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Herz und Wissen



Capitel XXXIII.

Nun«, begann Benjulia, »Um was soll es sich handeln? Um den beliebten öffentlichen Popanz? Vivisection?«

»Schön. Was kann ich für Dich thun?«

»Sage mir zuerst«, sagte Lemuel, »was ist Gesetz?«

»Das weiß Niemand.«

»Nun denn, was sollte es sein?«

»Ich dächte Gerechtigkeit.«

»Warte einen Augenblick, Nathan, bis ich das im Kopfe habe.«

Und Benjulia wartete mit exemplarischer Geduld.

»Nun von Dir«, fuhr Lemuel dann fort. »Du nimmst doch nichts übel, nicht wahr? Hätte ich Recht, wenn ich Dich als einen bezeichnete, der lebende Wesen secirt?«

Benjulia’s an sich schon dunkle Farbe nahm bei der Erinnerung an den Tag, an welchem er seinen Bruder im Laboratorium entdeckt hatte, einen noch dunkleren Ton an; seine kalten grauen Augen schienen einen Ausbruch zu verkündigen Lemuel fuhr aber fort:

»Verbietet Dir das Gesetz, Deine Experimente an einem Menschen zu machen?«

»Natürlich!«

»Warum verbietet es Dir denn nicht, sie an einem Hunde zu machen?«

Benjulia’s Gesicht hellte sich wieder auf; die einzige schwache Stelle in seiner gleichsam wie mit Eisen gepanzerten Natur war noch nicht erreicht, und diese scheinbar kindische Frage wegen des Hundes schien ihn nicht nur interessiert, sondern auch überrascht zu haben. Er vergaß seinen Bruder; sein klarer Verstand brachte dessen Einwurf in bündigere logische Form und fragte, ob es eine Antwort darauf gäbe. Sein Gedankengang war folgender:

»Das Gesetz, welches Dir verbietet, einen lebenden Menschen zu seciren, erlaubt Dir, einen Hund zu seciren. Warum?«

Er gab positiv keine Antwort darauf.

Angenommen, er sagte: »Weil ein Hund ein Thier ist.« Konnte er als Physiologe leugnen, daß der Mensch auch ein Thier sei?

Angenommen ferner, er sagte: »Weil ein Hund dem Intellekte nach ein untergeordnetes Wesen ist.« Dann lag ja die Antwort auf der Hand: »Aber die niedere Klasse der Wilden und auch der Wahnsinnigen steht, was den Intellekt anbetrifft, noch unter dem Hunde, und demnach hätte doch von beiden der Hund den größeren Anspruch auf Schutz.«

Oder er sagte: »Weil der Mensch ein Geschöpf ist, das eine Seele hat, und der Hund eins, das keine Seele hat.« Das würde einfach die Frage herausfordern: »Woher weißt Du das?«

Wenn er bei dem sich so von selbst darbietenden Dilemma ehrlich sein wollte, schien folgender Schluß unbestreitbar:

Wenn das Gesetz in Bezug auf die Vivisection das Princip der Einmischung anerkennt, so hat es sich des Rechtes begeben, seiner eigenen Kraft willkürliche Grenzen zu setzen. Wenn es überhaupt ein lebendes Wesen beschützt, so ist es nach Vernunft und Gerechtigkeit gebunden, alle zu beschützen.

»Nun«, sagte Lemuel, »soll ich eine Antwort haben?«

»Ich bin kein Rechtsgelehrter.«

Mit dieser bequemen Antwort öffnete Benjulia Mr. Morphew’s Brief und las das Ueberschlagene. Und er fand hier dieselben Fragen, mit denen sein Bruder ihn frappirt hatte, und die nämliche Schlußfolgerung, zu der er selbst gelangt war!

»Du interpretiertest eben die Sprache Deines Hundes«, sagte er ruhig zu Lemuel, »und ich nahm naturgemäß an, daß Dein Verstand schwach würde. Wie die Sachen liegen, bemerke ich, daß Dein Gedächtniß in Ordnung ist. Entschuldige, daß ich Dir den Puls gefühlt habe. Du bist mir kein Gegenstand des Interesses mehr.«

Dann las er weiter, während Lemuel ihn in zuversichtlicher Erwartung der Resultate beobachtete.

In dem Briefe hieß es weiter:

»Ihr Chef wird vielleicht geneigt sein, mein Werk zu veröffentlichen, wenn ich ihm die Ueberzeugung verschaffen kann, daß es sich an das große Publikum wenden wird.

»Wir kennen alle die falschen Vorwände, unter denen die englischen Physiologen ihre Grausamkeiten begehen. Ich will diese falschen Vorwände in der allereinfachsten Weise an den Pranger stellen, indem ich mich auf die Erfahrungen meiner eigenen ärztlichen Praxis berufe.

»Nehmen wir den Vormund, daß sich unsere Kenntniß von der Wirkung von Arzneien und Giften dadurch erweitere, wenn wir mit denselben bei Thieren Versuche anstellen. Gerade die Arzneien, deren Wirkung zu demonstrieren man Hunde und Katzen unnöthig gequält hat, habe ich in einer langen Praxis erfolgreich bei meinen menschlichen Patienten angewandt.

»Ich möchte auch fragen, was für ein Beweis vorhanden sei, daß man sich darauf verlassen könnte, daß die Wirkung eines Giftes bei einem Thiere uns mit Gewißheit Aufschluß über die Wirkung dieses Giftes bei einem Menschen gäbe. Um nur zwei Beispiele anzuführen, die den Zweifel rechtfertigen —— und um diesmal Vögel zu nehmen —— kann eine Taube, ohne im Geringsten dadurch afficirt zu werden, eine Portion Opium verschlingen, die bei einem Menschen den Tod zur Folge haben würde, und ebenso ist die Petersilie, die im Magen eines Menschen ein unschuldiges Kraut ist, für einen Papagei tödtliches Gift.

»In derselben Weise würde ich zeigen, was an dem anderen Vorwande ist, daß wir unsere chirurgischen Kenntnisse durch Experimente an lebenden Thieren vervollkommnen.

»Es ist noch nicht lange her, daß ich einem Hunde ein krankes Bein am Hüftgelenke abnehmen sah, ohne daß eine einzige Ader blutete. Würde man dieselbe Operation bei einem Menschen versuchen, so müßte man nothwendigerweise zwölf bis fünfzehn Adern unterbinden.

»Ferner, eine große Autorität sagt, daß das Einsperren von Hunden in Backöfen zu neuen Entdeckungen in Bezug auf die Behandlung des Fiebers geführt habe. Ich habe immer angenommen, daß die Hitze beim Fieber nicht eine Ursache, sondern eine Folge der Krankheit sei. Doch halten wir uns an die Erfahrung. Hat diese abscheuliche Grausamkeit Resultate hervorgebracht, die uns beim Scharlachfieber helfen könnten? Nein, denn die Praxis lehrt uns, daß das Scharlachfieber noch genau seinen Gang geht wie immer. Solche Beispiele kann ich hundertfach anführen, wenn ich mein Buch schreibe.

»Damit habe ich Ihnen kurz die Methode dargelegt, in welcher ich die wissenschaftliche Barbarei hinter dem Deckmantel der medicinischen Interessen der Menschheit hervorzuziehen und in ihrem wahren Charakter zu zeigen gedenke —— ebenso klar zu zeigen gedenke, wie sich die wissenschaftliche Barbarei des Auslandes von selbst zeigt. Dieselbe versteckt sich nicht hinter falsche Vorwände, fügt nicht die Heuchelei zu der Rohheit, sondern gesteht offen die Wahrheit: »Wir thun es, weil es uns gefällt!«

Benjulia erhob sich und schleuderte den Brief auf den Boden.

»Und ich gestehe die Wahrheit«, sagte er; »ich thue es, weil es mir gefällt. Es giebt noch einige Leute, welche die dumme öffentliche Meinung mit der Verachtung behandeln, die dieselbe verdient —— und ich bin Einer von diesen.« Er zeigte höhnisch auf den Brief. »Dieser weitschweifige alte Narr hat Recht wegen der falschen Vorwände Veröffentliche sein Buch, und ich werde mir ein Exemplar davon anschaffen.«

»Sonderbar«, meinte Lemuel.

»Was ist sonderbar?«

»Nun, Nathan, ich bin nur ein Narr —— wenn Du aber so über falsche Vorwände und die öffentliche Meinung sprichst, warum sagst Du denn Jedem, daß Dein grauenhaftes Hacken und Schneiden harmlose chemische Experimente seien? Und warum geriethest Du so in Wuth, als ich in Deiner Werkstatt dahinterkam? Beantworte mir das!«

»Laß mich Dir erst gratulieren«, sagte Benjulia. »Nicht jeder Narr weiß, daß er ein Narr ist. Und nun sollst Du Deine Antwort haben. Ehe das Jahr zu Ende ist, wird mir Jedermann willkommen sein, der meine Werkstatt besuchen und mich bei der Beschäftigung sehen will. Lemuel, als Du Dich damals durch die unverschlossene Thür geschlichen hattest, fandest Du mich auf dem Wege zu der größten medicinischen Entdeckung dieses Jahrhunderts. Du Einfaltspinsel! glaubst Du, ich machte mir etwas daraus, ob Du hinter etwas kämst? Ja, ich lebe in solch beständiger Angst, daß meine Collegen mir zuvorkommen könnten, daß ich meiner nicht einmal Herr bin, wenn ein Mann wie Du meine Arbeit sieht. In ein paar Monaten —— vielleicht schon in einigen Wochen —— werde ich das große Problem gelöst haben. Den ganzen Tag arbeite ich daran, und denke und träume davon des Nachts. Es wird mich noch umbringen; ja, so stark ich bin, das wird es. Was sagst Du? Ob ich mich im Interesse der Menschheit zu Tode arbeiten will? Ich pfeife auf die Menschheit. Ich arbeite zu meiner eigenen Befriedigung, zu meinem Stolze, weil es mir ein unaussprechliches Vergnügen macht, andere zu schlagen —— für den Ruhm, daß mein Name noch nach hundert Jahren genannt werde. Für die Menschheit! Ich sage mit meinen fremden Collegen, die Wissenschaft ihrer selbst wegen ist der Gott, dem ich diene. Die Wissenschaft ist sich selbst Rechtfertigung und Lohn. Der tobende Pöbel verfolgt uns, über Rohheit schreiend. Wir bemitleiden seine Unwissenheit. Die Wissenschaft heiligt die Grausamkeit. Die alten Anatonien stahlen die Körper der Todten im Dienste der Wissenschaft. Wenn ich in ihrem heiligen Dienste einen lebendigen Menschen stehlen könnte, ohne daß es an’s Licht käme, so würde ich denselben auf meinen Tisch binden und nach Tagen, anstatt nach Monaten im Besitze meiner großen Entdeckung sein. Wo willst Du hin? Was? Du fürchtest Dich, in einem Zimmer mit mir zu sein? Ein Mann, der sprechen kann, wie ich, wäre ein Mann, der sich aus Nichts etwas machen würde? In solch einem Lichte betrachtet ihr Geschöpfe niederen Ranges uns? Blicke etwas höher und Du wirst sehen, daß ein Mann, welcher spricht wie ich, durch die Wissenschaft über Euch gestellt ist. Strenge Dich an und versuche, mich zu verstehen. Habe ich nicht, selbst von Deinem Standpunkte aus, Tugenden? Bin ich nicht ein guter Bürger? Bezahle ich nicht meine Schulden? Bin ich nicht gefällig gegen meine Freunde? Dir Erbärmlichem habe ich stets Geld gegeben, wenn Du etwas brauchtest. Sieh da den Brief am Boden an. Der darin Erwähnte ist einer von jenen Collegen, denen ich mißtraue. Trotz alledem handelte ich gegen ihn, wie die Pflicht verlangte; gab ihm die Auskunft, die er wünschte; gab ihm ein Empfehlungsschreiben für ein fremdes Land. Habe ich kein Gefühl, wie Du es nennst? Meine letzten Experimente an einem Affen entsetzten mich. Die Schmerzensschreie und die bittenden Gebärden desselben waren gerade so, wie bei einem Kinde, und ich würde Alles dafür gegeben haben, ihm das Leiden zu ersparen. Aber ich arbeitete weiter, arbeitete weiter an dem herrlichen Werke. Die Hände wurden mir kalt —— das Herz that mir weh —— ich dachte an ein Kind, mit dem ich manchmal spiele —— ich litt —— aber ich widerstand und arbeitete weiter. Alles für die Wissenschaft! Alles für die Wissenschaft!«

Die Gegenwart seines Bruders war vergessen; sein dunkles Gesicht wurde bleifarben; die riesenhafte Gestalt zitterte; keuchend entrang sich der Athem seiner Brust «— es war entsetzlich, ihn zu sehen und zu hören.

Lemuel schlich aus dem Zimmer. Der Schakal hatte den Löwen geweckt; hierauf war er, als er der Eingebung seiner Bosheit folgte, nicht gefaßt gewesen. »Ich fange an, an den Teufel zu glauben«, sagte er zu sich, als er die Hausthür erreichte.

Als er die Stufen hinunterging, erschien ein Wagen in der Gasse; ein Bedienter öffnete das Thor der Umfriedung, dann fuhr der Wagen auf das Haus zu, und Lemuel erkannte eine Dame in demselben. Sofort eilte er zu seinem Bruder zurück. »Es kommt eine Dame hierher«, sagte er. »Du bist in netter Verfassung, um sie zu empfangen! Nimm Dich zusammen, Nathan —— und, den Teufel, wasch Dir die Hände.«

Damit ergriff er Benjulia am Arm und führte ihn nach oben. Als er dann wieder auf den Flur kam, stieg Mrs. Gallilee die Stufen zur Thür hinauf, und er machte eine tiefe Verbeugung, eine Huldigung die den wohlerhaltenen Ueberresten einer schönen Frau galt. »Mein Bruder wird sofort bei Ihnen sein, gnädige Frau. Bitte, erlauben Sie mir, Ihnen einen Stuhl zu geben.«

Er hatte den Hut in der Hand, und Mrs. Gallilee, die ihn bei ihrer Weltkenntniß genau nach seinem Werthe taxierte, wurde ihn mit bestem Anstande los. »Bitte, lassen Sie sich durch mich nicht zurückhalten; ich werde mit Vergnügen warten.«

Wenn sie zwanzig Jahre jünger gewesen, wäre der Wink vielleicht weggeworfen gewesen, so aber zog sich Lemuel gehorsam zurück.


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