Die Blinde
Achtes Kapitel - Nugent findet einen Ausweg.
Wir setzten uns ans Klavier, wie Lucilla es vorgeschlagen hatte; sie bat mich zuerst, etwas allein zu spielen. Ich lehrte sie damals gerade eine Sonate von Mozart und versuchte es nun, diese Lection fortzusetzen; aber ich spielte an diesem Tage so schlecht wie nie zuvor. Die göttliche Heiterkeit und Vollkommenheit, welche Mozart’s Musik nach meinem Urtheil vor aller übrigen Musik auszeichnet, kann nur von einem Spieler würdig wiedergegeben werden, der sich mit ganzem Gemüthe ungetheilt dem Werke hingibt. In meiner verzehrenden Angst konnte ich jene himmlischen Ideen nur profaniren, konnte ich sie nicht wiedergeben. Lucilla ließ es gelten, als ich mich entschuldigte, und setzte sich statt meiner ans Klavier.
Eine halbe Stunde herging ohne Nachricht von Browndown.
An und für sich ist eine halbe Stunde gewiß ein sehr kurzer Zeitraum; wenn man aber mit angstvoller Spannung einer Nachricht harrt, so ist sie eine Ewigkeit. Jede Minute, die verfloß, ohne daß Lucilla aus ihrer Täuschung gerissen wurde, empfand ich wie einen Gewissensbiß. Je länger wir sie in ihrer Täuschung verharren ließen, desto peinlicher mußte die Erfüllung der harten Pflicht, sie aufzuklären, werden. Ich wurde immer unruhiger; Lucilla ihrerseits fing an, über Ermüdung zu klagen; nach der Aufregung, die sie durchgemacht hatte, kam jetzt die unvermeidliche Reaction. Ich rieth ihr, auf ihr Zimmer zu gehen und sich auszuruhen. Sie befolgte meinen Rath. In dem Gemüthszustande, in welchem ich mich befand, gewährte mir es unaussprechliche Erleichterung, allein zu sein.
Nachdem ich eine Weile im Zimmer auf- und abgegangen war und vergebens versucht hatte, einen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu finden, die uns jetzt bedrängten, entschloß ich mich, nicht länger auf die Nachrichten, die nicht kommen wollten, zu warten. Die Brüder waren noch immer in Browndown und ich beschloß daher, dorthin zurückzukehren.
Ich öffnete leise die Thür von Lucilla’s Zimmer und blickte hinein; sie schlief. Nachdem ich Zillah ans Herz gelegt hatte, gut für ihre junge Herrin zu sorgen, schlüpfte ich zum Hause hinaus.
Als ich über den Rasen ging, hörte ich die Gartenthür sich öffnen. Einen Augenblick später stand der Mann, den zu sehen mich so sehnlich verlangt hatte, stand Nugent Dubourg vor mir. Er hatte sich von Oscar den Schlüssel geliehen und war allein nach dem Pfarrhause gekommen, um mir zu sagen, was zwischen ihm und seinem Bruder vorgefallen sei.
»Das ist das erste Angenehme, das mir heute begegnet«, sagte er. »Ich hatte mir gerade überlegt, wie ich es wohl möglich machen könnte, Sie allein zu sprechen. Und da kommen Sie mir allein entgegen. Wo ist Lucilla? Können wir darauf rechnen, hier im Garten ungestört zu bleiben?«
Ich beruhigte ihn in Betreff dieser beiden Punkte. Er sah entsetzlich bleich und verstört aus. Noch ehe er die Lippen öffnete, sah ich, daß auch er, seit ich ihn verlassen, einen schweren Kampf gekämpft habe.
Am Ende des Gartens befand sich ein Pavillon mit der Aussicht über die einsam daliegenden Hügel Hier setzten wir uns nieder und hier eröffnete ich in meiner ungestümen Weise die Unterhaltung mit der furchtbaren Frage: »Wer soll sie über ihren Irrthum aufklären?«
»Niemand.«
Diese Antwort machte mich sofort stutzig. Voll Verwunderung und schweigend sah ich Nugent an.
»Da ist nichts zu verwundern, lassen Sie mich Ihnen in zwei Worten meine Auffassung der Sache darlegen. Ich habe ein ernstes Gespräch mit Oscar gehabt.«
Die Unfähigkeit der Frauen, ohne zu unterbrechen zuzuhören, ist sprichwörtlich und ich bin nicht besser als meine Mitschwestern. Ich unterbrach ihn, ehe er fortfahren konnte, mit der Frage:
»Hat Oscar Ihnen gesagt, wie Lucilla zu dem Mißverständniß gekommen ist.«
»Das weiß er so wenig, wie Sie es wissen können. Er bekennt, daß er, als er ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, seine Geistesgegenwart völlig verlor; er wußte in jenem Augenblick selbst nicht, was er sagte. Er verlor den Kopf und sie die Geduld in dem Conflict .Stellen Sie sich seine nervöse Verwirrung und ihre nervöse Reizbarkeit vor und Sie werden sehen, das nichts anderes daraus entstehen konnte, als Mißverständniß und Täuschung. Seit Sie uns verlassen, habe ich mir die Sache reiflich überlegt und es als das einzig Richtige erkannt, mich in die mir bereitete Lage zu finden. Einmal zu diesem Entschlusse gelangt, habe ich der Sache, wie ich es in der Regel bei Schwierigkeiten thue, dadurch ein Ende gemacht, daß ich den gordischen Knoten zerschnitt. Ich sagte zu Oscar: »Würde es Dich erleichtern, wenn man sie bei ihrer jetzigen Meinung verharren ließe, bis Du verheirathet bist?« Sie kennen ihn und ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, was er mir antwortete »Gut«, sagte ich, »trockene Deine Thränen und beruhigte Dich. Ich habe mich einmal zum »Blaugesicht« machen lassen und ich will bis auf Weiteres »Blaugesicht« bleiben. Ich will Sie mit der Schilderung von Oscar’s Dankbarkeit verschonen. Er nahm meinen Vorschlag an. Das ist mein Ausweg aus der Schwierigkeit.«
»Es ist unwürdig und verktehrt« antwortete ich.
»Ich protestire dagegen, daß Lucilla’s Blindheit auf diese grausame Weise gemißbraucht werde. Ich erkläre, daß ich nichts damit zu thun haben will.«
Er zog seine Cigarrentasche hervor und nahm sich eine Cigarre.
»Thun Sir, was sie wollen«, sagte erz, »Sie haben gesehen, in welchem jammervollen Zustande sie sich befand, als sie sich bei der Unterredung mit mir Gewalt anthat. Sie haben gesehen, wie sie dabei schließlich von Widerwillen und Entsetzen Überwältigt wurde. Nun übertragen Sie diesen Widerwillen und dieses Entsetzen auf Oscar, fügen in seinem Fall noch ihre Entrüstung und Verachtung hinzu und setzen Sie ihn, wenn Sie den Muth dazu haben, den Folgen der Erregung solcher Gefühle bei Lucilla aus, bevor er sich den Einfluß eines Gatten auf ihr Gemüth und den Platz eines Gatten in ihrem Herzen gesichert hat. Ich liebe den armen Jungen und ich habe nicht den Muth dazu. Darf ich mir eine Cigarre anzünden?«
Ich nickte zustimmend. Bevor ich aber etwas weiteres sagte, fühlte ich das Bedürfniß, diesen unergründlichen Menschen womöglich zu verstehen. Es machte mir keine Schwierigkeit mir seine Bereitwilligkeit, sich für Oscar’s Ruhe zu opfern, zu erklären. Er that nie etwas halb, er liebte es, Schwierigkeiten zu trotzen, vor welchen andere Männer zurückgeschreckt sein würden. Derselbe Eifer, seinem Bruder zu dienen, mit dem er Oscar in seinem Proceß das Leben gerettet hatte, mochte ihn auch jetzt beseelen. Was mir unerklärlich schien, war nicht das von ihm eingeschlagene Verfahren, sondern die Sprache, in welcher er sich vor mir zu rechtfertigen suchte und noch mehr sein Benehmen, seine Art mit mir zu reden. Der wohlerzogene begabte junge Mann, als welchen ich ihn früher kennen gelernt, hatte sich jetzt in den trotzigsten und unliebenswürdigsten Menschen verwandelt. Er erwartete, was ich ihm aus seine Aeußerungen zu erwidern haben werde, mit einer herausfordernden und verzweifelten Miene, welche durch die Umstände durchaus nicht motivirt erschien und in keinem Einklange mit seinem Charakter, so weit ich denselben zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte, stand. Daß dahinter etwas stecke, daß eine geheime Triebfeder in ihm arbeite, die er vor seinem Bruder und vor mir verbarg, lag mir so klar vor Augen, wie der Sonnenschein und der Schatten in der Aussicht, die ich vom Pavillon aus hatte. Aber worin dieses Etwas bestand oder was diese geheime Triebfeder war, das zu errathen war mir, trotz des Aufgebots meines ganzen Scharfsinns, nicht möglich. Nicht der entfernteste Gedanke an die schreckliche Wahrheit, die er vor mir verbarg, kam mir in den Sinn. Ich saß ihm gegenüber, die unbewußte Zeugin des Conflicts, in welchem dieser unglückliche Mensch mit dem Wunsche, seinem Bruder treu zu bleiben und mit der verzehrenden Leidenschaft, die sich seiner bemächtigt hatte, rang. So lange Lucilla ihn fälschlich durch die Medicin entstellt glaubte, mußte Jeder es als eine selbstverständliche Rücksicht auf ihre Ruhe betrachten, daß er sich von ihr fern hielt. In dieser Trennung war für ihn die letzte Möglichkeit gegeben, eine unübersteigliche Grenze zwischen sich und Lucilla zu erheben. Er hatte bereits vergebens versucht, sich selbst ein anderes Hinderniß in den Weg zu stellen; er hatte umsonst versucht, die Heirath, welche Lucilla als das Weib seines Bruders für ihn geheiligt haben würde, zu beschleunigen. Nachdem ihm dieser Versuch mißlungen war, blieb ihm nur noch ein einziges ehrenvolles Mittel, ihr bis zu ihrer Verheirathung mit Oscar fern zu bleiben. Er hatte die Lage, in welche Oscar ihn versetzt hatte, als das einzige Mittel, seinen Zweck zu erreichen, ohne Verdacht zu erregen, acceptirt und als Lohn für dieses Opfer war ich ihm in meiner Unwissenheit mit verstockter Opposition entgegengetreten! Das waren die Motive, die reinen, edlen Motive, die ihn, wie ich jetzt weiß, damals beseelten. Die Aufklärung der trotzigen Sprache, die mich irre machte, das herausfordernde Wesen, das mich unangenehm berührte, sollten die der Zukunft vorbehaltenen Ereignisse bringen.
»Nun?« fragte er. »Sind wir Verbündete oder nicht? Sind Sie für mich oder gegen mich?«
Ich gab den Versuch auf, ihn zu versichert und beantwortete seine deutliche Frage ebenso deutlich:
»Ich leugne nicht, daß ihre Kenntniß der wahren Sachlage ernste Folgen nach sich ziehen kann. Aber trotz alledem will ich an der Grausamkeit ihrer Täuschung keinen Theil haben.«
Nugent erhob warnend seinen Zeigefinger:
»Halten Sie inne und denken Sie nach, Madame Pratolungo. Das Unglück, das Sie anrichten können, ist, wie die Dinge stehen, unermeßlich. Es wäre unnütz, Sie zu bitten, Ihren Sinn zu ändern. Ich will Sie nur bitten, ein wenig zu warten. Wir haben noch reichlich Zeit bis zum Hochzeitstage. Es kann sich etwas ereignen, das Ihnen die Nothwendigkeit, Lucilla selbst aufzuklären, ersparen würde.«
»Was kann sich ereignen?« fragte ich.
»Lucilla kann ihn vielleicht noch sehen, wie wir«, antwortete Nugent. »Lucilla kann vielleicht mit ihren eigenen Augen die Wahrheit entdecken?«
»Wie? Haben Sie Ihre tolle Idee, ihre Blindheit zu heilen noch immer nicht aufgegeben?«
»Ich werde diese Idee nicht eher ausgeben, als bis der deutsche Arzt sie für toll erklärt.«
»Haben Sie Oscar etwas davon gesagt?
»Kein Wort. Ich werde Niemandem außer Ihnen ein Wort davon sagen, bis der deutsche Arzt den englischen Boden betreten hat.«
»Erwarten Sie ihn noch vor der Hochzeit?«
»Gewiß; er würde zugleich mit mir von Newport abgereist sein, wenn er nicht eines Patienten wegen hätte dort bleiben müssen. Er wird sich aber durch keine neuen Patienten länger in Amerika halten lassen. Er hat sich durch seine außerordentlichen Erfolge ein Vermögen erworben, sein sehnlichstes Verlangen ist es, England zu sehen, und seine Mittel erlauben es ihm, diesen Wunsch zu befriedigen. Er kann schon mit dem nächsten Dampfboot in Liverpool eintreffen«
»Und dann wollen Sie ihn nach Dimchurch bringen?«
»Ja, wenn Lucilla nichts dagegen hat.«
»Und wenn nun Oscar etwas dagegen hat? Sie hat sich mit Resignation in den Gedanken, bis an ihr Ende blind zu sein, gefunden. Wenn Sie sie aus dieser Resignation nutzlos aufstören, so können Sie sie für ihre Lebenszeit unglücklich machen. An Ihres Bruders Stelle würde ich mich weigern, eine solche Gefahr zu laufen.«
»Mein Bruder hat ein zwiefaches Interesse, diese Gefahr zu laufen. Ich wiederhole, was ich Ihnen bereits gesagt habe. Das physische Resultat wird, wenn ihre Sehkraft wieder hergestellt werden kann, nicht das einzige sein. Sie wird dadurch nicht nur einen neuen Sinn, sondern auch einen neuen Geist erhalten. Oscar hat, so lange sie blind ist, von ihrer krankhaften Einbildung alles zu fürchten. Lassen Sie nur erst ihre Augen ihre Phantasie berichtigen, lassen Sie sie ihn nur erst sehen, wie wir ihn sehen und sich an seinen Anblick gewöhnen, wie wir uns an denselben gewöhnt haben, und Oscar’s Zukunft ist gesichert. Wollen Sie also auf die Chance hin, daß der deutsche Arzt hier vor dem Hochzeitstage eintreffen kann, die Dinge für den Augenblick lassen wie sie sind?«
Dazu erklärte ich mich bereit, unbewußt beeinflußt von dem merkwürdigen Zusammentreffen dessen, was Nugent eben über Lucilla gesagt hatte, mit dem, was Lucilla selbst einige Stunden früher zu mir gesagt hatte. Unleugbar fanden Nugent’s Aufstellungen, gewagt wie sie schienen, eine gewisse Bestätigung in Lucilla’s Auffassung ihres eigenen Falles.
Nachdem wir uns so über die zwischen uns obwaltende Differenz geeinigt hatten, brachte ich das Gespräch demnächst auf die schwierige Frage, wie sich Nugent’s Beziehungen zu Lucilla gestalten sollten.
»Wie wollen Sie ihr, nach dem Eindruck, den Sie heute auf sie hervorgebracht, wieder entgegentreten?« fragte ich.
Ueber diese Seite der Frage drückte er sich viel weniger schroff aus. Seine Sprache und sein Wesen waren wieder viel angenehmer.
»Wenn es mir nachgegangen wäre«, sagte er, »so wäre Lucilla in diesem Augenblick von jeder Furcht, mir wieder zu begegnen, befreit. Sie würde durch Sie oder Oskar erfahren, daß Geschäfte mich genöthigt haben, Dimchurch zu verlassen.«
»Will Oscar Sie nicht fortlassen?«
»Er wollte nichts von meinem Fortgehen hören. Ich that mein Bestes, ihn zu überreden, ich versprach ihm, zur Hochzeit wieder herzukommen. Alles vergebens. »Wenn Du mich hier über das Unglück, das ich angerichtet habe und die Opfer, die ich Dir abgezwungen habe, brüten lässest«, sagte er, »so wirst Du mir das Herz brechen. Du weißt nicht, wie ermuthigend Deine Gegenwart auf mich wirkt; Du weißt nicht, welche Lücke Du in mein Leben reißest, wenn Du fortgehst!« Ich bin gerade so schwach wie Oscar, wenn er so mit mir redet. Gegen meine bessere Ueberzeugung und gegen meinen Wunsch gab ich nach. Es wäre besser, viel, viel besser gewesen, ich wäre fortgegangen!«
Er sprach diese letzten Worte in einem Ton der Verzweiflung, der mich erschreckte. Wie wenig verstand ich ihn damals und wie gut verstehe ich ihn jetzt! Aus diesen melancholischen Worten sprach der letzte Rest seiner Ehre, seiner Treue. Unglückliche unschuldige Lucilla! Unglücklicher, schuldiger Nugent!
»Und nun bleiben Sie in Dimchurch?« nahm ich wieder auf, »was werden Sie beginnen?«
»Ich muß Alles aufbieten, ihr die nervösen Qualen zu ersparen, welche ich ihr heute so sehr gegen meinen Willen bereitet habe. Ueber den krankhaften Widerwillen, den sie in meiner Gegenwart empfindet, vermag sie nichts, — das sehe ich deutlich. Ich werde mich von ihr fern zu halten suchen, werde mich langsam von ihr zurückziehen, so daß ihr meine Abwesenheit nicht auffällt. Ich werde meine Besuche im Pfarrhause immer seltener werden lassen und immer länger in Browndown bleiben. Wenn sie erst verheirathet sind ——«, plötzlich hielt er inne; die Worte schienen ihm in der Kehle stecken zu bleiben; er machte sich mit dem Wiederanzünden seiner Cigarre zu schaffen und brauchte sehr viel Zeit dazu.
»Wenn sie erst verheirathet sind?« wiederholte ich, »nun, was dann?«
»Wenn Oscar erst verheirathet ist, wird er meine Gegenwart nicht mehr unerläßlich zu seinem Glücke finden und dann werde ich Dimchurch verlassen.«
»Dann werden Sie aber doch einen Grund angeben müssen.«
»Ich werde den wahren Grund angeben; ich kann hier, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, kein Atelter finden, das groß genug wäre. Und selbst wenn ich ein Atelier finden könnte, so würde ich doch in Dimchnrch nichts Ordentliches schaffen können. Mein Geist würde an diesem entlegenen Orte einrosten. Mag Oscar hier als verheiratheter Mann ein ruhiges Leben führen. Ich muß eine für mich passendere Atmosphäre, die Atmosphäre von London oder Paris aufsuchen.«
Er seufzte und heftete seine Blicke wie abwesend auf die vor uns liegende Hügellandschaft.
»Es macht mir einen sonderbaren Eindruck, Sie niedergeschlagen zu sehen«, sagte ich. »Ihre gute Laune schien ganz unerschöpflich an jenem ersten Abend, als Sie Herrn Finch beim Vorlesen des Hamlet unterbrachen.«
Er warf das Ende seiner Cigarre fort und lachte bitter.
»Wir Künstler bewegen uns immer in Extremen«, sagte er. »Was glauben Sie wohl, was ich gerade eben als Sie mich anredeten wünschte?«
»Wie kann ich das rathen?«
»Ich wünschte, ich wäre nie nach Dimchurch gekommen.«
Noch ehe ich ein Wort antworten konnte, drang die Stimme Lucilla’s, die vom Garten aus nach mir rief, an unser Ohr. Nugent erhob sich rasch.
»Haben wir uns Alles gesagt, was wir zu sagen hatten?« fragte er.
»Ja — für heute gewiß.«
»Für heute, leben Sie also wohl!«
Er sprang aus, faßte den hölzernen Querbalken über dem Eingang des Pavillons, schwang sich von hier auf die darunter liegende Gartenmauer und verschwand in den jenseits derselben liegenden Feldern.
Ich beantwortete Lucilla’s Ruf und beeilte mich ihr entgegen zu gehen. Ich traf sie aus dem Rasen; sie sah verstört und bleich aus, als ob sie etwas erschreckt hätte.
»Ist im Pfarrhause Jemandem etwas zugestoßen?« fragte ich.
»Niemandem außer mir. Wenn ich einmal wieder über Ermüdung klage, rathen Sie mir nicht, mich aus mein Bett zu legen.«
»Warum nicht? Ich habe nach Ihnen gesehen, bevor ich hierher ging. Sie waren fest eingeschlafen, ein Bild sanfter Ruhe.«
»Ruhe? Da sind Sie völlig im Irrthum. Ich träumte einen fürchterlichen Traum.«
»Sie waren vollkommen ruhig, als ich nach Ihnen sah.«
»Dann muß es gewesen sein, nachdem Sie nach mir gesehen haben. Lassen Sie mich heute Nacht bei Ihnen schlafen. Ich möchte um keinen Preis allein sein, wenn ich diesen Traum wieder träumen sollte.«
»Und was war dieser Traum?«
»Mir träumte, daß ich in meinem Hochzeitskleide vor dem Altar einer sonderbaren Kirche stehe und daß ein Geistlicher, dessen Stimme ich nie gehört hatte, mich traue.«
Plötzlich hielt sie inne und fuhr mit der Hand ungeduldig durch die Luft.
»Trotz meiner Blindheit«, sagte sie, »sehe ich ihn jetzt wieder.«
»Den Bräutigam?«
»Ja.«
»Oscar?«
»Nein.«
»Weil denn?«
»Oscar’s Bruder, Nugent Dubourg!«
Ich weiß nicht, welche thörichte Anwandlung mich überkam, aber ich lachte laut auf.
»Was ist da zu lachen?« fragte sie zornig. »Ich sah sein scheußliches, entstelltes Gesicht, in meinen Träumen bin ich nie blind. Ich fühlte, wie er mir mit seiner blauen Hand den Ring auf den Finger steckte. Warten Sie! das Schlimmste kommt noch. Ich heirathete mit vollem Bewußtsein Nugent Dubourg, heirathete ihn, ohne nur einen Augenblick an meine Verheirathung mit Oscar zu denken. Ja, ja, ich weiß, es ist nur ein Traum. Aber doch ist mir der Gedanke daran unerträglich. Es ist mir schrecklich, selbst im Traume falsch gegen Oscar zu sein. Lassen Sie uns zu ihm gehen. Ich möchte von ihm hören, daß er mich noch liebt. Kommen Sie mit mir nach Browndown. Ich bin so nervös, ich mag nicht allein gehen. Kommen Sie mit mir!«
Ich versuchte es, mich von ihrer Begleitung nach Browndown los zu machen.
Wenn ich Nugent’s Entschluß mißbilligte, so betrachtete ich doch Oscar’s selbstsüchtige Schwäche, welche ihn das Opfer seines Bruders ruhig hatte annehmen lassen, mit noch viel ungünstigerem Auge.
Lucilla’s Verlobter war in meiner Achtung tief gesunken. Ich fühlte, daß wenn ich ihn in diesem Augenblick sehen müßte, ich leicht in die Gefahr kommen könnte, ihm zu sagen, was ich von ihm denke.«
»Glauben Sie, liebes Kind«, sagte ich zu Lucilla, »daß Sie mich zu dem, was Sie in Browndown wollen, nöthig haben?«
»Halte ich Ihnen das nicht schon gesagt«, erwiderte sie ungeduldig. »Ich bin so nervös, ich fühle mich so entsetzlich angegriffen, daß ich es nicht unternehmen darf, allein auszugehen. Fühlern Sie kein Mitleid mit mir? Denken Sie sich, Sie hätten geträumt, daß Sie Nugent anstatt Oscar heiratheten?«
»Und wenn nun? Dann würde ich nur geträumt haben, daß ich den liebenswürdigeren der beiden Männer geheirathet hätte.«
»Den liebenswürdigeren der beiden Männer? Das sieht Ihnen wieder recht ähnlich, immer ungerecht gegen Oscar.«
»Liebes Kind, wenn Sie sehen könnten, würden Sie selbst Nugents gute Eigenschaften würdigen.«
»Ich ziehe es vor, Oscars gute Eigenschaften zu würdigen.«
»Sie lassen sich von Vorurtheilen leiten, Lucilla.«
»Sie auch.«
»Sie haben Oscar zufällig zuerst kennen gelernt.«
»Das hat nichts damit zu thun.«
»Ja, ja. Wenn Nugent damals statt Oscar auf uns zugekommen wäre, wenn von den beiden bezaubernden Stimmen, die einander so ganz gleich sind, die eine statt der anderen sich hätte vernehmen lassen . . .«
»Ich mag nichts mehr davon hören.«
»Hoho! es war zufällig Oscar. Denken Sie sich die Sache umgekehrt und Nugent wäre der Rechte gewesen.«
»Madame Pratolungo. Ich bin nicht gewöhnt, mich insultiren zu lassen. Weiter habe ich Ihnen nichts zu sagen.«
Mit dieser würdevollen Antwort und mit dem anmuthigsten Erröthen, das je ein Mädchen geziert hat, kehrte mir Lucilla den Rücken und machte sich allein auf den Weg nach Browndown.
O, über meine rasche Zunge. O, über mein leicht erregbares südliches Temperament. Warum ließ ich mich von ihr zu einer gereizten Antwort verleiten. Warum ging ich, die Aeltere, ihr nicht mit dem guten Beispiele der Selbstbeherrschung voran? Wer kann das sagen? Wann hat je ein Weib gewußt, warum sie etwas that? Hat etwa Eva, als ihr die Schlange den Apfel anbot, gewußt, warum sie ihn aß? Keineswegs!«
Was sollte ich jetzt thun? Ich hatte mich beim Reden erhitzt, ich mußte mich also abkühlen und wollte dann Lucilla nachgehem um sie zu umarmen und mich wieder mit ihr zu versöhnen.
Aber entweder brauchte ich zu viel Zeit zum Abkühlen oder Lucilla ging in ihrer augenblicklichen Aufregung rascher als gewöhnlich. Kurz, sie hatte Browndown erreicht, ehe ich sie einholen konnte. Als ich die Hausthür öffnete, hörte ich sie und Oscar mit einander reden. Ich durfte sie nicht stören, besonders jetzt nicht, wo ich in Ungnade war. Während ich noch schwankte und überlegte, was ich jetzt thun solle, fiel mein Blick auf einen auf dem Tische in der Vorhalle liegenden Brief. Man ist nie neugieriger, als in solchen mäßigen Augenblicken, wo man nichts mit sich anzufangen weiß, ich sah mir die Adresse näher an. Der Brief war laut der Adresse an Nugent gerichtet und trug den Poststempel: Liverpool.
Ich schloß, wie ich unter den obwaltenden Umständen nicht anders konnte, richtig, daß der deutsche Augenarzt in England angekommen sei!
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