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Die Neue Magdalena - Buch 2

Kapitel 22

Magdalenens Lehrjahre

„Mister Julian Gray hat mich aufgefordert, ihm und Ihnen, Mister Holmcroft, zu erzählen, wie schweres Schicksal über mich gekommen ist. Sein Anfang reicht über meine Erinnerung hinaus. Es ward mit mir geboren.

Meine Mutter, so habe ich sie sagen hören, zerstörte als ganz junges Mädchen dadurch ihre Aussichten für die Zukunft, dass sie einen der Diener ihres Vaters - den Reitknecht, der sie zu begleiten pflegte - heiratete. Sie musste ihr Vergehen büßen wie jede, die sich eines solchen schuldig macht. Nach kurzer Zeit trennte sie sich von ihrem Manne, wobei dieser zur Bedingung machte, dass sie ihm das ganz kleine Vermögen, welches sie eigentümlich besaß, zum Opfer bringe.

Meine Mutter war nun frei geworden, damit aber auch dem Hunger preisgegeben, wenn sie sich nicht selbst ihr Brot verdiente.

Ihre Familie hatte sie für immer verstoßen; so schloss sie sich einer herumziehenden Schauspielergesellschaft an.

Auf diese Weise lebte sie dürftig, als sie mein Vater zufällig kennen lernte. Er war ein hochgestellter Mann, stolz auf seine Stellung und in der damaligen Gesellschaft wohl bekannt wegen seiner vielseitigen Talente und seiner vornehmen Geschmacksrichtung. Die Schönheit meiner Mutter fesselte ihn. Er nahm sie von der Schauspielertruppe fort und umgab sie mit dem höchsten Luxus, den eine Frau in ihrem Hause nur wünschen kann.

Wie lange sie so zusammen gelebt haben, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass zu der Zeit, bis zu welcher meine Erinnerung zurückreicht, mein Vater sie bereits verlassen hatte.

Sein Verdacht gegen sie war, dass sie ihm untreu geworden - ein Verdacht, der ihr grausames Unrecht tat, wie sie bis zu ihrem Tode behauptet hat. Ich glaubte ihr, weil sie meine Mutter war. Doch ich kann es von anderen nicht erwarten, dass sie das Gleiche tun - ich kann nur wiederholen, was sie gesagt hat. Mein Vater verließ sie in bitterster Armut. Er sah sie nie wieder und weigerte sich zu kommen, als sie nach ihm verlangte.

Die erste Erinnerung, die ich von ihr habe, findet sie abermals bei einer Schauspielergesellschaft. Für mich war das keine unglückliche Zeit. Ich war der Liebling der armen Künstler und ihr Zeitvertreib. Sie lehrten mich singen und tanzen, und das in einem Alter, wo andere Kinder eben erst lesen lernen. Mit fünf Jahren fing ich an das Handwerk zu treiben, und gründete mir meinen kleinen, armen Ruf in den Buden der Landjahrmärkte. So früh, Mister Holmcroft, hatte ich mich schon daran gewöhnt, unter einem angenommenen Namen zu leben - es war der hübscheste, den man für mich erfinden konnte, damit er sich auf dem Theaterzettel gut ausnehme. Es kostete uns manchmal bei schlechter Einnahme einen harten Kampf, um Leib und Seele zusammenzuhalten. Als ich für die Bühne geschult wurde, da hieß es gar oft: Vor dem Publikum singen und tanzen, und daheim Hunger und Kälte leiden. Und doch habe ich so viel erlebt, dass ich auf jene Tage unter den wandernden Schauspielern als auf die glücklichsten Tage meines Lebens zurückblicke!

Ich war zehn Jahre alt, als mich das erste schwere Unglück, dessen ich mich erinnere, traf. Meine Mutter starb in der Blüte ihrer Jahre, von Gram verzehrt. Und nicht lange danach ward die Truppe durch eine Reihe von Misserfolgen, aller Mittel bar, zur Selbstauflösung gezwungen.

So blieb ich ohne Namen, ohne Geld, ein Auswürfling in der Welt, zurück mit dem verhängnisvollen Erbteil - Gott weiß, nach dem, was ich durchgemacht, kann ich es ohne Eitelkeit sagen - der Schönheit meiner Mutter.

Meine einzigen Freunde waren arme, ausgehungerte Schauspieler. Zwei davon, Mann und Frau, erhielten eine Anstellung bei einer anderen Gesellschaft und ich ward in den Handel mit eingeschlossen. Der neue Direktor, dem ich unterstand, war ein roher Mensch und Trunkenbold. Eines Abends ließ ich mir bei der Vorstellung einen kleinen unbedeutenden Fehler zu Schulden kommen - und ward dafür aufs Grausamste geschlagen. Vielleicht hatte ich etwas vom Geiste meines Vaters geerbt - jedoch, hoffe ich, ohne etwas von seinem hartherzigen Wesen. Gleichviel, ich beschloss, unbekümmert, was weiter aus mir werden sollte, dem Manne, der mich geschlagen hatte, keinen Augenblick länger zu dienen. Am nächsten Morgen mit Tagesanbruch öffnete ich die versperrte Tür unserer elenden Behausung und trat nun, zehn Jahre alt, mein kleines Bündel in der Hand, allein in die Welt hinaus.

Meine Mutter hatte mir in den letzten Augenblicken, ehe sie starb, den Namen meines Vaters und die Adresse seiner Wohnung in London anvertraut. Vielleicht wird er mit dir Mitleid haben, sagte sie, wenn er auch mit mir keines hat. Versuche es. Ich besaß ein paar Shillings, die letzten armseligen Reste meines Soldes, und nach London hatte ich nicht weit. Aber ich ging nicht zu meinem Vater; trotzdem ich ein Kind war, wäre ich lieber verhungert, als zu ihm gegangen. Ich hatte meine Mutter innig geliebt und darum hasste ich den Mann, der sich von ihr, als sie auf dem Sterbebette lag, abgewandt hatte. Dass er zufällig mein Vater war, änderte in meinen Augen daran nichts.

Sind Sie über dieses Bekenntnis empört? Sie sehen mich an, Mister Holmcroft, als ob Sie es wären?

Bedenken Sie nur, Sir. Verdammen mich meine eben gesprochenen Worte als herzloses Geschöpf, schon in so früher Kindheit? Was ist ein Vater seinem Kinde, wenn er es niemals auf seinen Knien geschaukelt, ihm niemals einen Kuss oder ein Geschenk gegeben hat? Wären wir einander in der Straße begegnet, wir hätten eines das andere nicht gekannt. Vielleicht habe ich in späteren Tagen, als ich in London darben musste, ohne es zu wissen, meinen Vater angebettelt - und vielleicht hat er seiner Tochter einen Penny hingeworfen, um sie loszuwerden und hat es auch nicht gewusst! Wie können in einem solchen Verhältnis die Beziehungen eines Vaters zu seinem Kinde heilige sein? Selbst die Blumen auf dem Felde brauchen die Hilfe von Licht und Luft, um zu wachsen. Wie soll da die Liebe des Kindes gedeihen, wenn niemand sie pflegt?

Meine geringen Ersparnisse würden wohl bald aufgezehrt worden sein, auch wenn ich alt und stark genug gewesen wäre, um damit hauszuhalten. So aber wurden mir meine Paar Shillings bald von Zigeunern abgenommen. Ich hatte keinen Grund, mich zu beklagen. Sie gaben mir das Essen und Obdach in ihren Zelten; außerdem machten sie sich meine Person auf verschiedene Art zu Nutzen. Nach einiger Zeit kamen auf für die Zigeuner schlechte Zeiten, wie sie für die wandernden Schauspieler gekommen waren. Einige wurden eingesperrt; die übrigen zerstreuten sich. Es war gerade die Jahreszeit für Hopfenpflücken. Ich ward zunächst als Hopfenpflückerin angestellt, und hierauf ging ich mit meinen neuen Freunden nach London.

Ich will Sie nicht durch nähere Ausführung dieses Teiles meiner Kindheit ermüden und quälen. Genug, wenn ich Ihnen sage, dass ich immer tiefer und tiefer sank, bis ich schließlich in den Straßen Zündhölzchen verkaufte. Das Vermächtnis meiner Mutter brachte mir gar manches Sixpencestück ein, welches, wäre ich hässlich gewesen, meine Zündhölzchen den Taschen der Fremden nimmermehr entlockt hätten. In jenen Tagen war mein Gesicht, das späterhin mein größtes Unglück werden sollte, mein bester Freund.

Erinnern Sie sich, Mister Holmcroft, bei Gelegenheit des Lebens, das ich jetzt zu schildern versuchen will, des Tages, als wir vor nicht langer Zeit zusammen spazieren gingen?

Ich habe Sie damals überrascht und verletzt, ich weiß es; und doch konnte ich da unmöglich eine Aufklärung über mein Benehmen geben. Entsinnen Sie sich des kleinen, umherirrenden Mädchens mit dem armseligen verwelkten Strauß in der Hand, das uns nachlief und um einen halben Penny bat? Ich habe Sie beunruhigt, als ich über des Kindes Flehen, ihm ein Stück Brot zu kaufen, in Tränen ausbrach. Jetzt wissen Sie, weshalb sie mir so leid getan. Jetzt wissen Sie, weshalb ich Sie am nächsten Tage kränkte, indem ich mich von der Verabredung mit Ihrer Mutter und Ihren Schwestern losmachte und das Kind in seinem elenden Heim aufsuchte. Nach dem, was ich bekannt, werden Sie zugeben, dass meine arme, kleine Unglücksschwester das erste Anrecht auf mich hatte.

Lassen Sie mich fortfahren. Es tut mir leid, wenn ich Sie betrübt habe. Lassen Sie mich fortfahren.

Den verlassenen Herumstreichern in den Straßen steht - nach meiner Erfahrung - immer ein Weg offen, um ihre Leiden zur Kenntnis ihrer reichen und mildtätigen Mitmenschen zu bringen. Sie brauchen bloß gegen das Gesetz zu verstoßen - und dann erscheinen sie vor der Öffentlichkeit eines Gerichtshofes. Sind die Umstände, mit denen ihr Vergehen in Verbindung gebracht wird, interessanter Art, so gewinnen sie noch einen zweiten Vorteil: sie werden durch die Zeitungsberichte in ganz England bekannt.

Ja, sogar ich bin mit dem Gesetze bekannt geworden. Ich weiß, dass es mich gänzlich übersah, so lange ich dasselbe achtete; aber bei zwei verschiedenen Gelegenheiten wurde es in Folge des Trotzes, mit dem ich mich gegen dasselbe auflehnte, mein bester Freund. Das erste glückliche Vergehen beging ich im Alter von zwölf Jahren.

Es war Abend; ich war halbtot vor Hunger. Es regnete; die Nacht brach herein. Ich bettelte - offen, laut, wie nur ein hungriges Kind betteln kann. Eine alte Dame, die vor einer Ladentür im Wagen saß, beklagte sich über mich. Der Polizeimann tat seine Pflicht. Das Gesetz gab mir diese Nacht ein Abendessen und ein Obdach im Polizeihaus. Ich erschien vor dem Polizeirichter und erzählte da, von dem Beamten darum befragt, getreu meine Geschichte. Es war die Alltagsgeschichte von Tausenden von Kindern meiner Art; aber ein interessanter Umstand war dabei. Ich gestand, dass mein Vater - er war damals schon tot - ein vornehmer Mann gewesen sei und sagte - ebenso offen - hinzu, dass ich, im Rückblick auf seine Behandlung meiner Mutter, mich niemals an ihn um Hilfe gewandt hatte. Dieser Umstand war wahrscheinlich neu; er brachte meinen „Fall” in die Zeitungen. Die Berichterstatter halfen mir noch weiter, indem sie mich als „hübsch und interessant” schilderten. Das Gericht erhielt Beträge für mich zugesandt. Ein wohltätiges Ehepaar, in einer geachteten Lebensstellung, kam in das Arbeitshaus, um mich zu sehen. Ich machte einen günstigen Eindruck auf sie - besonders auf die Frau. Ich war buchstäblich ganz verlassen - ich hatte keine unwillkommenen Verwandten, die Ansprüche an mich erheben konnten. Die Frau war kinderlos; ihr Mann ein gutmütiger Mensch. Das Ende war, dass sie mich mit sich nahmen, um mich in ihrem Dienste zu verwenden.

Ich hatte immer, gleichviel wie tief ich gesunken sein mochte, danach gestrebt, mir eine höhere Stellung zu erringen, mich auch ohne Hilfe des Glückes über das vom Zufall über mich verhängte Los emporzukämpfen. Vielleicht mag ein Stück väterlichen Stolzes diesem rastlosen Gefühle zu Grunde liegen. Es scheint einen Teil meines Wesens auszumachen. Es hat mich auch in dieses Haus hereingeführt, und es wird mit mir hinausgehen. Ist es zu meinem Verderben oder zu meinem Segen? Ich kann es nicht sagen.

Die erste Nacht, die ich in meinem neuen Heim schlief, sagte ich zu mir selbst: Sie haben mich genommen, damit ich ihre Magd sei; ich will mehr sein, als das; sie sollen mich am Ende als ihr Kind betrachten. Ehe eine Woche verging, war ich, während der Mann seinen Geschäften oblag, die stete und liebste Begleiterin der Frau. Sie war sehr unterrichtet, ihrem Manne an Bildung weit überlegen, und zu ihrem Unglück auch an Jahren. Liebe war nur auf ihrer Seite. Mit Ausnahme einiger Fälle, wo er ihre Eifersucht erregte, lebten sie auf ziemlich freundschaftlichem Fuß. Sie war eine der vielen Frauen, welche sich darein ergeben, von ihren Männern getäuscht zu werden; und er war einer von den vielen Männern, welche nie wissen, wie ihre Frauen ihnen gegenüber eigentlich empfinden. Ein großes Vergnügen fand sie darin, mich zu unterrichten. Ich war eine eifrige Schülerin und machte rasche Fortschritte. Bei der Lenksamkeit meines jugendlichen Alters nahm ich bald die Feinheit in Sprache und Benehmen an, die meine Herrin kennzeichneten. Es ist nur die Wahrheit, wenn ich sage, dass die Bildung, die mich befähigte, eine Dame vorzustellen, einzig und allein ihr Werk ist.

Drei glückliche Jahre verlebte ich so unter diesem freundlichen Dache. Ich war inzwischen fünfzehn und sechzehn Jahre alt, als das verhängnisvolle Erbteil meiner Mutter zum erstenmale seinen Schatten auf mein Leben warf. An einem unseligen Tage verwandelte sich die mütterliche Liebe der Frau mit einemmale in eifersüchtigen, unversöhnlichen Groll gegen mich. Können Sie den Grund erraten? Der Mann hatte sich in mich verliebt.

Ich war unschuldig; ich konnte nichts dafür. Er selbst bekannte dies dem Geistlichen, der an seinem Sterbebette stand. Aber zu der Zeit waren bereits Jahre darüber hingegangen - es war zu spät, um mich zu rechtfertigen.

Er stand, als ich mich unter seiner Obsorge befand, schon in einem Alter, in welchem Männer, wie man gewöhnlich annimmt, Frauen nur mit Ruhe, wenn nicht gar mit Gleichgültigkeit betrachten. Ich hatte mich seit Jahren daran gewöhnt, ihn als meinen zweiten Vater anzusehen. In unschuldiger Unwissenheit über die Art des Gefühles, das ihn beherrschte, gestattete ich ihm kleine väterliche Vertraulichkeiten, die seine strafbare Leidenschaft noch erhöhten. Seine Frau entdeckte es - nicht ich. Es ist nicht zu beschreiben, mit welchem Staunen und Entsetzen ich den ersten Ausbruch ihrer Entrüstung vernahm, der mir die Kenntnis der Wahrheit aufdrängte. Auf meinen Knien beteuerte ich meine Unschuld; beschwor ich sie, meiner Reinheit und Jugend Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sonst die sanfteste, rücksichtsvollste aller Frauen, ward sie durch die Eifersucht zu einer Rasenden. Sie beschuldigte mich, ihn absichtlich angelockt zu haben; und drohte, mich mit eigenen Händen aus dem Hause zu stoßen. Wie in vielen gleichmütigen Menschen schlummerte auch in ihm der Zorn, und es war gefährlich, diesen zu reizen. Als seine Frau die Hand gegen mich erhob, verlor er seine ganze Beherrschung. Er erklärte ihr gerade heraus, dass ihm ohne mich das Leben wertlos sei, und dass, wenn ich ginge, er mit mir das Haus verlasse. Die fast wahnsinnige Frau erfasste ihn beim Arme - das sah ich, dann nichts mehr. Ich lief, entsetzt vor Schrecken, auf die Straße hinaus. Eben kam ein Cab vorbei, ich stieg ein, ehe er die Haustür öffnen konnte, und fuhr nach dem einzigen Zufluchtsort, den ich kannte - einem kleinen Laden, den die verwitwete Schwester eines unserer Dienstmädchen besaß. Hier erhielt ich ein Obdach für die Nacht. Am folgenden Tage fand er heraus, wo ich mich aufhielt. Er machte mir niedrige Anträge, bot mir sein ganzes Vermögen und erklärte seinen Entschluss, was ich auch dagegen sagen mochte, am nächsten Tag wieder zu kommen. In der Nacht ward ich mit Hilfe der braven Frau, die sich meiner angenommen hatte - im Schutze der Dunkelheit, als ob ich etwas verbrochen hätte! - heimlich nach East End von London gebracht und dem Schutze einer vertrauenswürdigen Person übergeben, die sich kümmerlich durch Vermieten von Wohnungen ernährte.

Hier, in einer kleinen Dachkammer des Hauses, war ich nun abermals in die Welt hinausgeworfen - dazu in einem Alter, wo es für mich doppelt gefährlich war, selbst mein Brot verdienen und mein Obdach suchen zu müssen.

Ich fordere - jung wie ich war und vor die Wahl gestellt, zwischen dem mühelosen Weg des Lasters und dem mühevollen der Tugend - keine Achtung für mein Handeln. Jeder Mann flößte mir geradezu Entsetzen ein; mein natürliches Gefühl trieb mich ihm zu entfliehen. Aber vergessen Sie nicht, ehe ich auf den traurigsten Abschnitt meines traurigen Lebens übergehe, dass ich unschuldig und wenigstens nicht strafbar war.

Verzeihen Sie, dass ich bei meinen ersten Jugendjahren so lange verweilte. Ich bebe, von den Ereignissen zu sprechen, die mir noch bevorstanden.

Mit der Achtung meiner ersten Wohltäterin hatte ich in meiner Verlassenheit allen Halt verloren, um ein ehrliches Leben zu führen - mit Ausnahme des einen schwachen Haltes der Arbeit. Das einzige Zeugnis, über das ich jetzt verfügen konnte, war die Empfehlung einer Hauswirtin an ein Geschäft, das arbeitskundige Näherinnen in großer Zahl beschäftigte. Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, wie elend solche Arbeit bezahlt wird - Sie haben davon in Zeitungen gelesen. So lange ich gesund war, dachte ich, ohne Schulden zu leben und zu bleiben. Einige Mädchen hätten den langsam vergiftenden Einflüssen vollgedrängter Arbeitsräume, ungenügender Nahrung und fast gänzlicher Entbehrung der körperlichen Bewegung so lange Widerstand geleistet, wie ich dies getan. Als Kind lebte ich in der freien Luft - dies half meine von Haus aus harte und von allen erblichen Krankheiten freie Konstitution noch stärken. Aber endlich kam auch an mich die Reihe. Unter der bitteren Not, die ich leiden musste, brach meine Gesundheit zusammen. Ein schleichendes Fieber warf mich darnieder, und meine Stubengenossinnen sprachen über mich das Urteil: „Ach, das arme Ding, sie wird bald ausgelitten haben!”

Diese Prophezeiung wäre vielleicht wahr geworden - ich hätte vielleicht nie Irrtümer begangen und die Qualen späterer Jahre erdulden müssen - wäre ich in einem anderen Hause krank geworden.

Aber zu meinem Glück - oder zu meinem Unglück - ich weiß nicht -  interessierte sich für mich die Schauspielerin eines Vorstadttheaters, de unter mir wohnte. Nur ihre Bühnenverpflichtungen führten sie des Abends für drei bis vier Stunden von mir fort; sonst verließ dies edle Geschöpf keinen Augenblick mein Krankenlager. So schwer es ihr wurde, zahlte sie doch, während ich hilflos dalag, die unvermeidlichen Auslagen, die ich verursachte. Die Hauswirtin, durch ihr Beispiel angeregt, ließ sich nur die Hälfte der Miete für mein Zimmer zahlen. Der Arzt, die christliche Barmherzigkeit seines Berufes übend, wollte kein Honorar nehmen. So wurde auf mich alles verwendet, was die zärtliche Sorge nur vermochte; das übrige tat meine Jugend und meine Konstitution. Ich ward allmählich wieder gesund - und griff dann - wieder zur Nadel.

Es wird Sie vielleicht überraschen, dass ich, bei meiner innigen Freundschaft mit einer Schauspielerin nicht die mir zu Gebote stehenden Mittel gebraucht habe, um mich auf der Bühne einführen zu lassen - umsomehr, als ich durch meine erste Erziehung, in bescheidenem Maß allerdings, mit der Kunst etwas vertraut geworden war.

Es war nur ein Grund, weshalb ich vor dem Auftreten auf dem Theater zurückschrak; aber der eine Grund war gewichtig genug, um mich alles andere, gleichviel wie trostlos es sein mochte, eher ergreifen zu lassen, als das. Zeigte ich mich öffentlich auf der Bühne, so war meine Entdeckung durch den Mann, dem ich entflohen war, nur eine Frage der Zeit. Ich wusste, dass er von jeher ein eifriger Besucher des Theaters und Abonnent einer Theaterzeitung war. Ich hatte ihn selbst von dem Theater, welchem meine Freundin angehörte, sprechen und es vorteilhaft vor anderen weit höher stehenden Vergnügungsorten erwähnen hören. Trat ich der Gesellschaft bei, so würde er früher oder später sicherlich einmal kommen, um die neue Schauspielerin zu sehen. Der bloße Gedanke an diese Möglichkeit söhnte mich mit dem Entschluss aus, zur Nadel zurückzukehren. Da ich anfangs noch nicht kräftig genug war, um die Luft in dem vollgedrängten Arbeitszimmer zu ertragen, so erhielt ich die Erlaubnis, als eine Begünstigung, meine Beschäftigung bei mir zu Hause wieder aufzunehmen.

Meine Wahl war sicherlich die eines tugendhaften Mädchens. Und doch ward der Tag, an dem ich wieder zur Nadel griff, für mich der verhängnisvollste meines Lebens.

Ich hatte jetzt nicht bloß für die laufenden Bedürfnisse zu sorgen - ich hatte auch noch meine Schulden zu bezahlen. Das verlangte noch angestrengtere Arbeit und noch dürftigeres Leben. Bald musste ich dafür büßen, dass ich bei meinem geschwächten Zustand ein solches Leben führte. Eines Abends wurde mir plötzlich schwindelig; mein Herz klopfte heftig. Ich öffnete das Fenster, um frische Luft einzulassen; und darauf fühlte ich mich wohler. Aber ich war noch nicht im Stande, meine Nadel einzufädeln. Da dachte ich mir, wenn ich für eine halbe Stunde ausginge, würde mir die Bewegung gut tun. Ich konnte nicht mehr als zehn Minuten aus gewesen sein, als sich der Anfall, den ich auf meinem Zimmer gehabt, wiederholte. Es war kein Laden in der Nähe, in den ich mich hätte flüchten können. Ich wollte an der nächsten Haustür die Glocke ziehen, allein ehe ich sie erreichen konnte, lag ich ohnmächtig auf der Straße.

Wie lange ich da vor Hunger und Schwäche gelegen haben mochte, bis mich der erste vorübergehende Fremde fand, kann ich nicht sagen.

Als ich teilweise zum Bewusstsein gelangte, fand ich mich irgendwo unter Dach und sah einen Mann vor mir, der mir ein Weinglas mit irgend einem stärkenden Getränk an die Lippen hielt. Ich schluckte etwas davon - ob viel oder wenig, weiß ich nicht. Das Mittel hatte auf mich eine sehr eigentümliche Wirkung. Zuerst belebte es mich, dann ward ich betäubt, und endlich verlor ich abermals das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam, war es Tagesanbruch. Ich lag im Bette, in einem fremden Zimmer. Ein namenloser Schrecken erfasste mich. Ich rief laut, darauf hin erschienen drei oder vier Frauen, deren Gesichter selbst meinem unerfahrenen Auge verrieten, welch ein schändliches Leben sie führten. Ich fuhr im Bette in die Höhe und beschwor sie, mir zu sagen, wo ich sei, und was geschehen sei.

Ersparen Sie mir das Weitere! Ich kann nicht mehr sagen. Sie haben erst kürzlich Miss Roseberry mich eine Verworfene nennen hören. Jetzt wissen Sie - Gott ist mein Richter, dass ich die Wahrheit spreche! - wie ich es geworden bin und in welchem Maß ich meine Schmach verdient habe.”

Zum erstenmale versagte ihr die Stimme und wich ihre Entschlossenheit.

„Gönnen Sie mir einige Minuten”, sprach sie mit leisem, bittendem Ton. „Wenn ich jetzt fortfahre, fürchte ich, muss ich weinen.”

Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder, den Julian für sie hingestellt hatte und wandte ihr Gesicht ab, dass es keiner der beiden Männer sehen konnte. Eine Hand hatte sie auf die Brust gedrückt, die andere hing nachlässig an der Seite herab.

Julian verließ den Platz, den er bisher innegehabt hatte; Horace regte sich nicht und sprach kein Wort. Sein Kopf war auf die Brust gesunken; Spuren von Tränen auf seinen Wangen verrieten stumm, dass sie sein Herz bewegt hatte. Würde er ihr vergeben? Julian ging vorbei und näherte sich Mercy.

Schweigend ergriff er die Hand, die an der Seite niederhing. Schweigend zog er sie empor und küsste sie. Sie zuckte zusammen, aber sie blickte nicht auf. Eine sonderbare Furcht vor Entdeckung schien sie zu erfüllen. „Horace?” flüsterte sie schüchtern. Julian antwortete nicht. Er kehrte zu seinem Platz zurück und ließ sie bei dem Glauben, es sei Horace gewesen.

Das Opfer war groß - bei dem Gefühle, das er für sie empfand - des Mannes, der es brachte, würdig.

Sie hatte nur einige Minuten verlangt. Dann wandte sie sich wieder zu ihnen. Ihre weiche Stimme hatte wieder ihre Festigkeit gewonnen; ihre Augen hafteten sanft auf Horace, als sie fortfuhr:

„Was sollte ich, verlassen wie ich war, nun beginnen, als mir die tiefe Schmach meiner Lage klar wurde?

Wären mir nahe und liebreiche Verwandte schützend und ratend zur Seite gestanden, so hätte die Nichtswürdigen, in deren Hände ich gefallen war, vielleicht die Strafe des Gesetzes ereilt. Sie werden mir sagen, dass es für mich noch eine andere Hilfe gab; dass ich in Wohltätigkeitsanstalten aufgenommen und unterstützt worden wäre, hätte ich dort meinen Fall vorgebracht. Allein ich wusste von den Wohltätigkeitsanstalten nicht mehr als vom Gesetz. Aber wenigstens hätte ich dann zu den ehrlichen Leuten zurückkehren sollten, bei denen ich früher gelebt? Als ich nach einigen Tagen wieder freigelassen wurde, schämte ich mich, ehrlichen Leuten vor die Augen zu treten. So ward ich hilflos und verzweifelnd, ohne selbst das Vergehen verschuldet oder frei gewählt zu haben, gleich Taufenden meines Gleichen, von einem Leben mit fortgerissen, das mich für den Rest meiner Tage brandmarkte.

Wunden Sie sich über die Unwissenheit, welche dieses Bekenntnis enthüllt?

Sie haben Ihre Rechtskundigen, die Ihnen die Hilfsmittel des Gesetzes vorzählen, Sie haben Zeitungen, Rundschreiben, tätige Freunde, die beständig das Lob so wohltätiger Einrichtungen singen - Sie genießen alle diese Vorteile und haben darum keine Ahnung davon, welche Unwissenheit da draußen herrscht, wo Ihre verlorenen Mitmenschen leben. Diese, mit Ausnahme der Schurken, denen es zur Gewohnheit geworden, die Gesellschaft auszubeuten, wissen nichts von Ihren mildtätigen Unternehmungen, welche ihnen aufhelfen sollen. Der Zweck solcher Vereine und der Weg, um dahin zu gelangen und sich an diese wenden zu können, sollte an jeder Straßenecke angeschlagen stehen. Was wissen wir von den Volksküchen, von eindringlichen Predigten und sauber gedruckten Rundschreiben? Hie und da liest man in der Zeitung von irgendeinem unglücklichen Geschöpf - gewöhnlich sind es Frauen - welches sich vielleicht in geringer Entfernung von einem solchen Asyl, wo es Aufnahme gefunden hätte, ums Leben gebracht hat; das macht für den Augenblick einen unangenehmen, schmerzlichen Eindruck; dann ist es bald wieder vergessen. Würden alle die Bemühungen, welche man mit Hilfe des Geldes darauf verwendet, um ein neues Theaterstück, ein neues Journal oder eine neue Arznei unter den Leuten bekannt zu machen, ohne den Aufwand solcher Geldmittel der Bekanntmachung von Wohltätigkeitsanstalten und Asylen gewidmet, so blieben gar viele solcher Verlorenen dem Leben erhalten, die jetzt zugrunde gehen müssen.

Sie werden mir es doch erlassen und begreiflich finden, wenn ich nicht weiter von diesem Abschnitt meines Lebens spreche. Lassen Sie mich darauf übergehen, wie ein Ereignis in meiner Laufbahn mich zum zweitenmale vor die Schranken des Gerichtes brachte und mich damit in der Öffentlichkeit bekannt machte.

So traurig meine Erfahrung gewesen, den guten Glauben an die menschliche Natur hatte sie mir nicht zu nehmen vermocht. Ich hatte in meinen früheren Drangsalen freundliche Herzen gefunden, die Mitgefühl für mich empfanden; und so schlossen sich auch jetzt unter meinen Unglücksschwestern Freundinnen - treue, selbstverleugnende, großmütige Freundinnen - mir an. Eine dieser Armen - sie ist Gottlob aus der bösen Welt, in der sie so viel Übles erfahren, schon geschieden - erweckte ganz besonderes meine Zuneigung. Sie war das sanfteste, selbstloseste Geschöpf, das ich je gekannt. Wir lebten zusammen wie Schwestern. Mehr als einmal, wenn in trüben Stunden der Gedanke an Selbstvernichtung das verzweifelnde Weib überkam, war es das Bild meiner armen, hingebenden, zu einsamen Leiden verurteilten Freundin, das in meiner Seele aufstieg und mich zurückhielt. Sie werden es kaum begreifen, dass auch wir Tage des Glückes genossen. Hatte eine von uns beiden ein paar Shillings erübrigt, so pflegten wir einander kleine Geschenke zu machen und konnten uns über das einfache Vergnügen des Gebens und Empfangens so herzlich freuen, als wären wir vollkommen unbescholten.

Eines Tages ging ich mit meiner Freundin in einen Laden, um ihr ein Band zu kaufen - nur zu einer Schleife für ihr Kleid. Sie sollte wählen und ich wollte es bezahlen; und zwar sollte es das hübscheste Band sein, das um Geld zu bekommen war.

Der Laden war voll; wir mussten ein wenig warten, bis man uns bedienen konnte.

Neben mir, als ich mit meiner Begleiterin am Ladentische stand, war eine bunt gekleidete Frau mit dem Auswählen von Taschentüchern beschäftigt. Trotz der schönen Stickerei auf denselben schien die geputzte Dame sie doch nicht nach ihrem Geschmacke zu finden. Sie warf verächtlich alle auf einen Haufen zusammen und verlangte andere Muster aus dem Warenvorrate des Ladens zu sehen. Beim Glätten und Forträumen der Taschentücher bemerkte plötzlich der Ladendiener, dass ihm ein Tuch fehlte. Er war seiner Sache darum ganz gewiss, weil die eigenartige Stickerei des einen es ebenso besonders kenntlich machte. Ich war ärmlich gekleidet und stand den Tüchern zunächst. Er warf einen Blick auf mich und schrie dann dem Oberaufseher zu: „Schließen Sie die Tür! Ein Dieb ist hier im Laden!”

Es geschah, die Tür wurde zugemacht; das Taschentuch fand sich nirgends vor, weder auf dem Ladentisch noch auf dem Fußboden. Es musste gestohlen worden sein und ich wurde als Diebin angeklagt.

Was ich dabei gefühlt, davon will ich gar nicht reden. - Sie sollen nur hören, was weiter geschah.

Ich wurde durchsucht und das Taschentuch bei mir gefunden. Ohne Zweifel hatte es die Person, die mir zur Seite stand, in dem Augenblicke, als ihr die Entdeckung drohte, rasch in meine Tasche geschoben. Nur eine vollendete Diebin konnte auf diese Art den Verdacht von sich ablenken, ohne dass ich selbst etwas gemerkt hatte. Aber der Tatsache gegenüber meine Unschuld beteuern zu wollen, wäre vergebliche Mühe gewesen. Ich besaß keine Stellung, auf die ich mich hätte berufen können. So versuchte es meine Freundin, für mich zu sprechen! Allein, war sie etwas anderes? Auch nur eine Verlorene, wie ich selbst. Das Zeugnis, welches meine Hauswirtin über meine Ehrlichkeit abgab, hatte keine Wirkung; es warf ein schlechtes Licht auf sie, dass sie an Personen meines Standes ihre Wohnungen vermietete. Ich wurde gerichtlich belangt und schuldig befunden. Damit, Mister Holmcroft, habe ich Ihnen nun meine volle Schmach erzählt. Gleichviel, ob ich unschuldig war oder nicht; die Schande blieb dieselbe - ich bin wegen Diebstahl im Gefängnis gewesen.

Die dortige Hausmutter war die erste, die sich in dieser Zeit meiner annahm. Sie erstattete den Vorgesetzten günstigen Bericht über mein Betragen, und als ich meine Zeit abgedient hatte, wie wir unter uns zu sagen pflegten, entließ sie mich mit einem Brief an die gütige Freundin und Beschützerin meiner späteren Jahre - an die Frau, die binnen kurzem hier sein wird, um mich mit sich in das Besserungshaus zurückzunehmen.

Von da an ist mein Leben kaum mehr, als das beständige, vergebliche Ringen eines Weibes, um seinen Platz in der Welt wieder einzunehmen.

Als die Hausmutter mich im Besserungshause aufnahm, bekannte sie offen, dass sich mir arge Hindernisse entgegenstellten. Allein, sie sah mein aufrichtiges Bestreben und fühlte, als eine Frau von gutem Herzen, Teilnahme und Mitleid mit mir. Ich selbst schrak nicht davor zurück, den langen, dornenvollen Weg zu einem neuen, unbescholtenen Lebenswandel von der niedersten Stufe - vom häuslichen Dienen an - zu beschreiten. Zuerst gründete ich mir die Möglichkeit einer neuen Stellung durch mein Verhalten in der Besserungsanstalt, und dann trat ich zur Probe in ein anständiges Haus ein. Ich musste schwer arbeiten und tat es, ohne zu klagen; allein das Vermächtnis meiner Mutter hatte mir von allem Anfange an nur Schaden gebracht. Meine äußere Erscheinung gab Anlass zu Bemerkungen; mein Wesen und Benehmen war anders als das jener Personen, unter die mich mein Los verschlagen hatte. Ich trat von einer Stelle in die andere - immer mit demselben Ergebnis. Verdacht und Eifersucht konnte ich ertragen; aber der gegen mich anstürmenden Neugierde stand ich ohne Waffen gegenüber. Früher oder später konnten die Nachforschungen die Wahrheit aufdecken. Zuweilen drohten die Dienstleute insgesamt meinetwegen zu kündigen - da musste ich dann fort. Dann kam es wieder vor, wenn irgendwo ein junger Mann in der Familie war, dass man mich mit ihm ins Gerede brachte - und ich musste aus dem Hause. Wenn Ihnen darum zu tun ist, so kann Miss Roseberry Ihnen die Geschichte jener traurigen Tage mitteilen. Ihr habe ich sie in jener denkwürdigen Nacht erzählt, als wir im französischen Häuschen zusammentrafen; aber sie jetzt wiederholen, habe ich nicht den Mut. Allmählich brach ich unter diesen hoffnungslosen Kämpfen zusammen. Die Verzweiflung erfasste mich - ich verlor das Vertrauen auf Gott und seine Gnade. Gar oft ging ich nach einer oder der anderen Brücke, blickte über die Rampe in den Fluss und sprach zu mir selbst: „Andere haben es getan, warum sollte ich es nicht auch tun?”

Damals haben Sie mich gerettet, Mister Gray - wie Sie mich auch später gerettet haben. Ich war mit unter der Versammlung, an die Sie in der Kapelle des Besserungshauses Ihre Predigt richteten. Sie haben außer mir noch manch Andere mit der schweren Pilgerfahrt unseres Lebens versöhnt; im Namen jener, wie in meinem Namen danke ich Ihnen dafür.

Ich weiß nicht mehr, wie lange es nach diesem glücklichen Tage war, an dem Sie uns getröstet und aufgerichtet hatten, als der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland zum Ausbruch kam. Aber ich werde nie vergessen, wie eines Abends die Hausmutter mich auf ihr Zimmer rufen ließ und zu mir sprach: „Teures Kind, Ihr Leben hier ist zwecklos. Wenn Sie noch so viel Mut besitzen, um es anderswie zu verwerten, so kann ich Ihnen Gelegenheit geben.”

Einen Monat hindurch wurde ich in einem Londoner Spital geschult; eine Woche später trug ich bereits das rote Kreuz der Genfer Konvention - ich war als Krankenpflegerin einer französischen Ambulanz zugeteilt. Als Sie mich zum erstenmale sahen, Mister Holmcroft, war ich noch in meiner Wärterinnentracht; aber ein grauer Mantel verhüllte sie Ihrem und jedem anderen Auge.

Sie wissen, was zunächst darauf folgte; Sie wissen, wie ich hier in dieses Haus gelangte.

Ich habe bei dieser Schilderung meines Lebens die Prüfungen und Drangsale nicht in ihrer ganzen Furchtbarkeit darzustellen versucht; ich habe damals ein treues Bild davon entworfen, als ich mit Miss Roseberry jene Nacht zubrachte - es war ein Leben ohne Hoffnung. Mögen Sie nie die Versuchung fühlen, die an mich herantrat, als die Granate im französischen Häuschen ihr Opfer zu Boden schlug- Da lag sie - tot! Ihr Name war makellos. Ihre Zukunft verhieß mir den Lohn, der dem ehrlichen Bestreben einer reumütigen Sünderin verweigert war. Ich konnte meinen Platz in der Welt wieder einnehmen, er bot sich mir dar, wenn ich mich dazu herbeiließe, ihn durch einen Betrug zu gewinnen. Für mich gab es keine Aussichten, auf die ich hätte hinblicken können; mir stand kein Freund zur Seite, der mir geraten, mich gerettet hätte; die schönsten Jahre meines Lebens waren in dem fruchtlosen Ringen nach der Wiedererlangung meines früheren guten Namens dahingegangen. In dieser Lage trat mir zum erstenmale die Möglichkeit, mich für Miss Roseberry auszugeben, lebhaft vor die Seele. Willenlos, gedankenlos - wenn Sie wollen in sträflicher Leichtfertigkeit - ließ ich es geschehen, dass Sie mich unter dem Namen Miss Roseberrys durch die deutschen Linien führten. Bei meiner Ankunft in England machte ich, da ich inzwischen Zeit zum Nachdenken gehabt, die erste und letzte Anstrengung zur Rückkehr, ehe es zu spät war. Ich ging nach dem Besserungshause und blieb auf der anderen Seite der Straße, dem Gebäude gegenüber, stehen, den Blick auf seine Mauern gerichtet. Das alte, hoffnungslose Leben voll unauslöschlicher Schmach stand vor mir, als sich meine Augen auf die wohlbekannte Tür hefteten; das Entsetzen vor der Rückkehr zu dieser Existenz überstieg meine Kraft im Erdulden. In dem Augenblicke fuhr ein leerer Wagen vorbei. Der Kutscher hielt die Hand in die Höhe. In gänzlicher Verzweiflung ließ ich ihn halten; und als er fragte „wohin?” - gab ich ebenso zur Antwort: „Nach Mablethorpe-House.”

Was ich im Geheimen gelitten, seitdem ich durch meinen eigenen, erfolgreichen Betrug unter den Schutz Lady Janets gestellt war, will ich unbesprochen lassen. Ihnen werden jetzt so manche unerklärliche Dinge in meinem Benehmen auf einmal klar geworden sein. Sie müssen längst erkannt haben, dass ich nicht glücklich war. Jetzt wissen Sie, warum ich es nicht war.

Mein Bekenntnis ist zu Ende; endlich hat das Gewissen gesprochen. Ich gebe Ihnen Ihr Versprechen zurück - Sie sind frei. Mister Julian Gray gebührt der Dank dafür, dass ich als meine eigene Anklägerin wegen der begangenen Kränkung hier vor dem Manne stehe, gegen den ich mich vergangen habe.”


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