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Armadale



Achtes Kapitel.

Midwinters Gesicht verfinsterte sich, als die letzte Spur des Wagens seinen Blicken entschwand. »Ich habe mein Möglichstes gethan«, sagte er, wie er düster wieder ins Haus zurückkehrte. »Mr. Brock selber könnte nicht mehr thun, wenn er hier wäre!«

Er betrachtete den Schlüsselbund, den Allan ihm in die Hand gedrückt, und seine empfindsame, selbstquälerische Natur fühlte sich plötzlich von dem Verlangen ergriffen, sich an den Verwalterbüchern zu versuchen. Nachdem er sich das Zimmer hatte zeigen lassen, in welchem man nach der Vermiethung des Parkhäuschens die sämtlichen Bücher des Verwalters nebst Zubehör einstweilen untergebracht hatte, setzte er sich an das Pult und versuchte, wie weit seine eigenen Fähigkeiten ihm durch die Geschäftsbücher über die Besitzung Thorpe-Ambrose hindurch helfen würden. Der Erfolg stellte ihm seine Unwissenheit klar vor Augen. Die Hauptbücher verwirrten ihn; die Pachtcontracte und selbst die Correspondenz hätte ebenso gut in einer andern Sprache abgefaßt sein können —— so wenig verstand er davon. Mißmuthig verließ er das Zimmer. Er erinnerte sich mit einer gewissen Bitterkeit jenes zweijährigen einsamen Selbstunterrichts im Laden des Buchhändlers zu Shrewsbury. »Wenn ich nur in einem Geschäfte hätte arbeiten können!« dachte er. »Wenn ich nur gewußt hätte, daß die Gesellschaft von Dichtern und Philosophen eine zu hohe für einen Vagabonden wie ich sei!«

Er setzte sich allein in der großen Hausflur nieder; die Stille derselben senkte sich schwerer und immer schwerer auf sein kummerbeladenes Gemüth; die Pracht derselben ärgerte ihn wie eine Beleidigung, die man von einem geldstolzen Manne erfährt. »Der Teufel hole das Haus!« murmelte er, indem er seinen Hut und Stock ergriff. »Mir ist der rauheste Felsenabhang, auf dem ich jemals schlief, lieber als dies Haus!«

Ungeduldig stieg er die Stufen hinab und stand in der Ausfahrt still, um zu überlegen, in welcher Richtung er den Park verlassen solle, um in die jenseits liegenden offenen Felder zu gelangen. Falls er den Weg einschlug, den der Wagen genommen, lief er Gefahr, Allan durch ein zufälliges Begegnen in seinen guten Vorsätzen Wanken zu machen. Ging er durchs Hinterthor hinaus, so kannte er sich selber zu gut um zu bezweifeln, daß er nicht im Stande sein werde, an dem »Traumzimmer« vorbeizugehen, ohne wieder in dasselbe einzutreten. Es blieb deshalb nur noch ein Weg übrig, und dies war der, welchen er am Morgen eingeschlagen und wieder ausgegeben hatte. Er hatte jetzt nicht zu fürchten, daß er Allan und der Tochter des Majors im Wege sein werde. Ohne länger zu zögern, schritt Midwinter durch die Gärten, um sich mit den offenen Gefilden auf jener Seite der Besitzung bekannt zu machen.

Durch die Ereignisse des Tages völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, war sein Gemüth voll von jenem erbitterten Widerwillen gegen alle Annehmlichkeiten, die der Reichthum den Glücklichen dieser Welt bietet; voll von jener Erbitterung, mit der die Armen und Unglücklichen den Reichthum zu betrachten pflegen. »Das Haideglöckchen kostet nichts!« dachte er, indem er verachtungsvoll auf die Menge seltener und schöner Blumen sah, die ihn rings umgaben, »und die Butterblumen und Maßliebchen sind ebenso hübsch wie die besten unter euch!« Er schritt zwischen den künstlich gebildeten ovalen und eckigen Beeten des italienischen Gartens umher und fühlte eine Vagabonden-Gleichgültigkeit gegen die Symmetrie und den Geschmack der Anlagen. »Wie viele Pfund hast Du wohl per Fuß gekostet?« sagte er, indem er verächtlich auf den letzten Pfad zurückblickte, wie er denselben verließ. »Schlängele dich hoch und tief wie ein Schafweg, über den Hügel hin, wenn du kannst!«

Er kam in das Gebüsch, das Allan vor ihm betreten hatte, ging durch das Gehege und über die Brücke von Baumstämmen am Ende desselben und langte am Häuschen des Majors an. Seine schnelle Beobachtung erkannte dasselbe auf den ersten Blick, und er stand an dem Gartenpförtchen still, um die hübsche kleine Wohnung zu betrachten, die nimmer zu vermiethen gewesen wäre, falls Allan nicht den unglückseligen Entschluß gefaßt hätte, seinem Freunde die Verwalterstelle aufzubringen.

Der Sommernachmittag war warm; die Luft lau und still. Im oberen wie im unteren Stockwerk des Häuschens waren alle Fenster geöffnet. Aus einem derselben im oberen Stockwerk drang deutlich der Schall menschlicher Stimmen durch die Stille des Paris. In den mißtönenden Klang einer harten, grellen und zornig klagenden Frauenstimme —— einer Stimme, deren Frische und Wohlklang gänzlich geschwunden war und der nichts mehr blieb, als ihre harte Kraft —— mischte sich jeden Augenblick in tieferen und ruhigeren Tönen, besänftigend und mitleidsvoll die Stimme eines Mannes. Obgleich die Entfernung zu groß war, um Midwinter die Worte unterscheiden zu lassen, fühlte er doch die Unschicklichkeit, sich innerhalb Hörweite aufzuhalten, und that deshalb sofort einen Schritt. um seinen Weg fortzusetzen. In demselben Augenblicke jedoch erschien das Gesicht eines jungen Mädchens, in welchem er, nach Allan’s Beschreibung, leicht Miß Milroy’s Gesicht erkannte, an dem offenen Fenster des Zimmers. Midwinter stand wider Willen still, um sie anzublicken. Der Ausdruck des hübschen Gesichts, das Allan so lieblich angelächelt hatte, war kummervoll und entmuthigt. Nachdem sie zerstreut auf den Park hinausgeschaut, wandte sie plötzlich den Kopf zurück ins Zimmer, da dem Anscheine nach etwas im Innern gesagt worden war, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. »O, Mama, Mama«, rief sie entrüstet, wie kannst Du nur so etwas sagen!« Die Worte wurden unmittelbar am Fenster gesprochen; sie drangen an Midwinter’s Ohr und machten ihn forteilen, ehe er mehr hören konnte. Doch hatte die Offenbarung von Major Milroy’s häuslicher Lage noch nicht ihr Ende erreicht. Wie Midwinter um die Ecke des Gartenzaunes bog, reichte eben ein Krämerjunge der Magd ein Paket über das Pförtchen. »Nun«, sagte der Junge mit der unbezwinglichen Frechheit seiner Klasse, »was macht die Alte?« Die Magd erhob die Hand, um ihm eine Ohrfeige zu geben. »Was macht die Alte!« wiederholte sie, indem sie zornig den Kopf in den Nacken warf, als der Knabe fortrannte. »Wenn es nur Gott gefiele, die Alte endlich zu sich zu nehmen, so würde dies fürs ganze Haus ein wahrer Segen sein.«

Das hübsche häusliche Bild, das Allan’s Enthusiasmus seinem Freunde von den Bewohnern des Parkhäuschens entworfen, hatte freilich nichts von diesen düsteren Schatten gezeigt. Es war klar, daß die Miethsleute bis hierher ihr Geheimnis; vor ihrem Hauswirthe bewahrt hatten. Nachdem Midwinter noch fünf Minuten weiter gegangen, kam er an das Parkthor. »Ist es meine Bestimmung, heute nichts zu sehen und zu hören, was mir Muth und Hoffnung für die Zukunft einflößen kann?« dachte er, wie er ärgerlich das Thor hinter sich zuschlug. »Selbst die Leute, denen Allan jenes Haus vermiethet hat, sind Leute, deren Leben durch ein Familienleid verbittert ist, welches ich und eben nur ich zu entdecken das Unglück haben mußte!«

Er schlug den ersten besten Weg ein, der vor ihm lag, und ging, kaum auf seine Umgebung achtend, in Gedanken versunken weiter. Es verstrich über eine Stunde, ehe er sich an die Nothwendigkeit erinnerte, zurückzukehren. Sowie ihm dies einfiel, sah er auf seine Uhr und beschloß umzukehren, damit er zu rechter Zeit zu Hause anlange, um Allan bei seiner Rückkehr empfangen zu können. In zehn Minuten war er an einer Stelle angelangt, wo drei Wege in einander liefen, und eine kurze Beobachtung überzeugte ihn, daß er vorher durchaus nicht beachtet hatte, auf welchem der drei Wege er gekommen war.

Ein Wegweiser war nirgends zu sehen; die Gegend war rings umher flach und öde und von breiten Gräben durchschnitten. Hier und dort weideten Kühe, und in der Entfernung, jenseits der Weiden, die den Horizont säumten, stand eine Windmühle. Allein nirgendwo war ein Haus zu sehen und auf keinem der drei Wege zeigte sich nah oder fern ein einziges menschliches Wesen. Da gewahrte Midwinter endlich bei einem Rückblick auf den Weg, auf dem er soeben zurückgekehrt war, zu seiner Zufriedenheit die Gestalt eines Mannes, der sich ihm schnell näherte und von dem er sich Auskunft über den Weg erbitten konnte.

Die Gestalt, vom Kopfe bis zu den Füßen in Schwarz gekleidet, kam näher —— ein beweglicher Flecken auf der glänzend weißen Fläche des sonnenbeschienenen Wegs. Es war ein hagerer, ältlicher Mann; er trug einen ärmlichen alten schwarzen Frack und eine wohlfeile braune Perücke die sich durchaus nicht für sein eigenes Haar auszugeben versuchte. Kurze schwarze Beinkleider schmiegten sich, gleich anhänglichen alten Dienern, um seine dürren Beine, und rußige schwarze Gamaschen versteckten von seinen plumpen Füßen so viel als sie vermochten Schwarzer Flor fügte sein Scherflein zu der Schäbigkeit seines alten Kastorhuts hinzu; eine altmodische schwarze Cravatte umschlang trübselig seinen Hals und reichte bis zu seinen knochigen Kinnbacken empor. Das einzige bischen Farbe, das er an sich trug, war ein Advokaten-Acten-Beutel von blauer Sersche, der ebenso mager und welk war wie er selber; und der einzige anziehende Theil in seinem glatt rasierten, erschöpften alten Gesicht war sein Gebiß, welches zwei lückenlose Reihen trefflich gepflegter Zähne zeigte und, ebenso ehrlich wie seine Perücke, allen fragenden Blicken deutlich die Antwort gab: »Wir liegen die Nacht über auf seinem Toilettenspiegel und bringen unsere Tage in seinem Munde zu.«

Der ganze unbedeutende Blutvorrath in dem Körper des Mannes stieg röthlich schimmernd in seine fleischlosen Wangen, als Midwinter ihm entgegenkam und ihn nach dem Wege nach Thorpe-Ambrose frug. Seine schwachen wässrigen Augen blickten in einer für den Beschauer peinlichen Verwirrung hierhin und dorthin. Wäre ihm, anstatt eines Mannes, ein Löwe begegnet und wären die an ihn gerichteten Worte eine Drohung gewesen anstatt einer Frage, so hätte er nicht verlegener und geängstigter aussehen können. Zum ersten Male in seinem Leben sah Midwinter einen Wiederschein seiner eigenen Schüchternheit in Gegenwart von Fremden, und zwar mit zehnfacher Intensivität nervösen Leidens, im Gesichte eines Andern und eines Mannes, der alt genug war, um sein Vater sein zu können.

»Belieben Sie, die Stadt zu meinen, Sir, oder das Gut? Ich bitte um Vergebung, aber es wird in dieser Gegend beiden derselbe Name gegeben.«

Er sprach in einem schüchtern sanften Tone, mit einem einschmeichelnden Lächeln und einer ängstlichen Höflichkeit, was alles den betrübenden Eindruck machte, als ob er von den Leuten, mit denen er hauptsächlich umgehe, für seine eigene Höflichkeit mit barschen Antworten bezahlt werde.

»Ich wußte nicht, daß sowohl die Stadt als das Gut unter dem Namen bekannt seien«, sagte Midwinter. »Ich meinte das Gut« Er bemeisterte, indem er diese Worte sprach, instinctmäßig seine eigene Schüchternheit, und sprach mit einem freundlichen Wesen, das in seinem Umgange mit Fremden eine große Seltenheit bei ihm war.

Der Gentleman schien die warme Erwiderung seiner eigenen Höflichkeit dankbar anzuerkennen. Sein Gesicht hellte sich auf und er fand ein wenig Muth. Sein dürrer Zeigefinger deutete eifrig auf den rechten Weg. »Das ist der Weg, Sir«, sagte er, »und wenn Sie wieder an zwei Wege kommen, seien Sie so gütig, den Weg zur Linken einzuschlagen. Ich bedaure, daß ich Geschäfte in der andern Richtung habe —— ich meine in der Stadt. Es würde mir sonst Vergnügen gemacht haben, mit Ihnen zu gehen und Ihnen den Weg zu zeigen. Schönes Sommerwetter, Sir, zum Spazierengehen! Sie können nicht fehlgehen, wenn Sie sich links halten. O, bitte, gern geschehen! Ich fürchte, ich habe Sie aufgehalten, Sir. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Rückkehr und —— guten Morgen.«

Als er mit seiner Rede, zu der er sich in dem Wahne bewogen fühlte, daß er um so höflicher erscheinen werde, je mehr er spräche, zu Ende kam, war auch sein Muth wieder erschöpft. Er eilte auf seinem eigenen Wege davon, wie wenn Midwinter’s Versuche, ihm zu danken, ihn mit einer Reihe von Prüfungen bedrohten, die zu fürchterlich seien, als daß er sich denselben aussetzen könne. In zwei Minuten hatte sich seine fliehende schwarze Gestalt bereits in der Entfernung verkleinert, bis sie wieder, wie schon vorher, gleich einem beweglichen schwarzen Fleck auf der glänzend weißen Fläche des sonnenbeschienenen Wegs aussah.

Während Midwinter den Rückweg nach dem Hause fortsetzte, ging ihm der Mann seltsam im Kopf herum. Er vermochte sich dies nicht zu erklären. Es fiel ihm nicht ein, daß er vielleicht unmerklich an sich selbst erinnert ward, da er in dem Gesichte des armen Geschöpfes die deutlichen Spuren früheren Unglücks und gegenwärtigen nervösen Leidens wahrnahm. Er war verdrießlich über sein eigensinniges Interesse an diesem ihm zufällig begegneten Wanderer, wie ihn bereits alles Uebrige verdrossen hatte, was ihm seit dem Beginn des Tages zugestoßen war. »Habe ich wieder einmal eine unglückliche Entdeckung gemacht?« frug er sich ungeduldig. »Werde ich diesen Mann wohl jemals wiedersehen? Wer mag er nur sein?«

Die Zeit sollte diese beiden Fragen beantworten, ehe noch viele Tage über dem Haupte des Fragenden dahingegangen waren.


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