Mann und Weib
Zweiundzwanzigstes Kapitel - Erschreckt
Arnold war von der kurzen Antwort Geoffrey’s auf seine Frage etwas frappirt »Hat Sir Patrick Dir etwas Unangenehmes gesagt?« fragte er.
»Sir Patrick hat gerade das gesagt, was ich zu hören wünschte!«
»Hat es keine Schwierigkeiten mit Deiner Heirath?«
»Durchaus nicht!«
»Brauche ich nicht zu fürchten, daß Blanche ——«
»Sie wird Dich nicht mehr bitten, nach Craig-Fernie zu gehen, dafür stehe ich Dir.« Er sprach diese Worte mit sehr scharfer Betonung, nahm den Brief seines Bruders vom Tische, setzte seinen Hut auf und ging hinaus. Seine auf dem Rasen umherschlendernden Freunde begrüßten ihn; er ging rasch an ihnen vorüber, ohne ihren Gruß zu erwidern und ohne sie eines Blickes zu würdigen, und begab sich nach dem Rosengarten, wo er seine Pfeife aus der Tasche zog, sich dann aber wieder anders besann und auf einem andern Wege wieder zurückkehrte. Er konnte zu dieser Tagesstunde nicht darauf rechnen, im Rosengarten allein zu bleiben und empfand doch ein dringendes Verlangen nach Einsamkeit. Ihm war zu Muthe, als könnte er Jeden, der ihm in diesem Augenblicke in den Weg träte und ihn anredete, umbringen. Mit gesenktem Kopfe und finsterer Miene verfolgte er den Fußweg, um zu sehen, wohin derselbe führe. Er endete an dem hölzernen Gitterthor eines Küchengartens. Hier hatte er keine Störung zu befürchten. Der Küchengarten enthielt nichts, was einen Besucher hätte anziehen können. Er ging hinein bis zu einem in der Mitte des Gartens stehenden Wallnußbaum der von einer hölzernen Bank und einem breiten Rasenstreifen umgeben war. Nachdem er sich vorsichtig umgesehen, setzte er sich auf die Bank und zündete seine Pfeife an. »Ich wollte, es wäre vorüber!« sagte er vor sich hin. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, saß er rauchend und nachdenkend da. Aber nach kurzer Zeit trieb ihn die Ruhelosigkeit, die sich seiner bemächtigt hatte, wieder fort, er stand auf und ging um den Rasenstreifen wieder und wieder im Kreise herum, wie ein wildes Thier in seinem Käfig. Was bedeutete diese Störung des geistigen Gleichgewichts in diesem Menschen? Waren es Gewissensbisse die ihn jetzt plagten, nachdem er sich zu dem Verrath des Freundes entschlossen, der ihm sein Vertrauen geschenkt und ihm gedient hatte? Gewissensbisse plagten ihn so wenig, wie meine Leser in dem Augenblick, wo sie diese Worte lesen. Was ihn bewegte war einfach eine fieberhafte Ungeduld, glücklich an das Ziel, das er im Auge hatte, zu gelangen. Warum sollte er sich von Gewissensbissen plagen lassen? Jeder Gewissensbiß wird mehr oder weniger durch die Wirkung zweier Gefühle hervorgebracht, von denen keines dem natürlichen Menschen eingeboren ist. Das eine dieser Gefühle ist das Product der Selbstachtung, die wir gegen uns zu hegen lernen; das zweite Gefühl ist das Product der Achtung, die wir gegen Andere zu hegen gelehrt werden. In ihren höchsten Manifestationen steigern sich diese Gefühle, bis das erste zur Liebe Gottes und das zweite zur Nächstenliebe wird. Ich habe Dir etwas zu Leide gethan und bereue es; aber warum soll ich bereuen, wenn ich dadurch, daß ich Dir etwas zu Leide gethan habe, einen Vorteil für mich erziele? Ich bereue, weil eine innere Stimme mir sagt, daß ich gegen mich selbst und gegen Dich gesündigt habe. Der Instinct des natürlichen Menschen weiß nichts von den Kundgebungen einer solchen inneren Stimme und keines dieser Gefühle beunruhigte Geoffrey Delamayn, denn Geoffrey Delamayn war ein natürlicher Mensch.
Als die Idee seines Planes zuerst in ihm aufgetaucht war, hatte ihn die Neuheit desselben aufgeregt, das ungeheure Wagniß, dessen Tragweite ihm plötzlich offenbar wurde, hatte ihn überwältigt; die Zeichen der Aufregung, die er an dem Schreibtisch in der Bibliothek verrathen hatte, waren nur Zeichen einer geistigen Verwirrung, weiter durchaus nichts.
Nachdem aber die erste Aufregung vorüber war, befreundete er sich immer mehr mit dem Gedanken; er war jetzt ruhig genug, um die Schwierigkeiten und die möglichen Folgen seines Planes zu würdigen. Diese Schwierigkeiten und die Folgen waren es gewesen, die ihn anfänglich beunruhigt hatten, denn für diese hatte er einen sehr entwickelten Sinn. Was aber die Grausamkeit und den Verrath des Planes betraf, so regte sich auch nicht einmal der Gedanke an die Abscheulichkeit desselben in ihm. Die That, durch die er sich früher einmal den Dank Arnold’s verdient hatte, war nur die Handlung eines Hundes gewesen. Das »edle Thier«, das einen Menschen nur vor dem Ertrinken gerettet hat, wird zehn Minuten später den selben Menschen unter Umständen an der Kehle packen. Nehmen wir zu dem unvernünftigen Instincte des Hundes die berechnende Schlauheit eines Menschen, und vergegenwärtigen wir uns die Stimmung, in der man findet, daß ein geringfügiger Gegenstand, den man zufällig einmal vom Boden aufgelesen hat, Einem von Nutzen sein kann, so würden wir uns eine Vorstellung von den Empfindungen machen können, die Geoffrey seinem Freunde gegenüber erfüllten, wenn er sich der Vergangenheit erinnerte und in die Zukunft blickte. Arnold hatte ihn, als er ihn in dem kritischen Moment anredete, heftig gereizt und das war Alles. Diese unerschütterliche Unempfindlichkeit, derselbe primitive Zustand des sittlichen Menschen, ließ auch nicht die leiseste Spur von Mitleid für Anne in ihm aufkommen. »Jetzt bin ich sie los. Sie ist, ohne daß ich im Mindesten davon incommodirt wäre, versorgt!« war sein erster Gedanke. Nicht die geringste Besorgniß regte sich in ihm, keine Art von Bedenken tauchte in ihm auf, ob sie nicht, wenn sie sich einmal ihrer Situation klar bewußt werden, wenn sie sich vor die Alternative gestellt sehen werde, entweder einem sicheren Verderben entgegen zu gehen oder als letztes Hilfsmittel einen Anspruch auf Arnold zu erheben, das letztere thun werde. »Natürlich«, sagte er sich, »würde sie es thun«, denn er an ihrer Stelle würde es gethan haben. Aber er wollte die Sache um jeden Preis los sein. Es drängte ihn mit furchtbarer leidenschaftlicher Gewalt, während er so wieder und wieder um den Wallnußbaum im Kreise herumging, die Krisis zu beschleunigen und mit ihr zu Ende zu kommen. »Ich will meine Freiheit haben, damit ich mich um die Andere bewerben und mich für den Wettlauf einüben lassen kann. Den Beiden wehe gethan? Hole sie Beide der Teufel! Sie haben mir wehe gethan, sie sind meine schlimmsten Feinde, sie stehen nur im Wege.« Aber wie sie los werden, das war die Schwierigkeit. Er hatte den Entschluß gefaßt, sie heute los zu werden, aber wie sollte er das beginnen. Einen Streit mit Arnold vom Zaune zu brechen, war unthunlich. Ein solches Verfahren würde bei Artiold’s Verhältnis; zu Blanche ein Aufsehen erregen, das ihn bei Mrs. Glenarm in ein schlechtes Licht setzen mußte. Mit dem einsamen und freundlosen Weibe, deren Geschlecht und Stellung gleichermaßen gegen sie sprechen würden, wenn sie es versuchen sollte, einen Scandal aus der Sache zu machen, mußte er beginnen. Die Sache mußte sein für alle Mal mit Anne abgemacht werden und Arnold es mußte es überlassen bleiben, davon zu hören und früher oder später seine Rolle dabei zu spielen. Aber wie sollte er ihr noch heute die Sache beibringen? Sollte er direct nach dem Gasthofe gehen und sie grade in’s Gesicht als Mrs. Arnold Brinkworth anreden? Nein! Von Begegnungen von Angesicht zu Angesicht hatte er mehr als genug gehabt. Der bequemere Weg war, ihr zu schreiben und den Brief mit dem ersten Boten, den er austreiben konnte, nach dem Gasthof abzusenden. Mochte sie dann später in Windygates erscheinen, ihn bis zu seinem Bruder verfolgen, an seinen Vater appelliren, das war ihm Alles einerlei; für den Augenblick hatte er sie in seiner Gewalt. »Sie sind eine verheirathete Frau!« Das war eine Antwort, die ihn gegen alle Angriffe schützen und ihn in den Stand setzen würde, sich auf nichts einzulassen. Er entwarf in Gedanken den Brief, »Ich könnte etwa so schreiben«, dachte er, während er noch immer um den Wallnußbaum herumging: »Sie habe sich vielleicht gewunden« mich noch nicht zu sehen, aber das haben Sie sich lediglich selbst zu verdanken; ich weiß, was zwischen Ihnen und ihm im Gasthofe vorgefallen ist. Ich habe einen Advocaten consultirt. Sie sind Arnold Brinkworth’s Frau. Ich gratulire Ihnen und sage Ihnen auf ewig Lebewohl.« Er brauchte nur diese Zeilen an Mrs. Arnold Brinkworth zu adressiren, den Boten zu instruiren, den Brief spät Abends ohne auf eine Antwort zu warten, abzugeben, am nächsten Morgen in aller Frühe nach seines Bruders Haus aufzubrechen —— und die Sache war gethan. Aber selbst hier bot sich noch eine Schwierigkeit, ein letztes ärgerliches Hindernis, das noch im Wege stand. Wenn sie überhaupt unter irgend einem Namen im Gasthofe bekannt war, so war es unter dem Namen Mrs. Silvester. Ein an Mrs. Brinkworth adressirter Brief würde wahrscheinlich im Gasthofe gar nicht angenommen werden, oder würde, wenn angegenommen und ihr abgegeben, vielleicht von ihr als ein nicht an sie adressirter Brief nicht geöffnet werden. Ein etwas scharfsinniger Mensch würde sofort gefunden haben, daß auf den Namen der Adresse des Briefes wenig oder nichts ankam, sobald nur der Inhalt von der Person, an die er gerichtet war, gelesen wurde. Aber Geoffrey’s Geist gehörte zu denen, die durch die geringfügigsten Umstände aus der Fassung gebracht werden. Er legte einen ganz unverständigen Werth darauf, daß eine vollständige Uebereinstimmung zwischen dem Innern und Aeußern seines Briefes bestehen müsse. Wenn er erkläre, daß sie Arnold’s Frau sei, so müsse er auch den Brief an sie als an Arnold Brinkworth’s Frau adressiren oder das Gesetz würde Gott weiß was daran auszusetzen haben und er sich vielleicht durch die paar Federzüge in Gott weiß welche Schlinge verwickeln. Je mehr er über die Sache nachdachte, desto scharfsinniger erschien ihm sein Bedenken und desto leidenschaftlicher aufgeregt wurde er. Es giebt ein Mittel aus jeder Sache herauszukommen und es mußte auch ein Mittel aus dieser Verlegenheit geben, wenn er es nur finden konnte, aber er konnte es nicht finden. Nachdem er alle die großen Schwierigkeiten überwunden hatte, war er außer Stande, über diese kleine hinweg zu kommen und es fiel ihm ein, daß er vielleicht schon zu lange darüber zugebracht habe, da er doch nicht gewohnt sei über irgend etwas lange nachzudenken; überdies fing er an durch das fortwährende, mechanische in die Runde gehen, schwindlich zu werden. Verdrießlich kehrte er dem Baum den Rücken und ging nach einem andern Theil des Gartens, entschlossen, an etwas anderes zu denken und dann zu dieser Schwierigkeit zurückzukehren und dieselbe mit neuen Augen zu betrachten. Seine Gedanken denen er jetzt freien Lauf ließ, wandten sich sehr natürlich dem für ihn nächst wichtigen Gegenstand, dem bevorstehenden Wettlauf zu.
In einer Woche sollte er seine Arrangements getroffen haben. Wie sollte er es zunächst mit dem Einüben halten? Er einschloß sich diesmal, zwei Lehrmeister zu engagiren, einen den er nach Schottland kommen lassen und der ihn in seines Bruders Haus einüben sollte, und einen zweiten, der ihn bei seiner Rückkehr nach London mit frischen Augen betrachten und weiter ausbilden sollte. Er ließ sich die Siege seines furchtbaren Rivalen, dem er gegenüber treten sollte, durch den Kopf gehen. Jener war unfehlbar der raschere Läufer. Die Wetten zu Gunsten Geoffrey’s waren auf die noch nie dagewesene Länge des Laufes und auf Geoffrey’s unerhörte Ausdauer berechnet. Wie lange er seinen Gegner den Vorsprung lassen solle? In« welchem Moment es richtig sein würde, denselben einzuholen und wie nahe dem Ziel er auf die Erschöpfung des Gegners würde rechnen und ihn überholen können? Das waren feine, schwer zu entscheidende Fragen, zu deren Lösung ihm ein Wettlaufs-Geheimer-Rath würde behülflich sein müssen, um ihm die schwere Verantwortlichkeit zu erleichtern.
Wem konnte er wohl in dieser Beziehung Vertrauen schenken? Er konnte A. und B. zwei Autoritäten, vertrauen. Aber wie stand es mit C.? Als Autorität unanfechtbar, als Character zweifelhaft. Das Problem in Betreff C.’s ließ ihn in seinen Bewegungen inne halten und von der Lösung desselben in diesem Augenblick abstehen. Einerlei! Er konnte sich doch immer bei A. und B. Raths erholen; inzwischen mochte C. zum Teufel gehen und er konnte wieder versuchen an etwas Anderes zu denken. An was anderes? An Mrs. Glenarm! O, hole der Henker die Weiber, eine ist wie die andere, sie watscheln alle. wenn sie laufen und füllen sich alle vor Tisch den Magen mit dünnem Thee. Das ist der einzige Unterschied zwischen Frauen und Männern, im Uebrigen sind sie nichts als eine schwache Nachahmung von uns. Hole der Teufel die Weiber und ich will versuchen an etwas Anderes zu denken. Woran dieses Mal? An etwas, woran zu denken der Mühe werth ist: mir meine Pfeife wieder zu stopfen. Er zog seinen Tabacksbeutel ans der Tasche, hielt aber in dem Augenblick, wo er ihn öffnen wollte, plötzlich inne. Was war das, was er am andern Ende einer Allee von Zwerg-Birnbäumen zu seiner Rechten sah? Ein Frauenzimmer, seiner Kleidung nach offenbar ein Dienstbote, das ihm den Rücken zukehrend, vorüber gebeugt etwas aufsammelte; wie es ihm schien Kräuter. Und was war das Ding, das an einem Bindfaden an dem Gürtel des Frauenzimmers hing? »Eine Schiefertafel?« Ja. »Was zum Teufel wollte sie mit der Schiefertafel an der Seite?« Er suchte ja gerade etwas, was ihn auf andere Gedanken bringen könnte und er hatte es gefunden. »Mir ist alles Recht«, dachte er, »ich will doch die Person ein Bischen wegen ihrer Schiefertafel hänseln! Er rief durch die Birnbaumallee nach dem Frauenzimmer: »Halloh!« Das Frauenzimmer richtete sich auf, kam langsamen Schrittes auf ihn zu, und vor ihm stand, den Blick auf ihn gerichtet, Hester Dethridge mit ihren eingesunkenen Augen, ihrem von Sorgen durchfurchten Gesicht und ihrer eisernen Ruhe. Geoffrey ward stutzig! Er war nicht darauf gefaßt gewesen, das, was er und seine Kameraden unter Hänseln verstanden, an einem Frauenzimmer wie Dieses da zu versuchen. »Wozu braucht Ihr die Schiefertafel?« fragte er, um das Gespräch einzuleiten.
Hester legte die Hand an die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Stumm?«
Hester nickte bejahend.
»Wer seid Ihr?«
Hester schrieb etwas auf ihre Tafel und reichte ihm dieselbe über die Birnbäume hinweg: »Ich bin die Köchin!«
»Nun Köchin! Seid Ihr stumm geboren?«
Sie schüttelte mit dem Kopf.
»Was hat Euch denn stumm gemacht?«
Sie schrieb auf ihre Tafel: »Ein Schreck.«
»Wer hat Euch diesen Schrecken bereitet?«
Sie schüttelte wieder mit dem Kopf.
»Wollt Ihr mir das nicht sagen?«
Sie schüttelte abermals mit dem Kopf. Ihre Augen waren, während er sie befragte, starr, kalt, stumpf und ausdruckslos wie die Augen einer Leiche auf ihn gerichtet. Fest wie seine Nerven waren, gewaffnet wie er unter gewöhnlichen Umständen gegen jede Wirkung der Einbildungskraft war, erfüllte ihn der langsam durchbohrende Blick der stummen Köchin mit einem unheimlich, fröstelnden Gefühl. Es überlief ihn eiskalt. Es drängte ihn aus einmal von ihr loszukommen; auch war das einfach genug, er brauchte nur guten Morgen zu sagen und hinweg zu gehen. Er sagte guten Morgen, ging aber nicht seiner Wege. Er steckte die Hand in die Tasche und bot Hester ein Stück Geld an, um sie dadurch zum Fortgehen zu bewegen. Sie streckte durch die Birnbäume hindurch ihre Hand aus, um das Geld zu nehmen, hielt aber plötzlich mit emporgehobenem Arm inne. Eine furchtbare Veränderung ging in ihrem, bis dahin todtenähnlich ruhigen Gesicht vor, ihre dicht geschlossenen Lippen öffneten sich langsam, ihre stumpfen Augen erweiterten sich und blickten, sich von ihm abwendend, nach einer seitwärts von ihm befindlichen Stelle, wandten sich dann wieder von dieser Stelle ab und starrten unheimlich glänzend über seine Schultern hinweg, als ob eine Schreckensgestalt hinter ihm stehe. »Wonach seht Ihr in’s Teufels Namen?« fragte er und wandte sich rasch um, aber hinter ihm war absolut Nichts zu sehen. Er wandte sich wieder nach dem Weibe um, aber unter dem Einfluß irgend eines plötzlichen Entsetzens war sie trotz ihres Alters spornstreichs davongelaufen, seinen Anblick fliehend, als wäre er die Pest. »Die ist verrückt!« dachte er und kehrte ihr den Rücken.
Er fand sich, er wußte kaum wie, auf einmal wieder vor dem Wallnußbaum. In wenigen Minuten hatten sich seine stählernen Nerven völlig erholt. Jetzt konnte er über den sonderbaren Eindruck, den das Weib auf ihn hervorgebracht hatte, wieder lachen. »Zum ersten Mal in meinem Leben erschrocken!« dachte er bei sich, »und das vor einem alten Weibe; es wird Zeit, daß ich anfange mich wieder einüben zu lassen, wenn es schon so weit mit mir gekommen ist.« Er sah nach der Uhr. Es war beinahe schon die Zeit des zweiten Frühstücks und er war noch immer nicht mit sich einig geworden, was er in Betreff des Briefes an Anne thun solle; jetzt aber entschloß er sich auf der Stelle einen Entschluß fassen. Das Weib, das stumme Weib mit dem steinernen Gesicht und den fürchterlichen Augen erschien ihm wieder und störte ihn in seiner Entschließung.
»Pah! eine verrückte alte Person, die vielleicht einmal Köchin gewesen ist und jetzt das Gnadenbrot ißt, weiter nichts. Ich will mich davon nicht weiter incommodiren lassen.« Er legte sich in’s Gras und richtete seine Gedanken ganz auf die ernste Frage: wie er es möglich machen könne, den Brief an Anne mit Mrs. Arnold Brinkworth zu bezeichnen und ihn doch sicher in Anne’s Hände gelangen zu lassen. Da trat ihm wieder das Bild des stummen, alten Weibes in den Weg. Ungeduldig schloß er die Augen und versuchte die Erscheinung auf diese Weise los zu werden. Aber das Schließen der Augen schützte ihn nicht gegen die Erscheinung des Weibes. Er sah sie vor sich, als ob er eben eine Frage an sie gethan habe, auf ihrer Schiefertafel schreibend. Was sie schrieb war er nicht im Stande zu entziffern, im Augenblick war die Erscheinung in Nichts zerflossen. Er sprang mit einem unbehaglichen Gefühl der Verwunderung über sich selbst wieder auf und in demselben Augenblicke durchfuhr ihn ein Gedanke mit der Schnelligkeit des Blitzes. Ohne sich einer besonderen Anstrengung bewußt zu sein, sah er auf einmal sicher seinen Weg durch die Schwierigkeiten, die ihn bisher beirrt hatten. Natürlich zwei Couverte, ein inneres unversiegeltes an Mrs. Brinkworth adressirt und ein äußers versiegeltes mit der Adresse an Miß Silvester.
So. war das Problem gelöst; gewiß das einfachste Problem, das je einen Kopf in Verlegenheit gesetzt hatte. Warum war ihm diese Lösung nicht früher eingefallen? Darüber wußte er sich keine Rechenschaft zu geben, und warum fiel sie ihm jetzt ein? Wieder erschien ihm das stumme, alte Weib, als ob die Antwort auf diese Frage etwa mit ihrer Person in Verbindung stehe. Zum ersten Mal in seinem Leben beunruhigte ihn sein eigener Zustand. Hatte der beharrliche Eindruck, den ein verrücktes, altes Weib auf ihn hervorbrachte, vielleicht etwas mit dem erschütterten Gesundheitszustand zu thun, von dem der Arzt gesprochen hatte? War er von einem Schwindel ergriffen oder hatte er mit nüchternem Magen zu viel getaucht und hatte er nach einer durchreisten Nacht zu lange sein gewöhnliches Getränk, das Ale entbehrt? Sofort verließ er den Garten, um die Richtigkeit dieser letzteren Vermuthung zu prüfen. Das Publicum würde unbedingt gegen ihn gewettet haben, wenn es ihn in diesem Augenblicke gesehen hätte; Er sah verstört und bekümmert aus und das aus guten Gründen.
Urplötzlich und ohne die mindeste Vorbereitung war ihm der Zustand seines Nervensystems zum Bewußtsein gekommen und hatte ihm in einer ihm bis dahin unbekannten Sprache zugerufen: »Da bin ich!«
In den Blumengarten zurückgekehrt, begegnete Geoffrey einem Diener, der eben einem der Gärtner einen Auftrag ertheilte. Er fragte denselben nach dem Kellermeister, als der einzigen sicheren Autorität, an die er sich in seiner augenblicklichen Verlegenheit wenden konnte.
In des Kellermeister’s Zimmer geführt, bat Geoffrey diesen hohen Hausbeamten, ihm eine Kanne seines ältesten Ale und dazu etwas Consistentes in der Gestalt einer gehörigen Scheibe Brod und Käse zu bringen. Der Kellermeister sah ihn erstaunt an. Diese Art der Herablassung von Seiten eines Mitgliedes der vornehmen Gesellschaft war ihm ganz neu. »Das zweite Frühstück wird gleich bereit sein, Mr. Delamayn.«
»Was giebt es zum Frühstück?«
Der Kellermeister zählte ihm eine Reihe sehr einladender Gerichte und alter feiner Weine auf.
»Hole der Teufel Ihre feinen Geschichten!« sagte Geoffrey. »Geben Sie mir eine Kanne altes Ale und ein gehöriges Stück Brod mit Käse.«
»Wo wünschen Sie das zu genießen, Mr. Delamayn.«
»Natürlich hier, und je eher desto besser.«
Der Kellermeister gab die nöthigen Ordres mit aller dienstfertigen Bereitwilligkeit und stellte alsbald die einfache von dem Herrn verlangte Erfrischung ganz fassungslos vor ihn hin. Der Sohn eines Edelmannes und noch dazu ein berühmter, öffentlicher Character, der Brod, Käse und Ale zugleich in der anspruchslosesten und gierigsten Weise an seinem, des Kellermeisters Tisch zu sich nahm, —— das war ihm noch nicht vorgekommen. Der Kellermeister wagte eine kleine, verbindliche Vertraulichkeit. Lächelnd berührte er das Wettbuch in seiner Brusttasche »Ich habe auch sechs Pfund auf Sie gewettet, Mr. Delamayn!«
»Ganz gut mein alter Junge, Sie sollen auch Ihr Geld gewinnen!« Mit diesen edlen Worten klopfte der »ehrenwerthe Geoffrey« ihm auf den Rücken und hielt ihm sein Glas entgegen, auf daß er es ihm zum zweiten Male füllte. Beim Füllen des Glases mit dem schäumenden Ale fühlte sich der Kellermeister dreifach stolz als Engländer: »O, dachte er, fremde Nationen können ihre Revolutionen haben. Bei ihnen mag die Aristokratie zusammenbrechen, die britische Aristokratie lebt in dem Herzen des Volkes und auf ewig!«
»Noch eins«, sagte Geoffrey, indem er ihm sein leeres Glas hinhielt, »auf gutes Glück.« Er leerte das Glas auf einen Zug, nickte dem Kellermeister zu und ging hinaus. Hatte dieses Experiment sich erfolgreich erwiesen, war jetzt der Beweis der Richtigkeit seiner Vermuthung erbracht? Ganz gewiß! Ein leerer Magen und die Wirkung zu vielen Rauchens auf den Kopf, das waren die wirklichen Ursachen des»sonderbaren Geisteszustandes, in den er in dem Kuchengarten verfallen war. Jetzt verschwand das stumme Weib mit dem steinernen Gesicht wie ein Nebel, jetzt fühlte er nichts mehr als ein angenehmes Summen im Kopfe, eine sehr behagliche Wärme im ganzen Körper und eine unbegrenzte Fähigkeit, jede Verantwortlichkeit, die menschlichen Schultern aufgebürdet werden konnte, zu tragen. Geoffrey war wieder er selbst. Er ging in die Bibliothek, um endlich seinen Brief an Anne zu schreiben, um sich das erst einmal vom Halse zu schaffen. Die Gesellschaft war in der Bibliothek in Erwartung der Frühstücksglocke versammelt; alle vertrieben sich die Zeit mit müßigem Geplauder und unfehlbar würden einige, sobald Geoffrey sich gezeigt hätte, sich an ihn gemacht haben. Er zog es daher vor, an der Schwelle wieder umzukehren. Das einzige Mittel, in ungestörter Ruhe seinen Brief zu schreiben, war zu warten, bis sie alle beim Frühstück sein würden und dann in die Bibliothek zurückzukehren. Dieselbe Gelegenheit würde er benützen können, einen Boten für seinen Brief zu finden, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und nachher unbemerkt fortzugehen und einen langen Spaziergang zu machen. Eine Abwesenheit von drei oder vier Stunden würde hinreichen, um Arnold den nöthigen Sand in die Augen zu streuen, denn unfehlbar würde dieser die Abwesenheit, als durcb einen Besuch bei Anne veranlaßt, erklären. Müssig schlenderte er durch den Garten und entfernte sich immer weiter und weiter vom Hause.
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