Das Eismeer



Kapitel Zwölf

Allein! Allein auf dem Eismeer!

Die arktische Sonne steigt trübe auf in den trostlosen Himmel. Die Strahlen des kalten nordischen Mondes, die sich auf seltsame Weise vermischen mit dem dämmernden Licht, kleiden die schneebedeckten Ebenen in Farben von fahlem Grau. Ein Eisfeld am fernen Horizont bewegt sich langsam südwärts in dem geisterhaften Licht. Ein Stück näher wälzt ein Strom offenen Wassers seine langsamen, schwarzen Wellen an den Rändern des Eises vorbei. Noch näher, der Drift folgend, erhebt ein Eisberg seine Klippen und Gipfel zum Himmel; hier in den Mondstrahlen glitzernd; dort düster und geisterhaft in dem totenblassen Licht.

Auf halbem Weg auf der langen Windung der tieferen Senke des Eisbergs, welches Objekt erhebt sich da und durchbricht die trostlose Monotonie der Szene? In dieser schrecklichen Einsamkeit, können da Anzeichen auftauchen, die von menschlichem Leben künden? Ja! Soeben zeigt sich der schwarze Umriß eines Bootes, das auf den Berg heraufgezogen worden ist. In einer Eishöhle hinter dem Boot flackern von Zeit zu Zeit die letzten roten Funken eines sterbenden Feuers über die Gestalten zweier Männer. Der eine sitzt, seinen Rücken gegen die Wand der Höhle gelehnt. Der andere liegt hingestreckt, mit seinem Kopf auf dem Knie seines Kameraden. Der erste der Männer ist wach, und denkt nach. Der zweite ruht, sein regungsloses, bleiches Gesicht ist zum Himmel hinauf gerichtet – schlafend oder tot. Vor vielen Tagen waren diese beiden zurückgeblieben auf dem Marsch der Befreiungsexpedition. Vor vielen Tagen waren diese beiden aufgegeben worden von ihren erschöpften und enttäuschten Kameraden als dem Untergang geweiht und verloren. Er, der nachdenkend dasitzt, ist Richard Wardour. Er, der schlafend oder tot daliegt, ist Frank Aldersley.

Langsam treibt der Eisberg über das schwarze Wasser, durch das totenblasse Licht. Minute um Minute sinkt das ersterbende Feuer. Minute um Minute kriecht die tödliche Kälte näher und näher an die verlorenen Männer heran.

Richard Wardour rappelt sich auf aus seinen Gedanken – schaut auf das regungslose, bleiche Gesicht unter ihm – und legt seine Hand auf Franks Herz. Es schlägt noch schwach. Gib ihm seinen Anteil an Essen und Brennmaterial, das noch immer im Boot gelagert ist, und Frank könnte dadurch überleben. Laß ihn vernachlässigt liegen, wo er liegt, und sein Tod ist eine Frage von Stunden – vielleicht Minuten – wer weiß?

Richard Wardour hebt den Kopf des Schlafenden und lehnt ihn gegen die Seitenwand der Höhle. Er geht zu dem Boot und kehrt mit einem Holzscheit zurück. Er bückt sich, um das Holz ins Feuer zu legen – und hält inne. Frank träumt und murmelt in seinem Traum. Der Name einer Frau kommt über seine Lippen. Frank ist wieder in England – auf dem Ball – er flüstert Clara das Geständnis seiner Liebe zu.

Da zieht über Richard Wardours Gesicht der Schatten eines tödlichen Gedankens hinweg. Er erhebt sich vom Feuer; er bringt das Holz zurück zum Boot. Seine eiserne Härte ist erschüttert, doch noch behauptet sie sich. Sie treiben immer näher auf die offene See zu. Er kann das Boot ohne Hilfe aussetzen; er kann das Essen und das Brennmaterial mitnehmen. Der Schlafende auf dem Eisberg ist der Mann, der ihm Clara geraubt hat – der die Hoffnung und die Glückseligkeit seines Lebens zerstört hat. Laß den Mann in seinem Schlaf, und laß ihn sterben!

So flüstert der Zorn. Richard Wardour probiert seine Stärke an dem Boot aus. Es bewegt sich: er hat es unter Kontrolle. Er hält inne, und schaut sich um. Jenseits von ihm ist die offene See. Unter ihm ist der Mann, der ihm Clara geraubt hat. Der Schatten des tödlichen Gedankens wächst und verdüstert sich über seinem Gesicht. Er wartet mit seinen Händen an dem Boot – wartet und denkt nach.

Der Eisberg treibt langsam über das schwarze Wasser, durch das totenblasse Licht. Minute um Minute sinkt das ersterbende Feuer. Minute um Minute kriecht die tödliche Kälte näher und näher an den schlafenden Mann heran. Und noch immer wartet Wardour – wartet und denkt nach.


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