofort antwortete

In der kurzen Pause, welche entstand, bemächtigte sich Miß Meadowcroft des Wortes und rief mir vom andern Ende der Halle zu:

»Naomi Colebrook wars, die ihm das Papier aus der Hand nahm.«

»Welches Papier?« fragte ich.

Hinter mir wurde eine Tür leise geöffnet, und Naomi selbst erschien auf der Schwelle.

»Ich will es Ihnen sagen,« flüsterte sie. »Kommen Sie hier herein.«

Nur ein einziges Licht brannte in dem Zimmer und beleuchtete schwach die Züge des Mädchens, aber ich sah sie dennoch deutlich genug., um augenblicklich meinen Entschluss nach England zurückzukehren, zu den übrigen aus.gegebenen Entschlüssen meines Lebens zu werfen.

»Mein Gott, was ist wieder geschehen?« rief ich.

Sie reichte mir das Papier, welches sie dem Advokaten fortgenommen hatte.

Die Kopie, von welcher dieser gesprochen, war die eines schriftlichen Bekenntnisses von Silas Meadowcroft, welches dieser nach seiner Rückkehr ins Gefängnis aufgesetzt hatte. Er beschuldigte darin seinen Bruder, den Mord an John Jago verübt zu haben und erklärte sich bereit einen Schwur darauf abzulegen, daß er Ambrosius die Tat hätte vollbringen sehen.

Ich konnte kaum meinen Augen trauen und las die letzten Worte des Schriftstücks zum zweiten Male.

»— — — Ich vernahm ihre Stimmen beim Kalkofen. Sie hatten Streit über unsere Cousine Naomi. Ich rannte sofort hin, um sie zu trennen, kam aber zu spät. Ich sah wie Ambrosius mit seinem schweren Knüttel dem Verstorbenen einen furchtbaren Schlag über den Kopf versetzte, so daß dieser lautlos zu Boden stürzte. Ich legte ihm die Hand auf das Herz: es schlug nicht mehr! Meine Angst kann ich nicht beschreiben. Ambrosius drohte mir, daß er mich auch umbringen würde, falls ich eine Silbe zu irgend einer lebenden Seele verlauten ließe. Er hob den Leichnam auf und warf ihn in den brennenden Kalk und den Stock hinterdrein. Darauf gingen wir zusammen ins Gehölz und setzten uns am Rande desselben auf einen gefällten Baumstamm. Hier erfand Ambrosius die Geschichte, die wir erzählen ;wollten, im Fall die Sache ruchbar würde, und ich mußte sie ihm wie eine Lektion mehrmals hersagen. Wir waren noch damit beschäftigt, als Cousine Naomi und Mr. Lefrank auf uns zu kamen. Sie wissen das Übrige. Dies ist bei meinem Eid ein wahres Bekenntnis. Ich lege es aus freiem Willen ab und bereue es aufrichtig, es nicht schon früher getan zu haben. Silas Meadowcroft.«

Ich legte das Papier nieder und sah Naomi an. Sie war wunderbar gefasst und aus ihren Zügen sprach eine unerschütterliche Entschlossenheit. Ebenso klang ihre Stimme fest und entschlossen, als sie sagte:

»Silas hat seinen Bruder geopfert, um sich zu retten. Ich lese Feigheit und Grausamkeit in jeder Zeile feines Bekenntnisses Ambrosius ist unschuldig und die Zeit ist da, es zu beweisen.«

»Sie vergessen,« sagte ich, »daß uns dieser Beweis eben missglückt ist.«

»John Jago lebt und verbirgt sich, vor uns und allen seinen Bekannten,« fuhr sie fort. »Helfen Sie mir, Freund Lefrank, ihn durch die Zeitungen aufzufinden.«

Ich wandte mich in sprachlosem Schmerz von ihr ab, denn ich gestehe, daß ich glaubte, das neue Elend, welches sie getroffen., hätte ihr Gehirn afficirt.

»Sie glauben es nicht,« sagte sie. »Verschließen Sie die Tür.«

Ich gehorchte. Sie setzte sich und deutete auf einen Stuhl neben sich. «

»Nehmen Sie Platz,« sagte sie. »Ich bin im Begriff etwas Unrechtes zu tun, aber ich kann nicht anders, ich muß mein Wort brechen. Sie erinnern sich jenes Mondschein-Abends, an welchem ich auf dem Kiespfade im Garten mit ihm zusammen traf?«

»Mit John Jago?«

»Ja. Nun hören Sie zu. Ich werde Ihnen erzählen, was dort zwischen uns beiden vorging.«


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