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Fräulein Minna und der Reitknecht



III.

Während der Saison waren wir in London. Eines Morgens ritt ich mit meinem Oheim wie gewöhnlich nach Hyde Park hinaus.

Der General hatte beim Heere in einem Reiterregiment gedient und sich so ausgezeichnet, dass seine Verdienste seine schnelle Beförderung zu den höheren Stellen seines Berufs rechtfertigten. Auf der Jagd war er als einer der verwegensten und tüchtigsten Reiter der Umgegend bekannt. Es machte ihm immer Vergnügen, junge und mutige Pferde zu reiten und dieser Gewohnheit blieb er auch in seinem späteren Leben treu, als er den aktiven Dienst bereits verlassen hatte. Niemals war ihm ein Unfall zugestoßen, der erwähnenswert gewesen wäre, bis an jenem unglücklichen Morgen, an dem er mit mir hinausritt.

Sein Pferd, ein feuriger Fuchs, ging mit ihm durch nach jener Gegend der Parkpromenade, die Row genannt wird. In der Absicht, von anderen Reitern fern zu bleiben, gab er seinem Durchgänger die Sporen nach dem Geländer zu, welches den Korso von dem grasreichen Gehege an seiner Seite trennte. Das erschreckte Tier bog beim Anlauf zur Seite ab und schleuderte seinen Reiter gegen einen Baum.

Mein Oheim war furchtbar erschüttert und auch verletzt, aber seine kräftige Konstitution führte zuletzt seine Wiederherstellung herbei, und es blieb nur das eine Bein gelähmt, ein Leide, das sich indessen als unheilbar erweisen sollte.

Die Ärzte vereinigten sich, als sie ihren Patienten entließen, in der Ermahnung, dass er bei seinem Alter doch ja keine widerspenstigen Pferde mehr reite, sondern stets seines geschwächten Beines eingedenk sei. „Ein ruhiges Pferdchen, Herr General“, brachten sie alle in Vorschlag. Mein Oheim war empfindlich gedemütigt und verletzt. „Wenn ich für nichts mehr als für ein ruhiges Pferdchen tauglich bin“, sagte er bitter, „so will ich lieber gar nicht mehr reiten.“ Er hielt Wort. Niemand sah den General jemals wieder zu Pferde.

Da meine Tante keine Reiterin war, so hätte ich unter diesen traurigen Umständen offenbar keine andere Wahl gehabt, als das Reiten ebenfalls aufzugeben. Aber mein gütiger Oheim war nicht der Mann, mich seinem eigenen Missgeschicke zu opfern. Sein Reitknecht war einer seiner Burschen beim Reiterregiment gewesen – ein sonderbarer, mürrischer, alter Mann und durchaus keine Persönlichkeit, eine junge Dame zu begleiten, die ihre Reitübungen allein machte. „Wir müssen einen aufgeweckten Burschen auftreiben, auf den man sich verlassen kann“, sagte der General. „Ich werde im Klub nachfragen.“

Eine Woche später suchte eine Schar von Bewerbern, die von Freunden empfohlen worden waren, um die zu besetzende Stelle nach.

Der General fand aber unüberwindliche Bedenken bei jedem von ihnen. „Ich will euch sagen, was ich getan habe“, erklärte er eines Tages mit der Miene eines Mannes, dem eine große Entdeckung gelungen ist, „ich habe in den Zeitungen annonciert.“ Frau Claudia blickte mit dem ihr eigenen sanften Lächeln von ihrer Stickerei auf. „Ich habe es nicht gern, wegen eines Dieners zu annoncieren“, sagte sie. „Du bist einem Fremden preisgegeben und weißt nicht, ob du nicht einen Trunkenbold oder einen Dieb in den Dienst nimmst.“

„Oder ob du nicht von einem schlechten Charakter betrogen wirst“, fügte ich von meiner Seite hinzu. Ich wagte es selten, bei häuslichen Beratungen meine Meinung unaufgefordert zu sagen, - aber die Annahme eines neuen Reitknechtes war eine Sache, an der ich ein starkes persönliches Interesse hatte. In einem gewissen Sinne sollte er ja mein Diener sein.

„Ich bin euch beiden sehr verbunden für den Wink, dass ich so leicht zu täuschen bin“, bemerkte spöttisch der General. „Unglücklicherweise ist das Unheil geschehen. Drei Männer haben meine Annonce schon beantwortet. Ich erwarte sie morgen hier, um sie für die Stelle zu prüfen.“

Frau Claudia sah wieder von ihrer Stickerei auf. „Bist du willens, dies selbst zu tun?“ fragte sie sanft. „Ich dachte, der Verwalter -“

„Ich habe mich bisher für einen besseren Beurteiler eines Reitknechtes gehalten als meinen Verwalter“, fiel ihr der General in die Rede. „Bekümmert euch indessen nicht; ich will nach dem Winke, den ihr mir gegeben habt, nicht auf meine eigene Verantwortlichkeit allein handeln. Du und Minna sollt beide mir euren schätzbaren Beistand gewähren und ermitteln, ob sie Diebe und Trunkenbolde, oder ob sie es nicht sind, ehe ich noch selbst den geringsten Argwohn hege.“


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